Nun haben die Hanseaten doch noch erfahren, was Hamburgs SPD seit fast zwei Jahren lieber in der Schublade belassen hätte: den internen Untersuchungsbericht über den „Verlust“ von knapp 1.000 Stimmen bei einer Mitgliederbefragung am 25. Februar 2007.
Hamburgs SPD hatte die Mitglieder aufgerufen, ihren Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters zu bestimmen. Zur Wahl standen der frühere Landesvorsitzende Mathias Petersen und dessen Stellvertreterin Dorothee Stapelfeldt. Doch dann verschwanden Stimmzettel, und die Wahl platzte. Petersen sah sich um den Wahlsieg betrogen: Selbst wenn alle „abhanden gekommenen“ Stimmen auf Stapelfeldt entfallen wären – der Arzt aus dem multikulturellen Altona lag haushoch vor seiner Konkurrentin. Beide Kandidaten gaben schließlich den Verzicht ihrer Bewerbung bekannt, der Landesvorstand trat komplett zurück.
Seitdem läßt der gestandene Sozialdemokrat Petersen nicht locker. Die Partei berief eine Kommission, die parteiintern versuchte, Licht in das Dunkel zu bringen. Deren investigative Bemühungen führten bis dato ebensowenig auf die konkrete Täterspur wie die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft.
In diesem Zusammenhang machte auch der türkischstämmige Sprecher der Partei, Bülent Ciftlik, von sich reden. Auf dieses hoffnungsvolle Talent ist man in der hanseatischen SPD besonders stolz. Ein Einwandererkind, das zielorientiert seinen Weg nach oben geht, kann mit Fug und Recht als Vorzeigeobjekt gelungener Integration gelten. Einer wie er ist prädestiniert, gelebte Integration zu verkörpern und zu gestalten. Folglich fungiert Ciftlik also als ihr migrationspolitischer Sprecher in der Bürgerschaftsfraktion.
Aber Ciftlik bereitet seinen Prinzipalen zuweilen Ungemach. Ermittler der Partei sind damit befaßt, seinen exakten Aufenthaltsort in der Parteizentrale zum Zeitpunkt der Wahl näher zu lokalisieren. Hierzu gebe er „widersprüchliche Aussagen“ ab.
Sollte ihm nachzuweisen sein, sich der Manipulation schuldig gemacht zu haben, brächte er die hanseatische SPD in arge Bedrängnis. Dann stünde die Partei vor einer Krise ungekannten Ausmaßes, wird doch in Deutschland Wahlfälschung allgemein als ein Delikt von Ländern der Dritten Welt angesehen. Doch bewiesen ist nichts, und innerhalb der Partei sind Stimmen zu vernehmen, die die Verdächtigungen gegen Ciftlik auf parteiinterne Machtkämpfe zurückführen.
Der SPD-Aufsteiger gerät auch in einem anderen Fall in die Schlagzeilen. Ihm wird vorgeworfen, eine dubiose Rolle beim Zustandekommen einer Scheinehe zwischen einem 38 Jahre alten Türken und einer 32jährigen Deutschen gespielt zu haben. Ermittler erscheinen zur Durchsuchung, und die Staatsanwaltschaft muß nun klären, ob sich Ciftlik wegen des Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz verantworten muß. Ciftlik selbst hat die gegen ihn erhobenen Vorwürfe bestritten. Bis zur endgültigen Klärung läßt er sein Amt als migrationspolitischer Sprecher ruhen. Bei der Bürgerschaftswahl 2008 erzielte der heute 37 Jahre alte weltgewandte Junggeselle ein überaus respektables Ergebnis in seinem Wahlkreis Altona. Er konnte die auf ihn vereinten Stimmen verdoppeln und wurde als „Obama von Altona“ gefeiert.
Damit zog ein Jungtürke in die Bürgerschaft ein, bei dem man ein gerüttelt Maß an Erfahrungspotential über Strukturen westlicher Demokratien erwarten durfte. So qualifiziert ihn ein Studium der Politischen Wissenschaften in Hamburg, einschließlich eines Aufenthaltes im amerikanischen Bundesstaat Kansas. In dieser Zeit nutzte er die Gelegenheit, den Wahlkampf demokratischer Präsidentschaftskandidaten zu verfolgen.
Da will so gar nicht ins Bild passen, daß mit den jüngsten Vorkommnissen sich wieder Stimmen derjenigen zu Wort melden, die sich bereits 2008 über das phantastische Wahlergebnis gewundert hatten. Damit konfrontiert, wird der spektakuläre Erfolg mit dem Bienenfleiß während des Wahlkampfes begründet. So sei der Kandidat sich nicht zu schade gewesen, die Klinken von 7.000 Türen zu putzen. Häufig öffnen dem eloquenten Wahlkämpfer in diesem Stadtteil Menschen mit „Migrationshintergrund“ die Tür, viele von ihnen sind Türken. Man ging 2008 nach der Wahl rasch zum politischen Tagesgeschäft über. Erst mit dem Vorwurf der Scheinehe geriet die Diskussion über seine Person ins Rollen und die Parteispitze in die Bredouille.
Ob mit oder ohne die Beteiligung Cifliks: Die Stimmzettelaffäre der Hamburger SPD ist ein weiteres Lehrstück, daß politische Verantwortungsträger selten gut beraten sind, eigene Fehlleistungen zu vertuschen. Mit der Veröffentlichung des Untersuchungsberichts scheint die SPD einen ersten Schritt in die richtige Richtung eingeschlagen zu haben. Und so verständigte sich Parteichef Ingo Egloff am vergangenen Freitag in einem Krisengespräch mit seinem Amtsvorgänger Petersen darauf, eine Arbeitsgruppe zu beauftragen, den Diebstahl der Stimmzettel politisch aufzuarbeiten.
Foto: Bülent Ciftlik: „Wie Obama“