Schon zum zweiten Mal auf ihren Jahrestagungen widmete sich jetzt in Jena die Thüringische Philosophische Gesellschaft dem Problem der sogenannten "Entschleunigung". Entschleunigung ist "in", nicht nur in Deutschland. Seit Stan Nadolnys hübschem, stichwortgebendem Polarforscherroman "Die Entdeckung der Langsamkeit" von 1983 hat sich das Thema – langsam, wie es der Sache entspricht, aber offenbar unausweichlich – über ganz Europa ausgebreitet und erreicht nun sogar die Lebensmittelindustrie und verwandte Wirtschaftszweige.
Viele EU-Verbraucher sind begeistert von einer neuen, "entschleunigten" Kaffeemaschine aus England namens "The Clover", obwohl (oder weil) man bei ihr ungewöhnlich lange auf seinen Espresso warten muß. Und in Spanien hat Vicente Verdu, seines Zeichens Literaturprofessor und Kaffeehausgänger, soeben ein wortgewaltiges Plädoyer für den "entschleunigten" Roman veröffentlicht. Vor allem die Krimi-Autoren, meint Verdu, sollten endlich aufhören, ihre Leser "am Kragen zu packen und sie keuchend und schlaflos zur ultimativen Offenbarung auf der letzten Seite zu schleifen". Dabei komme nur schlechte Literatur heraus.
Geduldig warten, ziellos herumstehen, jede Situation bis zur Neige auskosten – das sei das Gebot der Stunde. Nicht nur der Kaffee und die Literatur würden dadurch besser, nämlich satter, voller, nuancenreicher, sondern die ganze moderne Industriegesellschaft. Das Grundübel der Zeit bestehe in der irren Beschleunigung sämtlicher Lebensverhältnisse, der Temposteigerung um jeden Preis, wodurch man, statt bei vernünftig gesetzten Zielen anzukommen, blindlings in Sackgassen hineinrenne und letztlich nur Konfusion anrichte.
Auch Hartmut Rosa, Verfasser des soziologischen Suhrkamp-Wälzers "Beschleunigung" und Star der Jenaer Tagung, plädiert entschieden für Entschleunigung. Es sei ein verhängnisvoller Irrtum zu glauben, daß "die Technik" als solche auf Beschleunigung angelegt sei. Sie eröffne im Gegenteil vielerlei Wege, sich öffentlichen Temposteigerungen zu entziehen und es für sich selbst gemächlicher angehen zu lassen. Verantwortlich für den angeblich immer noch dominierenden Beschleunigungstrend seien eindeutig die Politiker und die Medien.
Sie und niemand anders seien es, die das berühmte und erfolgreiche, dabei durchaus wirtschaftsliberale Modell Ludwig Erhards von der "formierten Gesellschaft" mit ihren stabilen Handlungsanleitungen in das Modell der "permanent zu reformierenden Gesellschaft" umgewandelt hätten, einer Gesellschaft der ewigen Aufgeregtheit, der Destabilisierung und individuellen Fragmentierung. Statt zu entschleunigen und dadurch Sicherheit zu verbreiten, würden sie den Ofen dauernd künstlich anheizen und überheizen, nur um sich wichtig zu machen und den Anschein der eigenen Unersetzbarkeit zu erzeugen.
Pankraz gefällt diese Spitze gegen die künstliche Anheizerei im polit-medialen Interesse, aber letztlich mißtraut er doch den zur Zeit wie Pilze aus den Boden schießenden Entschleunigungsexperten, all den "Slow motion"-Fanatikern, "Simplify your life"-Ratgebern und selbsternannten Geschwindigkeitsbegrenzern. Die meisten von ihnen kochen durchaus auch ihr eigenes Süppchen. Sie haben Pudelmützen auf und tun so, als würden sie "im Namen der Natur" sprechen, aber bei Lichte besehen haben sie sehr wenig Ahnung von der Natur.
Denn diese steht keineswegs unter dem Prinzip Langsamkeit, sondern vielmehr – wenn es denn schon um Prinzipien geht – unter dem Prinzip "Vorsichtig anschleichen bzw. ausharren und dann blitzschnell zuschlagen bzw. durchstarten". Beschleunigung, im Bedarfsfall allerhöchste Beschleunigung, gehört zu den wichtigsten Überlebenstechniken in der freien Natur. Das gilt sowohl für Angreifer wie für Verteidiger oder Flüchter, für Löwen wie für Gazellen, für Krokodile wie für Watvögel, für Katzen wie für Mäuse.
Und mehr noch: Wahrscheinlich ist das Prinzip "Abwarten und dann mit höchster Beschleunigung durchstarten" das Grundprinzip der Evolution des Lebens überhaupt. Seit Charles Darwins Tagen wurde ja lange gepredigt, die Evolution brauche viel, viel. viel Zeit, um neue Arten herauszubilden; mit solcher Mär sollten die schreienden Unzulänglichkeiten in der Darwinschen Selektionstheorie kaschiert werden. Inzwischen weiß man, daß die Natur manchmal äußerst schnell, geradezu blitzschnell, Arten gebiert. Sie ist tatsächlich der Beschleuniger par excellence.
Lange Perioden der Stagnation, in denen faktisch gar nichts passiert, werden abgelöst von Perioden, in denen sich die Fülle grundlegend neuer "Designs" buchstäblich überstürzt, eine Gestalt die andere in einem wahnwitzigen Wettlauf um Lebensmöglichkeiten zu überholen trachtet. Wer hier entschleunigen wollte, der würde nichts für sein Überleben tun, sondern alles für seinen Untergang. Kein Krimi kann hektischer verlaufen als gewisse, entscheidende Stadien der biologischen Evolution.
Was lernen wir daraus? Beschleunigen oder entschleunigen – das ist in der Natur keine generelle Alternative, sondern eine Sache der jeweiligen erdgeschichtlichen Situation. Und in der menschlichen Gesellschaft und ihrer Kultur geht es gewißlich nicht viel anders zu. Geschwindigkeit und Beschleunigung, respektive Langsamkeit und Entschleunigung, sind keine Kategorien "an sich", weder Tugenden noch Untugenden, sondern beziehen ihren Sinn aus der jeweils gegebenen Situation.
Hochtourige Autos mit machtvollem Beschleunigungsvermögen zu bauen, macht durchaus Sinn in Hinblick auf fast jede vorstellbare Situation. Die Hochtourigkeit herzustellen oder einzusetzen für Wichtigtuerei oder aus purem Profitinteresse, macht keinen Sinn oder einen schlechten. Das Tempo der Bewegungen und Veränderungen wird bestimmt durch soziale und mentale Notwendigkeiten, nicht durch individuelle Möglichkeiten. Langsamkeit muß sowenig erfunden werden wie Schnelligkeit. Beide gehören zum Leben dazu.