Die Türkei und Armenien wollen nach Jahrzehnten der Entfremdung und der Feindseligkeiten endlich zu einem normalen gutnachbarlichen Verhältnis kommen und bald diplomatische Beziehungen aufnehmen. Das teilten die Außenminister beider Länder, Ahmet Davutoğlu und Edward Nalbandjan, vorige Woche mit. Demnach habe man sich unter Vermittlung der Schweiz auf Verfahrensschritte zur Normalisierung der Beziehungen, eine Art „Fahrplan“, geeinigt.
Wie verlautet, sieht das Protokoll neben der Aufnahme diplomatischer Beziehungen und der Öffnung der seit 1993 geschlossenen Grenze auch die Bildung von Kommissionen für die Zusammenarbeit auf Gebieten wie Tourismus und Verkehr, dem Energiesektor und der Denkmalpflege vor. Ein heikler Punkt ist die Gründung einer Unterkommission von Historikern beider Länder sowie aus der Schweiz und anderen Staaten. Sie soll die Frage des von der Türkei bestrittenen Völkermordes an den Armeniern im Ersten Weltkrieg untersuchen. Das Protokoll soll schon in sechs Wochen, pünktlich zu einem Fußball-Länderspiel, den beiden Parlamenten zur Ratifizierung vorgelegt werden.
Die Beziehungen zwischen beiden Völkern stehen seit fast einem Jahrhundert unter dem Schatten der Vernichtung und Vertreibung der Armenier aus Anatolien 1915/16. Nach armenischer Darstellung verloren 1,5 Millionen Menschen ihr Leben im ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts. Die Türkei betrachtet die historischen Ereignisse hingegen als Unruhen vor dem Hintergrund des Krieges. Türkische Historiker haben die Armenier als eine Art fünfte Kolonne dargestellt, die sich mit dem russischen Kriegsgegner verbündet hätte. Ankara hat die Verantwortung für die Tötung der Armenier stets zurückgewiesen und die genannten Zahlen als übertrieben bezeichnet.
Zu einem Ausgleich hatte es nach dem Ersten Weltkrieg wenig Gelegenheit gegeben. Denn das Osmanische Reich war nach dem verlorenen Krieg von den Westmächten zerschlagen worden. Als aus der Erbmasse 1923 die türkische Republik entstand, war Ostarmenien schon Teil der Sowjetunion geworden, die westlichen Siedlungsgebiete der christlichen Armenier blieben türkisch. Zwischen der 1991 unabhängig gewordenen Republik Armenien und der Türkei gab es deswegen nie diplomatische Beziehungen.
Insofern ist die Erklärung der vergangenen Woche vielleicht von historischer Bedeutung, doch überraschend kommt sie nicht. Denn die Bemühungen um ein Ende der Eiszeit zwischen Armenien und der Türkei hatten sich bereits im September letzten Jahres angedeutet, als der türkische Präsident Abdullah Gül zum WM-Qualifikationsspiel der armenischen Fußballnationalmannschaft gegen die Türkei nach Eriwan flog. Er war das erste türkische Staatsoberhaupt, das Armenien besuchte. Gespräche der Außenminister beider Länder und ein Besuch Güls im Nachbarland Aserbaidschan (bis 1991 ebenfalls Sowjetrepublik) folgten. Ein Dreiertreffen der Außenminister der Türkei, Aserbaidschans und Armeniens am Rande einer UN-Vollversammlung Ende August in New York schloß sich an.
In ihrer öffentlichen Fußball-Geheimdiplomatie hatten die beiden Staaten schon im April dieses Jahres eine erste Erklärung zur Normalisierung ihrer Beziehungen vorgelegt, doch enthielt diese keine Details. Zudem war es damals zu erhofften symbolträchtigen Schritten wie einer Grenzöffnung nicht gekommen: Eine Intervention aus Baku und innenpolitischer Streit in der Türkei hatten dies verhindert. Seither war es still geworden um die Armenien-Initiative Ankaras. Beobachter hatten schon gefürchtet, der Premier habe nach Protesten aus dem kemalistisch-nationalistischen Lager Angst vor der eigenen Courage bekommen.
Die Grenze war schon einmal für einen kurzen Zeitraum von 1991 bis 1993 offen, nachdem die zerfallende Sowjetunion Armenien in die Unabhängigkeit entlassen hatte. Dann aber hatte die armenische Armee die überwiegend von Armeniern bewohnte Enklave Berg-Karabach im benachbarten Aserbaidschan erobert und Tausende Nicht-Armenier vertrieben. Die Türkei hatte aus Solidarität mit Aserbaidschan die Grenze wieder geschlossen. Nach dem Türkei-Besuch von US-Präsident Barack Obama im April dieses Jahres war ein Ende der türkischen Grenzblockade erwartet worden. In der strategisch wichtigen Kaukasus-Region, die für Europa das Tor zu Energievorkommen in Zentralasien werden soll, wäre dies tatsächlich ein Durchbruch. Die nach sieben Jahrzehnten Sowjetherrschaft überwiegend laizistisch-muslimischen Aserbaidschaner werden von der Türkei als Brudervolk verstanden („Eine Nation, zwei Staaten“). Ankara lief daher Sturm gegen die geplante Normalisierung. Armenien müsse erst die umstrittene Enklave Berg-Karabach räumen, lautete die Forderung.
Doch trotz solcher Hindernisse scheint in Ankara der Wille für eine Normalisierung der Beziehungen zum christlichen Armenien vorhanden. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan folgt damit der regionalpolitischen Maxime seines langjährigen außenpolitischen Beraters Davutoğlu, den er im Frühjahr zum Außenminister machte. Er ist der Architekt einer Politik, die nach einer Lösung der Konflikte mit den Nachbarstaaten der Türkei strebt (JF 21/09). Die Türkei, so der Politikprofessor, könne sonst nicht zu jener politischen und wirtschaftlichen Größe finden, die es zu Zeiten des Osmanischen Reiches einst hatte: „Die Türkei hat die historische Gelegenheit, die regionalen Beziehungen auf eine neue Ebene zu heben. Symbole und Gesten allein reichen nicht. Die Türkei darf ihre Chancen nicht verpassen, sondern muß sie zur Gestaltung ihrer Politik nutzen“, so Davutoğlu.
Die Türkei ist der wichtigste Knotenpunkt für Öl- und Gaslieferungen aus der Region in den Westen. In den vergangenen Jahren verfolgte Ankara zwei Projekte im Kaukasus, die die geopolitische Position des Landes aufwerten sollten: den Ausbau von Gas- und Öl-Pipelines außerhalb des russischen Einflußgebiets und die Wiedereröffnung der durch die geschlossene Grenze zu Armenien unterbrochenen Bahnverbindungen mit Mittelasien. Beide Projekte wurden bisher unter Ausschluß Armeniens betrieben. Gelänge ein Ausgleich zwischen Armenien, Aserbaidschan und der Türkei würden nicht nur die Pipeline- und Verkehrsprojekte gesichert, sondern zugleich aus der Sicht des Geopolitikers Davutoğlu ein bedeutender Fortschritt erzielt. Das Nabucco-Pipeline-Projekt beispielsweise, das ab 2014 kaspisches Gas transportieren soll, umgeht bislang Armenien – aber über das zunehmend instabile Georgien.
Auch viele der schätzungsweise noch 50.000 türkischen Armenier glauben an eine neue Epoche. „Der Geist ist aus der Flasche“, jubelte die armenisch-türkische Wochenzeitung Agos nach der Erklärung der vergangenen Woche. Das Blatt weist aber auch darauf hin, daß in dem stufenweisen Prozeß der Wiederherstellung von armenisch-türkischen Beziehungen „auf jeder Stufe erneut ein Problem“ auftauchen könne.
Das Hauptproblem wird sicher die Zukunft des Gebiets Berg-Karabach sein. Die türkische Regierung fordert deswegen, daß parallel zu den Normalisierungsgesprächen mit Armenien auch Verhandlungen zwischen Eriwan und Baku stattfinden, auch diese unter Schweizer Vermittlung. Ohne eine Lösung für Berg-Karabach, so Davutoğlu, sei eine dauerhafte Einigung mit Armenien „nur schwer denkbar“.
Foto: Premier Erdogan: Annäherung an feindliche Nachbarn?