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Die Mentalitäten sind ungebrochen

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Die Mentalitäten sind ungebrochen

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Konservatismus ist in Japan kein Dogma. Es ist das pragmatische mehrheitliche Prinzip in der Politik, der Wirtschaft und in der Lebensart des Großteils der Bevölkerung. Es mag ein Klischee sein, die Japaner ein konservatives Volk zu nennen, aber es wird davon nicht falsch. Wenn es Umbrüche gab wie zur Zeit der Meiji-Modernisierungen, der US-Besatzung nach dem Zweiten Weltkrieg oder der wirtschaftlichen Turbulenzen nach dem Platzen der Spekulationsblase ab 1992, so blieben die Lebensart, die nationale Identität, die Unternehmenskulturen und Mentalitäten doch ungebrochen und änderten sich nur sehr graduell und organisch.

Diese Kontinuitäten wurden von einer nationalorientierten Politik unterstützt, die auf konfuzianischen Normen, dem Zusammenhalt zwischen den Generationen und der seit der Nachkriegszeit nahezu ununterbrochenen Herrschaft einer dezidiert konservativen Partei mit starken Vorkriegswurzeln, der Liberaldemokraten (LDP), beruht.

Nach Japans bedingungsloser Kapitulation am 15. August 1945 versuchten die US-Besatzer in Japan die gleiche Charakterwäsche vorzunehmen wie in Deutschland, um „Militarismus“ und „Feudalismus“ auszumerzen. Im Glauben an die eigene vulgärmarxistische Kriegspropaganda hielten sie Großgrundbesitz und Monopolkapital verantwortlich für Japans Krieg mit China (ab 1937) und im Pazifik (1941/45). Dabei übersahen sie die soziologische Tatsache, daß die meisten der den Kriegskurs forcierenden radikalen Offiziere die Söhne verarmter Kleinbauern waren.

Dennoch wurde alles Ackerland über einen Hektar enteignet und verteilt, die Familienholdings der Zaibatsu-Konzerne gleichfalls enteignet und die Firmen entflochten. Die Errungenschaften und autoritären Traditionen der Meiji-Restauration (1868–1912), in der Japan als einzige Nation Asiens ohne fremde Kolonialherrschaft seine Modernisierung vollbrachte, sollten wie das Preußentum in Deutschland eliminiert werden. General Douglas MacArthur ließ deshalb eine Gruppe von Besatzungsoffizieren eine demokratische Verfassung nach US-Muster ausformulieren und ins Japanische übersetzt vom Parlament beschließen. Darin wurde der Kaiser, den die Amerikaner ursprünglich noch hängen wollten, enteignet und zum machtlosen Symbol des Staates reduziert, alle anderen Adelstitel abgeschafft, das Militär und die politische Rolle von Offizieren verboten und auf das Selbstverteidigungsrecht Japans verzichtet. 300.000 Japaner, hauptsächlich Industrielle, Politiker – einschließlich des frischgewählten Wahlsiegers für das Amt des Premierministers – und ehemalige Offiziere, wurden aus öffentlichen und privaten Führungsfunktionen gesäubert und bis zur Unterzeichnung des Friedensvertrages von allen solchen Positionen verbannt. Dazu reichte die formelle Mitgliedschaft in einer patriotischen Vereinigung, die die Amerikaner als militaristisch eingestuft hatten.

War schon Shigeru Yoshida, der von den Besatzern geduldete einflußreiche Nachkriegspremier (1947–1954), Vizeminister im Vorkriegs-Außenministerium gewesen, so stellte die Rückkehr der von den Besatzern gesäuberten Politiker nach 1952 die personalen Vorkriegskontinuitäten wieder her. Unter der Bedrohungskulisse des Koreakriegs machten sie sich bald ans Werk, die Exzesse des Besatzungsregimes zu korrigieren, die zerschlagenen Unternehmen und Konzerngruppen wieder zusammenzuführen, erneut patriotische Werte zu lehren und behutsam eigene Selbstverteidigungskräfte aufzubauen.

Premierminister Ichiro Hatoyama (1954–1956) war vor dem Krieg Erziehungsminister gewesen. Premier Nobusuke Kishi (1957–1960) war unter Hideki Tojo Wirtschafts- und Rüstungsminister. Die Enkel Hatoyamas sind heute führende Figuren in der LDP und bei den oppositionellen Demokraten (DPJ). Kishis Enkel Shinzo Abe war 2006/7 Premier. 40 Prozent der Abgeordneten der Regierungspartei sind in der zweiten, dritten oder vierten Generation Politiker. Im dynastisch denkenden Japan käme keiner jener nachgeborenen Politiker auf die Idee, die Leistungen oder das Lebenswerk ihrer verdienten Vorfahren zu schmähen, denen sie ihren aktuellen Status zu verdanken haben. Das gilt natürlich auch für die Firmenerben und den Rest des Volkes.

Das prägt das allgemeine Verständnis des Zweiten Weltkriegs, der als großes nationales Unglück und politischer Fehler wahrgenommen wird, nicht aber als moralisches Verbrechen. Deshalb ist das Gedenken an die 2,5 Millionen gefallenen Soldaten am Yasukuni-Schrein für die meisten, einschließlich der politischen Führung, eine Selbstverständlichkeit und die hysterischen Reaktionen seitens Pekings, Seouls und der Westmedien unverständlich. Nach gängiger Meinung im Land der ersten Atombombenabwürfe haben im letzten Weltkrieg nicht nur die Verlierer, sondern auch die Sieger massenhaft – freilich ungesühnte – Kriegsverbrechen begangen. Kein Grund also, einmal gegebene Entschuldigungen bis zum Erbrechen ritualhaft zu wiederholen oder unbewiesene Beschuldigungen und Opferzahlen ungeprüft zu akzeptieren. Die japanische nationale Identität und ihr Geschichtsbewußtsein sind daher ungebrochen. Der verbreitete Stolz auf die kulturellen und wirtschaftlichen Leistungen des Aufstiegs aus eigener Kraft zur zweitgrößten Industrienation der Welt während des letzten Jahrhunderts ist nur allzu berechtigt.

Der jahrzehntelange Massenwohlstand blieb nicht ohne Folgen für die Lebensstile der mittlerweile in Metropolen wohnenden Mehrheit. Unübersehbar sind dort der Konsum protziger Statussymbole und eine infantile Jugendkultur, die seither als Exportprodukt ganz Ostasien und den Rest der Welt heimsucht. Der Gebärstreik junger Frauen, stark verspätete Eheschließungen oder immer häufiger aufgegebene Ehepläne lassen seit zwei Jahren die Bevölkerung schrumpfen und – unterstützt von einer der weltweit höchsten Lebenserwartungen – rapide altern. Von derzeit noch 124 Millionen wird die Zahl der Japaner bis 2050 auf 100 Millionen abnehmen. Schon jetzt ist jeder Fünfte über 65 Jahre alt. Der Anteil der Kinder unter 16 Jahren beträgt nur noch 13 Prozent. Staatliche Maßnahmen zur Hebung der stetig fallenden Geburtenrate von derzeit nur noch 1,25 Kindern pro Frau haben bislang nicht gefruchtet. Im Großraum Tokio ist sie bereits unter ein Kind gefallen.

Dafür sind nicht nur die „parasitären Singles“ verantwortlich, die, bei ihren Eltern wohnend, ein sorgloses Leben ohne Verantwortung im Konsumrausch vorziehen. Es ist auch die steigende Zahl von prekären Teilzeitbeschäftigungen, die 30 Prozent der jungen Männer auf dem Heiratsmarkt unvermittelbar macht. Weiter schreckt die Unvereinbarkeit von Beruf und Kindererziehung und die familienfeindliche Firmenpraxis langer Überstunden und häufiger Versetzungen ab. Nicht zuletzt sind im Sozialhaushalt Japans 70 Prozent der Mittel für die Renten, die Gesundheit und Betreuung der Alten vorgesehen, die regelmäßige Wähler sind, und nur vier Prozent für Kinderbetreuungen und Kindergeld.

Die Politik Japans ist also nicht frei von Widersprüchen. Ohnehin ist sie aktuell vom Krisenmanagement besessen. Ähnlich wie US-Präsident Barack Obama flüchtet sich die Regierung von Taro Aso in massive Verschuldungsprogramme, die die künftigen Generationen belasten werden. Dies, obwohl dreizehn solcher Konjunkturpakete während der Stagnationskrise von 1992 bis 2002 außer Defiziten und massiven, meist unnützen Bauprojekten nichts bewirkt hatten. Daß die schuldenfinanzierte US-Nachfrage wie seinerzeit erneut die japanische Konjunktur beleben wird, erscheint diesmal jedoch mehr als unwahrscheinlich.

Dabei lehnen die japanischen Wähler die Umverteilungsparolen der Linksparteien ab. Während der letzten Krise stürzten die einst mächtigen Sozialisten und die Kommunisten von Wahl zu Wahl ab. Mit einer Handvoll Abgeordneter sind sie heute nur noch marginalisierte Splitterparteien. Nachdem die Metropolen Tokio, Yokohama, Osaka und Kyoto noch in den siebziger Jahren fest in der Hand der Linken waren, werden sie heute von der LDP regiert. In Tokio ist seit 1999 der 2003 mit 70 Prozent der Stimmen wiedergewählte nationalpopulistische Romanautor Shintaro Ishihara Bürgermeister. Nur noch 18 Prozent der Arbeitnehmer sind gewerkschaftlich organisiert, die meisten in unpolitischen Betriebsgewerkschaften. Streiks gibt es eigentlich keine mehr. Die größte Oppositionspartei der Demokraten, die sich vor einem Jahrzehnt aus LDP-Abspaltungen und rechtssozialdemokratischen Faktionen gründete, kritisiert die Regierung gelegentlich auch von rechten, konservativen Positionen aus.

Auch die Medien reflektieren die vorherrschenden Einstellungen ihrer Leser. So gilt die Yomiuri Shimbun als größte Tageszeitung Japans (und der Welt) mit einer Tagesauflage von 14 Millionen allgemein als konservativ. Die fünftgrößte Tageszeitung, die Sankei Shimbun, mit einer Auflage von immerhin noch drei Millionen wird gemeinhin als nationalliberal eingeschätzt. Die Diskussionskultur auch gegenüber nationalen Positionen ist in Japan – auch an den Universitäten und im Fernsehen – weiter offen und frei von jeglicher Hysterie, den Denkverboten und dem kriminalisierenden Meinungsdiktat der politischen Korrektheit, die als kulturfremder US-Import auf Unverständnis stößt – zumal dann, wenn US-Medien immer wieder versuchen, einschlägige japanische Debatten und Publikationen zu skandalisieren.

Die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit gilt also uneingeschränkt weiter, selbstverständlich auch für die Altmarxisten der politischen Linken, deren intellektueller Einfluß freilich massiv abgenommen hat. Dank des Widerstands des Erziehungsministeriums gelang es der linken Lehrergewerkschaft Nikkyoso und der Studentenbewegung von 1968 nicht, an den Schulen und anderen Bildungseinrichtungen eine linke kulturelle Hegemonie durchzusetzen. Auch an den 750 zumeist privaten Hochschulen erhielten die häufig konservativen Ordinarien die Meinungspluralität.

Es gibt etliche ethnographische Theorien über die japanische Präferenz für Konsens und Tradition. Die plausibelsten zentrieren sich um die jahrtausendealte Kultur des Reisbaus in Japan. Der Naßfeldanbau benötigte die kollektive Anstrengung des ganzen Dorfes für die Terrassierung und den Unterhalt der komplexen Bewässerungssysteme. Auch die Auspflanzung der Reisschößlinge in die frisch gefluteten Felder und die Ernte in den entwässerten Äckern wurde stets kollektiv unternommen. Das ganze Dorf haftete für die Steuern, die in Naturalien beglichen wurden, ebenso wie für Frondienste und die Stellung von Soldaten. Jene Tradition der Vormoderne hielt bis ins frühe 20. Jahrhundert an.

Auch die Großfamilie verstand sich als solidarisches Kollektiv unter Leitung eines männlichen Haushaltsvorstands. Obwohl nach 1945 „demokratisiert“, wird weiter für alle Familien ein standesamtliches Familienbuch geführt, in dem meist der älteste Sohn oder ein adoptierter Schwiegersohn für die Fortsetzung des Stammbaums verantwortlich zeichnet und das Recht erwirbt, den Familienaltar, an dem der Seelen der Vorfahren gedacht wird, zu pflegen und zu hüten. Wer jene Tradition unterbricht – sei es durch das Ausbleiben von Nachwuchs oder durch die Schmähung der Ahnen –, der versündigt sich an ihren Geistern und beschwört für sich und die Seinen Unheil herauf.

Auch wenn die meisten Japaner gegenüber den Doktrinen der naturbeseelten Religion des Schinto und dem buddhistischen Dogma der Wiedergeburt einen pragmatischen Agnostizismus an den Tag legen, empfiehlt es sich doch für sie, die religiösen und sozialen Traditionen nicht im Übermut herauszufordern. Die konfuzianische Tradition im Bildungssystem mit ihrer Reverenz vor dem Lehrer, dem enzyklopädischen Prüfungswissen und den Erfahrungen der Älteren unterstützt jenen historisch und normativ vermittelten Konservatismus weiter im Sozialisationsprozeß – und sei es durch autoritär auftretende linksdoktrinäre Lehrkräfte.

Die erneute Krise enthält mit jenen verbreiteten Grundeinstellungen, die sich im Respekt vor Älteren, einer noch funktionierenden Kindererziehung, einer recht strengen Disziplin in Unternehmen, Schulen und der Verwaltung sowie einer ausgeprägten Bildungs-, Buch- und Zeitungskultur äußern, auch die Chance der Rückbesinnung auf traditionelle Tugenden, die lebenslange Lernbereitschaft, den Fleiß und die noch vor kurzem gepflegte Frugalität und Opferbereitschaft der Japaner – zuerst für den Staat, dann für die Unternehmen. Das zeigt sich auch an der von Japan praktizierten sehr restriktiven Einwanderungspolitik. Außer Pflegepersonal aus den Philippinen und Thailand und Bräuten für vereinsamte Bauern werden keine Ausländerkontingente ins Land gelassen. Selbst harte und schmutzige Arbeit muß von den eigenen Landsleuten geleistet werden. Die Ghettoisierungen, Kriminalitätswellen und das Schul- und Integrationsversagen Europas und Nordamerikas bleiben den Japanern damit wohlweislich erspart. Von der Überfremdung nicht bedroht, bleiben denn auch ihre traditionelle Fremdenfreundlichkeit und unbefangene Weltoffenheit erhalten.

Dr. Albrecht Rothacher, Jahrgang 1955, war bis 2005 Direktor an der Asien-Europa-Stiftung (ASEF) in Singapur. In der JUNGEN FREIHEIT schreibt er regelmäßig über Asien und Rußland. Zu seinen letzten Veröffentlichungen gehört das Buch: „Mythos Asien? Eine Weltregion im Aufbruch“, München 2007 (JF 13/07).

Foto: Das Hauptgebäude­ des Yasukuni-Schrein in Tokio: Das Gedenken für die 2,5 Millionen gefallenen japanischen Soldaten am Yasukuni-Schrein ist für die meisten, einschließlich der politischen Führung, eine Selbstverständlichkeit

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