Es war einmal ein typisch deutsches Stadttheater, das, wie viele andere, im Ruf stand, leicht verschnarcht zu sein. Und da der Intendant – amtsmüde – früher als vertraglich festgesetzt den Vorhang fallen ließ, suchten die Stadtoberen nach einer Nachfolgeregelung. Auf Messers Schneide drückte der Oberbürgermeister (auch er kurz vor ruhestandsbedingtem Abtreten) eine junge Kandidatin durch, deren Regiearbeiten immer wieder Aufsehen erregt hatten und deren Name an wichtigen Bühnen in München, Frankfurt, Hamburg und Berlin bereits bedeutend war. Dieser Regisseurin stellte das scheidende Stadtoberhaupt goldene Zeiten und entsprechende Gelder in Aussicht, und als erste Morgengabe wurde das Schauspielensemble aufgestockt. Sie schien damals zum Greifen nahe, die fabelhafte Welt der Amélie Niermeyer, die im Spätsommer 2002 ihr Freiburger Engagement mit einer eigenen Inszenierung von Shakespeares „Sommernachtstraum“ begann. Plötzlich träumten alle: die Stadtoberen von der werbewirksamen Ausstrahlung des Stadttheaters in den Rest der Republik und die Intendantin von der subventionsgarantierten Freiheit der Kunst. Nun ist der Traum zu Ende. Am vergangenen Samstag verabschiedete sich Amélie Niermeyer nach nur drei Spielzeiten. Fünf Jahre hätte sie mindestens die Geschicke des Freiburger Hauses lenken sollen, doch für das fünfte Jahr wurde sie bereits vom Schauspielhaus Düsseldorf abgeworben, und Niermeyer erbat sich zudem ein Jahr intensiver Vorbereitungszeit, um sich auf ihre neue Leitungsaufgabe an einer der wichtigsten Sprechbühnen im Land vorzubereiten. Mit Niermeyers Abtritt von der Freiburger Bühne geht dennoch eine Ära zu Ende, geprägt von einem Theaterwunder und von Alpträumen für einige der daran Teilhabenden. Niermeyers Alpträume begannen mit dem Kassensturz eines neuen Oberbürgermeisters und mit Einsparungen, die auch die finanzielle Unterfütterung des Theaters schlagartig dezimierten. Die Stadt beeilte sich, den roten Teppich, den man der jungen Intendantin eben noch ausgebreitet hatte, rasch wieder einzurollen. Niermeyer wiederum stieg sofort, noch kein Quartal im Amt und ohnehin von cholerischem Temperament, auf die Barrikaden. Das Verhältnis zwischen der streitbaren Intendantin und ihrem obersten Dienstherren, dem frisch gewählten grünen Oberbürgermeister Dieter Salomon, gestaltete sich seither regelmäßig gespannt, zeitweilig sogar vergiftet. Mehr als einmal regierte die Stadt in Sachen Stadttheater mit Maulkorberlassen und dem Verbot von Pressekonferenzen – freilich nicht ganz unverständlich, denn in Sachen Diplomatie spielte weder Niermeyer noch die Öffentlichkeitsarbeit des Theaters eine glanzvolle Rolle. Auf der anderen Seite hatte diese Impulsivität auch Vorteile, denn ohne den unbedingten Einsatz der Intendantin wäre das „Freiburger Theaterwunder“ unter den stetig widrigeren Rahmenbedingungen schwer denkbar gewesen. Wie Leitmotive zogen sich immer wieder zwei Positionen durch ihr künstlerisches Credo: „Junge Regisseure mit mutigen Handschriften“ sollten „heutige Menschen“ auf der Bühne zeigen. Was wie ein Bekenntnis zur Dominanz des Regietheaters klingt, nahm sich auf den drei Bühnen des Hauses und in den drei Sparten Oper, Schauspiel und Tanz vielfältig genug aus, um das Freiburger Publikum (vor allem eine Mischung aus ökoalternativem Bildungsbürgertum, Studenten und Besuchergemeinschaften vom Lande) nicht zu vergraulen. Die Auslastung konnte deutlich erhöht werden, und selten war das Theater in der Öffentlichkeit so präsent wie in den letzten drei Jahren. Geschickt schob die Intendantin Niermeyer experimentellere Produktionen auf die Kammerbühne oder ins Kleine Haus. Dort konnte die Regisseurin Niermeyer zerlumpte Schauspieler über einen mit Fell bezogenen und auf den Kopf gestellten Bogen und durch Shakespeares „Wie es euch gefällt“ jagen, derweil sie im Großen Haus mit Fontanes „Effi Briest“ gleichsam dem Ausstattungstheater vergangener Zeiten eine Lanze brach. Daß Theater auch sinnlich sein sollte, mochte das Publikum hin und wieder mit Händen greifen. Oder besser – löffeln: Bei der aufwendigen Inszenierung von Melvilles „Moby Dick“ war die Fischsuppe zur Pause im Eintrittspreis inbegriffen. Trotzdem bezog Niermeyer gerade für diese ambitionierte Produktion Dresche von den überregionalen Feuilletons. Und bei manch anderen Produktionen bezog die Intendanz natürlich auch Prügel vom Publikum. Was immer auf deutschen Bühnen für Aufsehen sorgte – Niermeyer versuchte, davon auch für Freiburg einen Teil zu sichern: Dazu gehört die eben beschriebene Mode, Literatur zu dramatisieren und auf die Bühnenbretter zu wuchten. Dazu gehört, daß Filmregisseure Oper inszenieren, wie es Max Färberböck mit Mozarts „Così fan tutte“ tat. Dazu gehört das sogenannte Happening: Im Freiburger Fall zog das Theater zum Beispiel mit großem Hallo in die Stadthalle und unternahm einen Wiederbelebungsversuch am Musiktheater „the CIVIL warS“ von Philip Glass, bei dem das Publikum auf rollenden Podien sitzend vom Opernchor munter durch die Halle chauffiert wurde. Hin und wieder gelang es Niermeyer, große Namen anzulocken. So inszenierte erst jüngst Alfred Kirchner noch Verdis „Aida“ in der südbadischen Provinz. Zuletzt versuchte sich die vor allem dem Schauspiel verbundene Intendantin im Musiktheater und lieferte mit „Hoffmanns Erzählungen“ von Jacques Offenbach ein vom Publikum etwas gleichmütig aufgenommenes Debüt als Opernregisseurin ab. All dies gehört vorerst der Kategorie „Es war einmal …“ an. Nun steht dem Theater eine Interimsintendanz bevor, ehe die Luzerner Ex-Intendantin Barbara Mundel 2006 die Führung des Hauses übernimmt. Diese hatte übrigens in Luzern gleichfalls vorzeitig das Handtuch geworfen, allerdings nicht gerade überwältigender Erfolge wegen … Foto: „Hoffmanns Erzählungen“, inszeniert von Amélie Niermeyer: Gleichmütig aufgenommen