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Digitale Revolution: „Anbruch einer neuen Welt“

Digitale Revolution: „Anbruch einer neuen Welt“

Digitale Revolution: „Anbruch einer neuen Welt“

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Digitale Revolution
 

„Anbruch einer neuen Welt“

Wie die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts verändert die digitale Revolution unser Denken und unsere Lebensweise: „Das Internet ist heute unser Leben.“ Die Politiker, die zur Eröffnung der Cebit in Hannover aufgaloppiert waren, haben wohl kaum die Tragweite dessen begriffen, was Bitkom-Verbandspräsident August-Wilhelm Scheer ihnen da ins Stammbuch geschrieben hat.
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Michio Kaku: „die Welt wird sich auch politisch grundlegend verändern“ Foto: privat

Herr Professor Kaku, wieso stehen wir vor einer Revolution?

Kaku: Weil die Wissenschaft sich anschickt, keinen Stein auf dem anderen zu lassen. Wir werden in den kommenden Jahren den Anbruch einer neuen Welt erleben.

Seit der industriellen Revolution sind gut hundert Jahre vergangen – warum sollte es jetzt wieder soweit sein?

Kaku: Die Antwort ist das Mooresche Gesetz. Der Ingenieur Gordon Moore, Gründer der Firma Intel, formulierte es 1965, um die Geschwindigkeit unseres technologischen Fortschritts zu beschreiben. Derzeit besagt es, daß sich die Potenz unserer Mikrochips alle achtzehn Monate verdoppelt! Damit kann man ausrechnen, wie weit sich die Potenz unserer Computer in zehn Jahren entwickelt haben und was dann möglich sein wird.

Was wird möglich sein?

Kaku: Wenn unsere Vorfahren in der frühen Vergangenheit das für sie Unerklärliche wie Donner, Sonne oder Tod erklären wollten, wählten sie mythische Geschichten, um es sich begreiflich zu machen. Auch uns mag der Blick in die Zukunft im ersten Moment überfordern, deshalb erkläre ich es gerne nach der Methode unserer Vorfahren: In der nahen Zukunft werden die Dinge wahr werden, die wir aus den Märchen kennen. Die Zukunft wird zum Beispiel sein wie bei Schneewittchen: Die böse Königin befragt dort den Zauberspiegel: „Spieglein, Spieglein an der Wand“ – das ist die Zukunft des Internet. Wie der magische Spiegel wird es ein Mittel zur Erlangung „unendlichen“ Wissens sein. Überall werden wir diesen Zauberspiegel haben, und fast alles wird er uns sagen können. Peter Pan dagegen, der Junge, der niemals altert, ist die Zukunft der Medizin. Pinocchio ist die Zukunft der Künstlichen Intelligenz: Roboter und Computer werden immer menschlicher werden – ohne je wirklich menschlich zu sein, so wie Pinocchio das als Holzpuppe auch nie gelungen ist. Pocahontas wiederum konnte zu den Bäumen und den Lüften sprechen, und diese sprachen zu ihr – das ist die Zukunft unserer Mikrochips, durch sie wird unsere Umwelt intelligent werden. Chips werden billiger sein als Kaugummipapier, und sie werden in alle möglichen Gegenstände eingebaut.

„Verbotene Bücher könnten selbst ihre Leser anzeigen“

Die Welt der toten Dinge, sagen Sie, wird zum Leben erwachen.

Kaku: Wenn Sie in naher Zukunft einen Raum betreten, wird er nicht voller toter Einrichtungsgegenstände sein, sondern voller Intelligenz. Sie sitzen jetzt gerade im Sessel, eine Tasse Kaffee neben sich und lesen dieses Interview? In naher Zukunft schon wird der Sessel wissen, daß und vielleicht wer in ihm sitzt, Ihre Tasse wird wissen, wer aus ihr getrunken hat, und auch die Zeitung, die Sie in der Hand halten, wird wissen, daß Sie sie lesen, und vielleicht auch, wer Sie sind. Gut, daß es heute keinen Index verbotener Schriften mehr gibt, denn in naher Zukunft schon könnten sonst die verbotenen Bücher selbst ihre Leser bei der Inquisition denunzieren. Schon unsere Kinder werden sich wundern und sich nicht vorstellen können, daß und wie wir noch in einer Welt voller dummer, toter Gegenstände gelebt haben, wo ein Tisch nur ein Tisch war, eine Tasse nur eine Tasse, ein Buch nur ein Buch.

Auf der eben begonnenen Cebit feiert man die neuesten Computermodelle – Sie aber sagen das Verschwinden des Computers in nicht allzu ferner Zukunft voraus.

Kaku: Er wird in Bälde verschwinden, eben weil unsere Umwelt selbst intelligent sein wird. Wir sprechen doch schon gar nicht mehr von Computerzeitalter, sondern vom Internetzeitalter, und vielleicht weicht der Begriff bald dem Wort Chipzeitalter. Den Rechner am Schreibtisch mit Tastatur und Bildschirm als Schnittstelle zur Welt der Mikrochips brauchen wir nicht mehr, wenn diese überall direkt eingebaut sind. >>

Wir werden unter dauernder Überwachung stehen – zum Beispiel durch unsere Toilette.

Kaku: Da auch unsere Toiletten intelligent sein werden und wir wenig so regelmäßig tun, wie zur Toilette zu gehen, und dann dabei auch noch so eindeutige Spuren hinterlassen wie sonst nirgendwo, wird kaum etwas anderes uns so überwachen wie unser eigenes Klo. Zum Beispiel wird es Ihren Kot analysieren und Ihnen daraus die unglaublichsten Sachen über Sie mitteilen können. So stellen wir heute Krebs erst dann fest, wenn er zum Ausbruch kommt, das heißt wenn bereits Zigtausende Krebszellen wuchern und eine OP fast unvermeidlich ist. Ihre Toilette wird in Zukunft schon ein paar hundert Krebszellen feststellen können und Sie warnen: „Achtung, in zehn Jahren werden Sie an Darmkrebs erkranken!“ Ebenso wird Ihr Badezimmerspiegel binnen Minuten Sie auf Lungenkrebs untersuchen können, nur indem Sie einmal dagegenhauchen. Der Begriff Tumor wird verschwinden, weil es gar nicht mehr soweit kommt. Man wird vergessen, was das Wort einmal bedeutet hat.

„Vorsicht beim Friseur! Ihr Haar verrät Ihren Gen-Code“

Ist das nun eine schöne neue Welt oder ein „1984“?

Kaku: Ich würde sagen, die Gefahr für ein 1984 bestand bis etwa 1989. Bekanntlich wurde das Internet vom US-Militär erfunden, um den dritten Weltkrieg zu koordinieren. Dann aber brach der Ostblock zusammen, und wenig später stellte Präsident Clinton das Internet zur zivilen Nutzung zur Verfügung. Bis zu diesem Moment hätte der Staat das Internet noch gegen die Bürger einsetzen können. Doch inzwischen ist es dafür zu spät. Heute ist das Netz Allgemeingut und nicht mehr unter staatliche Kontrolle zu bringen, der Große Bruder hat seine Chance ein für allemal verpaßt.

Der neue Totalitarismus könnte gesellschaftlicher, nicht staatlicher Art sein.

Kaku: Sie haben zumindest insoweit recht, als heute nicht mehr der Große, dafür aber der Kleine Bruder droht: nämlich neugierige Private, seien es Unternehmen, Nachbarn oder Kriminelle, die ihre Privatsphäre ausspähen wollen, um Marketing-Informationen zu sammeln, pikante Details über Sie zu erfahren oder einfach um Ihre Bankkonto zu plündern. Wenn Sie zum Beispiel in Zukunft zum Friseur gehen, könnte jemand hinterher abgeschnittene Haare stehlen, um Ihre Gen-Sequenz zu analysieren. Vor allem für Promis, Stars und Spitzenpolitiker wird die Zukunft hart. Mit etwas Cleverness können Fans, Händler, Privatdetektive, Agenten oder Stalker in den Besitz ihrer Gene kommen.  

Privatsphäre wird zum knappen Gut?

Kaku: So ist es, heute ist sie noch fast umsonst, in Zukunft wird sie ein teurer Luxus sein und ihr Schutz ein Big Business. Ständig werden wir in Dienstleister investieren müssen, um sie vor neuen Methoden der Ausspähung zu schützen.

Aber selbst das wird nicht viel nützen – angesichts von „Augmented Reality“ (AR), zu deutsch „erweiterte Realität“.

Kaku: Anfang der neunziger Jahre begann alles von VR, von „virtueller Realität“ zu sprechen, also dem Eintauchen in die Illusionswelt der Computer mittels Datenbrille und Cyber-Handschuh. Augmented Reality geht den umgekehrten Weg: Die virtuelle Welt der Computer dringt in die reale Welt vor. So werden wir in Zukunft AR-Kontaktlinsen tragen, und wenn wir zum Beispiel ein Bauwerk oder einen Gegenstand ansehen, werden wir automatisch alle verfügbaren Informationen dazu auf diese Linsen eingespielt bekommen: Technische Daten, Entstehungsgeschichte und Nutzanwendung etwa werden neben dem Ding, das wir ansehen, von selbst vor unserem Auge erscheinen. AR wird in naher Zukunft sogar Fehlendes ergänzen, etwa bei einem touristischen Spaziergang durch die antiken Ruinen Roms wird es die Stadt, so wie sie vor 2.000 Jahren aussah, vor unseren Augen auferstehen lassen.

„Dank AR-Technologie wissen künftig alle alles über alle“

Und das funktioniert auch bei Personen.

Kaku: Natürlich, wenn Sie sich etwa in Zukunft mit jemandem unterhalten, der eine andere Sprache spricht, wird die Übersetzung in Form eines Untertitels auf der AR-Linse in unserem Auge erscheinen. Aber nicht nur das, das System wird die Person auch erkennen können und Ihnen, während Sie beide sprechen, alle verfügbaren Informationen über diese einspielen – ohne daß diese Person es merkt. Natürlich wird diese es sich denken können – da sie es mit Ihnen wohl genauso macht. Also hüten Sie sich in Zukunft mehr denn je vor peinlichen Facebook- oder Wikipedia-Einträgen, diese werden Sie nämlich sonst nicht nur ein Leben lang begleiten, sie werden künftig jedem Menschen, der Sie neu kennenlernt, automatisch zu Gesicht kommen und dessen ersten Eindruck von Ihnen bestimmen.

Sie betonen: All das ist keine Science fiction!

Kaku: Genau, das ist ganz wichtig! Science fiction ist Spekulation: Was wäre, wenn? Zugegeben, die Science fiction hat ein paar Treffer gelandet, aber dennoch ist ihr Wesen das Fabulieren. Ich bin aber kein Schriftsteller, ich bin Physiker. Zwar beschreibe auch ich die Zukunft, aber nicht im Sinne phantastischer Visionen, sondern realistischer Prognosen. Ich zeige keinen Traum, sondern die Realität von morgen. >>

Mit Ihrer Methode sind Sie zum populärsten Futurologen der USA geworden. Ihre Medien-auftritte sind kaum mehr zu überblicken.

Kaku: Weil ich für mein Buch dreihundert der herausragenden Wissenschaftler der Welt interviewt, ihre Institute besucht und mich von ihren Projekten selbst überzeugt habe. Das sind die Leute, die in ihren Laboren heute unsere Morgen erfinden. Ich betone, daß an allem, was ich hier bzw. in meinem Buch darstelle, real geforscht wird. Das heißt, es gibt schon mindestens einen Prototyp davon. Die Frage ist also nicht, ob es je Realität werden wird, sondern höchstens wann.

Und wann ist es soweit?

Kaku: Das meiste davon wird schon in zehn bis zwanzig Jahren einsatzfähig sein.

In zehn bis zwanzig Jahren?

Kaku: Moores Gesetz! Erinnern Sie sich?

In Ihrer 2007 auch in Deutschland ausgestrahlten TV-Dokumentationsserie „2057“ sprechen Sie von fünfzig Jahren – eben 2057.

Kaku: Diesen Zeitraum haben wir symbolisch gewählt: die Welt in fünfzig Jahren – das war griffig. Sicher, außerdem gab uns das ein Sicherheitspolster. Tatsächlich aber werden die meisten Erfindungen schon in ein, zwei Dekaden einsatzfähig sein. Zumindest ist das wahrscheinlicher als erst in fünf. Die Fortschritte bei der Gen-Sequenzierung etwa steigern sich innerhalb von achtzehn Monaten – Moores Gesetz – nicht nur um das Doppelte wie bei den Mikrochips, sondern um das Zehnfache! Heute haben wir weltweit erst die Gene von etwa zehn Personen vollständig erfaßt, in wenigen Jahren werden es aber schon Millionen sein! Dann werden die meisten Menschen ihren vollständigen Gen-Code etwa auf ihrer Krankenversicherungskarte gespeichert mit sich herumtragen. Wenn wir aber über Millionen sequenzierter Gen-Codes verfügen, werden wir wahrscheinlich auch bald die Gene lokalisieren können, die für das Altern zuständig sind!

Über einen Ihrer Besuche in den Forschungsstätten der Zukunft sagen Sie, dort sehe es aus „wie in Dr. Frankensteins Labor“.

Kaku: Das war an der Wake Forest Universität in Nord-Carolina, wo sie Ersatzteile für den menschlichen Körper züchten. Überall sehen Sie dort lebende, pulsierende Organe in großen Gläsern wachsen. Wenn Sie in Zukunft einen Autounfall haben, werden Sie nicht nur Ihren zerbeulten Kotflügel austauschen, sondern auch Ihre gequetschte Niere – und zwar ebenso routinemäßig. Denn bald schon werden wir Banken für künstlich gezüchtete Körperteile haben: Sie geben ein paar Zellen ab, und man züchtet ein ganzes Organ daraus. Heute kann man schon Haut, Knochen und Knorpel züchten, folglich wachsen bereits ganze Ohren und Nasen künstlich heran. Die erste Blase wurde vor ein paar Jahren gezüchtet, die erste Luftröhre 2009. Herzzellen sind auch schon kein Problem, und bald werden komplexe Organe wie Leber oder Bauchspeicheldrüse soweit sein. Aber noch viel einschneidender ist der Ersatz bei altersbedingten Organausfällen.

Wird dieser technologische Quantensprung die entwickelten Länder nicht unendlich mächtig machen und sie zu einem neuen Kolonialismus gegenüber den übrigen verführen?

Kaku: Moment, die Revolution, vor der wir stehen, gibt gerade auch Entwicklungsländern eine Chance. So wie das Entwicklungsland Deutschland im 19. Jahrhundert dank der industriellen Revolution sogar die alteingesessene Weltmacht Großbritannien in kurzer Zeit überholen konnte. Denn erstens stöhnen entwickelte Länder nicht wie wir unter der Last einer teuren, heute aber veralteten Infrastruktur. Zweitens, was nützen etwa teure Kabelnetzte, wenn die Zukunft kabellos ist? Entwicklungsländer können hier neu einsteigen! 1945 war zum Beispiel Singapur nichts als ein dreckiges Piratennest. Wenn Sie damals vorhergesagt hätten, daß es bald einer der modernsten Staaten der Welt sein wird, hätte man Sie ausgelacht! Das Problem ist nicht die Unterentwicklung, sondern nicht rechtzeitig auf den Zug aufzuspringen. Wenn ich allerdings daran denke, daß die meisten Entwicklungsländer Kleptokratien und keine Demokratien sind, dann fürchte ich, wird man dort tatsächlich die Chance verpassen.

„Schon um 2050 erwartet uns dann die nächste Revolution“

Auch die digitale Revolution wird zu Ende gehen. Was kommt dann?

Kaku: Gegen Mitte des 21. Jahrhunderts wird das Atomzeitalter zurückkehren. Was meine ich, etwa die Neuauflage des Atomzeitalters des 20. Jahrhunderts? Natürlich nicht. Nein, dann wird die Kernfusion soweit sein und für die Welt der Großgeräte einen genauso großen Schritt bedeuten, wie die Erfindung des Mikrochips für die Welt der Kleingeräte! Denn Kernfusion bedeutet nichts anderes, als daß uns plötzlich eine fast unbegrenzte Menge an Energie zur Verfügung steht, die fast nichts mehr kostet und die unseren Großgeräten eine Potenzsteigerung erlaubt wie der Chip dem Fernseher, der ihn zum Computer gemacht hat. Heute hängen wir vom Öl ab. Die Kernfusion aber wird den Kampf ums Öl schlagartig beenden. Dann wird die Ursache zum Beispiel für Rohstoff-Kriege oder Klimaerwärmung verschwinden, und die Welt wird sich auch dadurch politisch grundlegend verändern.

JF 10/10

Prof. Dr. Michio Kaku ist der vermutlich bekannteste Futurologe weltweit. Der US-Physiker hat – als Gast und Moderator – bereits Dutzende Fernseh-, Radio-, und sonstige Medienauftritte absolviert und zahlreiche Bücher verfaßt. Auch in Deutschland ist Kaku immer wieder präsent, unter anderem 2007 mit „2057“, seiner dreiteiligen TV-Dokumentationsserie über die Welt in fünfzig Jahren. Diese basierte unter anderem auf seinem Buch „Zukunftsvisionen. Wie Wissenschaft und Technik des 21. Jahrhunderts unser Leben revolutionieren“ (Droemer Knaur, 2000).

2008 erschien bei Rowohlt sein jüngstes Buch: „Die Physik des Unmöglichen“. Geboren wurde der Sohn japanischer Einwanderer 1947 im kalifornischen San José. Heute lehrt Kaku an der Universität von New York.

Die Futurologie beschreibt das Bemühen, seriöse Prognosen über die Zukunft anzustellen. Einerseits ist Futurologie keine Wissenschaft, andererseits grenzt sie sich mit ihrem ernsthaften Anspruch von der phantastischen Science fiction ab.

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