Die Katastrophe des Air-France-Fluges 447 machte es wieder einmal deutlich: Fremdes Leid erreicht nicht das Zentrum unserer Existenz, es verwandelt sich auf dem Weg dorthin in Selbstleid, in erschrockenes Ausmalen möglichen Dabeigewesenseins. Anteilnahme am Unglück anderer ist immer Selbstreferenz, allen mitfühlenden Worten und Gesten zum Trotz. Abgesehen von den unmittelbar Betroffenen, den Angehörigen und Kollegen der Opfer, deren Leben sich nun ändern wird, reagieren alle übrigen spontan mit der Schreckens-Vorstellung: „Mann, wenn ich selbst dabei gewesen wäre! Was für ein Entsetzen!“
Allmählich klingt der Schrecken ab, das Gemüt beruhigt sich wieder und wendet sich kalten Blutes den sachlichen Aspekten der Affäre zu. Im Zeitalter der Talkrunden und televisionären Expertenbefragungen geht das sogar sehr schnell. Einige Kondolenz-Phrasen zu Beginn der Sendung, und schon ist man bei den „wirklich spannenden“ Fragen. Wie konnte ein so großer Jet einfach von den Schirmen und aus der Wirklichkeit verschwinden? Warum gab es keine Notrufe? Sind vielleicht doch dämonische Kräfte wie im legendären Bermudadreieck im Spiel gewesen? Wird man die Infobox, den Bordschreiber, eines Tages aus den Tiefen des Ozeans bergen können? Und was wird er uns mitteilen?
Indes, es gibt, findet Pankraz, auch auf der psychologischen Innenseite des Horror-Geschehens Reflexionsbedarf. Momentanes Entsetzen, wie es das Verschwinden von AF 447 auslöste, stoppt offenbar unsere mitleidende Anteilnahme, unsere „Empathie“, macht uns zu reinen Seelen-Egoisten. Wir bedürfen konkreter Erinnerung, um uns in fremdes Leid hineinfühlen, gar um es „teilen“ zu können. Was wiederum nicht bedeutet, daß wir uns dabei selbst gleichsam ausschalten müssen, im Gegenteil, nur derjenige, der voll bei sich selbst bleibt, kann auch mitleiden. Man muß im selben Boot sitzen, wenn man sich füreinander interessieren soll, zumindest im selben Geleitzug unterwegs sein.
Unser medialer Alltag strotzt von Schreckensmeldungen, von Morden, Unglücksfällen, Gewalttätigkeiten. Viele dieser Mitteilungen tropfen von uns ab wie Speichel von der Lotusblüte, besonders wenn sie aus weit entfernten Weltgegenden stammen, zu denen wir kaum Beziehungen haben. Katastrophen wie AF 447 hingegen reißen uns aus der erworbenen Gleichgültigkeit heraus, es sind globalisierte Katastrophen, die uns jederzeit ebenfalls erreichen können, und ihr leicht vorstellbarer und dennoch von Rätsel und Geheimnis umgebener Schrecken ebnet die räumliche Distanz resolut ein – und die zeitliche Distanz nicht minder.
Betroffen fragen wir uns: „Mein Gott, als die da oben in ihrer Business Class unversehens mit dem grausamsten Tod konfrontiert wurden, von namenloser Verzweiflung erfüllt, in ein schauervolles kollektives Inferno verstrickt – was habe ich da gemacht? Ich saß ganz gemütlich beim Frühstück und genoß gemächlich den schönen Frühsommertag.“ So etwas ist nachträglich kaum auszuhalten. Schlagartig wird einem die Ungleichzeitigkeit in der Gleichzeitigkeit bewußt. Es ist dieselbe Welt und doch eine grell andere. „Das Schöne ist des Schrecklichen Anfang“, dichtete einst Rilke, doch in Wahrheit sind Schönheit und Schrecken von vornherein und für immer untrennbar ineinander verknäult. Und der Schrecken scheint der Stärkere zu sein.
Trotzdem dürfen wir uns von ihm nicht die Laune verderben lassen, wo kämen wir sonst hin? Daß Unheil und Leid in der Welt sind, verpflichtet uns nicht zum unentwegten Trauertragen, ganz im Gegenteil. Es kommt hier auf den Blickwinkel an. Das wußte schon der berühmte Gottfried Wilhelm Leibniz, als im Jahre 1755 nach dem entsetzlichen Erdbeben von Lissabon mit Zehntausenden von Opfern viele Menschen fragten: „Wie kann Gott so etwas zulassen? Gibt es ihn überhaupt?“ Leibniz antwortete (in seinem Buch über die „Theodizee“) mit zwei – im Stil der Zeit lateinisch formulierten – Fragen: „Si Deus est – unde malum? Si non est – unde bonum?“
Zu deutsch: Wenn Gott existiert, wieso gibt es dann das Böse? Aber wenn er nicht existiert, wieso gibt es dann das Gute? Selbst wer die Welt für ein einziges Jammertal hält, muß ja einräumen, daß darin hin und wieder auch mal etwas Gutes vorkommt: ruhiger, gelassener Genuß des Alltags mit dem vertrauen Partner, Lohnerhöhung, bestandenes Examen, Gesundheit, das Hochgefühl, dessen man teilhaftig wird, wenn einem ein gutes Werk gelungen ist. Wo kommt denn das alles her? Und: Kann man das Gute einfach als pure Selbstverständlichkeit unter „ferner liefen“ abheften? Das zu tun, wäre schlicht vernunftwidrig, mahnt Leibniz.
Es gibt, schreibt er, in Gottes Schöpfung viel mehr Gutes als Schlimmes, so wie es ja zum Beispiel viel mehr Häuser als Gefängnisse gibt. Pankraz möchte ausdrücklich hinzufügen: Es gibt auch viel mehr gelungene Transatlantikflüge als Katastrophen à la AF 447. Natürlich ist das kein Trost für die Angehörigen und Kollegen der AF-447-Opfer, und es enthebt die schlicht Anteilnehmenden nicht der Pflicht, sich zusammenzureißen und beim Kondolieren eine ordentliche Figur zu machen. Es darf ihnen jedoch nicht auf Dauer die Generalperspektive verdunkeln, sie nicht in Resignation und Gleichgültigkeit treiben.
Die würdigste Form jeder Anteilnahme besteht darin, von sich aus Gutes zu tun und so die Bilanz von Gut und Böse immer weiter ins Positive zu treiben. Großes Unglück ist imstande, Energien zu wecken, wußte schon Euripides. Vielleicht werden von der Luftfahrtforschung jetzt im Zeichen der AF-447-Tragödie wichtige, lebensnotwendige Orientierungs- und Rettungsfragen zügig geklärt. Und der durchschnittliche Medienkonsument lernt vielleicht, angesichts von Schreckensmeldungen reales fremdes Leid und eigene Schreckensvorstellungen zu echter Anteilnahme zu verbinden.
Merke aber: „Eine gute Tat ist immer besser als das süßeste Wort“ (Menzius).