Im Jahre 1996, dem Jahr nach dem Ende des Bosnien-Krieges, vertrat der Historiker Samuel P. Huntington in seinem Buch über den „Zusammenprall der Kulturen“ die These, daß nach dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr Staaten und Ideologien einander feindlich gegenüberstehen, sondern Kulturen. Die bewaffneten Konflikte der Zukunft träten entlang kultureller Bruchlinien auf, die nicht mehr nur zwischen den Staaten verlaufen, sondern auch mitten durch sie hindurchgehen. „Ethnische Säuberungen“ auf dem Balkan, der Bürgerkrieg in Bosnien, die Kriege im Irak, der 11. September 2001, die Selbstmordattentate islamistischer Terroristen, die neue Doktrin der „asymmetrischen Kriegführung“ als Folge dieser Anschläge, die brennenden Vororte von Paris zum Jahreswechsel 2005/06, der „Karikaturenstreit“ und die Reaktionen in der islamischen Welt auf die Papst-Rede von Regensburg: Sollte Huntington recht behalten? Kann man all dies als Merkmale des „Zusammenpralls der Kulturen“ deuten? Wie die Anschläge von London gezeigt haben, kann es sich bei potentiellen Tätern nicht nur um aus dem Ausland eingeschleuste Terroristen handeln, sondern um scheinbar gut integrierte, in Europa geborene muslimische „Gotteskrieger“ der zweiten oder dritten Generation. Um dieser Bedrohung entgegentreten zu können, muß Europa Kraft schöpfen. Das kann jedoch nur gelingen, wenn es sich zuvor auf die Grundlagen seiner Identität besinnt. „Wer sind wir, was sind die anderen?“ Bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage stoßen wir unweigerlich auf das Christentum, das fast zweitausend Jahre in Europa identitätsstiftend gewirkt hat. Von der Liturgie als Ausgangspunkt prägte christliche Kultur bis in die feinsten Verästelungen hinein Philosophie, Literatur, Kunst, Architektur, Musik, so daß ein Europäer zwar a-religiös oder anti-christlich erzogen werden, sich dem christlichen Kultursubstrat aber dennoch niemals entziehen konnte. Vor aller manifesten Bedeutung des Christentums für unsere abendländische Identität legt es unserer Kultur jedoch gleichsam noch eine Tiefenstruktur zugrunde: Das Christentum ist nicht nur in den manifesten Kulturleistungen gegenwärtig, sondern sogar noch dort, wo es überwunden zu sein scheint. Auf christlichem Boden wuchs die Aufklärung empor, in deren Namen ihm Kritiker und Gegner entgegentreten können. Es ist somit schlechthin unhintergehbar. Es wirkt sich auch dort noch aus, wo dem Anschein nach nichts Religiöses oder insbesondere Christliches mehr vorhanden ist. Im abendländischen Individualismus, in der cartesianischen Weltanschauung, in der „theologischen“ Überformung des wirtschaftsliberalen Marktmodells und im Konzept des Verfassungspatriotismus wird dies deutlich, um einige Dinge zu nennen Schon in der Antike, vermittelt durch die Begegnung mit dem Judentum, bildete sich der für das Abendland entscheidende und unser Menschenbild bis heute prägende Begriff vom Individuum heraus. Als die Griechen mit der jüdischen Religion in Berührung kamen, stießen sie auf etwas ihrer eigenen Denktradition völlig Fremdes: Sie fanden einen Gott verehrt, der alles nach seinem Willen gestalten kann und dessen Allmacht keinerlei Beschränkung durch Gesetze oder durch die Vernunft unterliegt. Anders als die griechischen Götter ist dieser Gott nicht an das Geschick gebunden, er ist vielmehr in seinem Tun völlig frei. Ursprung und Ordnung des Kosmos sind auf willkürliche Entscheidungen dieses Schöpfergottes zurückzuführen, der Schöpfung und Geschöpfe auch vernichten kann, wenn er will. Dieser Gott der Juden ist ein „Einziger“; er ist nicht nur „unteilbar“ (individuum!), sondern in seiner Einzigartigkeit selbstbestimmte Person (Edgar Früchtel). Das Christentum legt unserer Kultur gleichsam eine Tiefenstruktur zugrunde: Es ist nicht nur in den manifesten Kulturleistungen gegenwärtig, sondern sogar noch dort, wo es überwunden zu sein scheint. Es ist somit schlechthin unhintergehbar. Das Christentum erbte dieses von der jüdischen Gottesvorstellung geprägte Menschenbild und versteht den Menschen daher aus seiner Einzigartigkeit. Die Wertschätzung Gottes für jeden einzelnen Menschen ist im Verein mit dem Erbe der Antike das abendlandstiftende Vermächtnis des Christentums. Das Verhältnis des Christen zu Gott ist ein Ich-Du-Verhältnis, wie es nur Individuen zueinander haben können. In der abendländischen Kultur in ihren Ursprüngen und in den meisten anderen Kulturen tritt das Individuum dagegen in seiner Wertigkeit gegenüber Gruppe und Gemeinwesen deutlich zurück. Kosmologische Vorstellungen von Ordnung, Gerechtigkeit und Harmonie gehen dort nicht vom Individuum aus, sondern von der Gemeinschaft, den Traditionen, den gesellschaftlichen Bindungen oder der Ganzheit alles Wirklichen im kosmischen „Welthaus“. Das menschliche Wesen wird nicht als autark auf sich selbst gestelltes Atom verstanden. Individueller Freiheit und subjektiven Rechten kommen daher in dergestalt ganzheitlich verfaßten Kulturen kaum eine Bedeutung zu (Alain de Benoist). Die asiatische Denkweise kreist beispielsweise vor allem um die Idee der Pflichten gegenüber dem Gemeinwesen, in der christlichen Tradition steht dagegen das Individuum im Fokus der Zuwendung Gottes. Nirgendwo sonst, in keiner anderen Religion, wird das Individuum so wichtig genommen. Dies ist gleichsam das Hauptgeschenk des Christentums an die Menschheit. Durch das Christentum wird daher die Keimzelle der Moderne gelegt, sowohl im Guten als auch im Schlechten. Der freie Wille, den das Individuum seiner Gottebenbildlichkeit verdankt, gibt ihm die Möglichkeit, sich sogar gegen Gott zu entscheiden. Erst diese Grundbestimmtheit des Menschen macht Individualismus, Säkularisierung, Anti-Institutionalismus und Traditionsabbau möglich, die Signaturen des Credos der Moderne. Die Fokussierung auf das Individuum ist eine Voraussetzung der Lehre von den allgemeinen Menschenrechten. Die herausragende Bedeutung des Individuums weist das Christentum im Grunde als die Religion der Moderne aus. Daß gerade individualistisch gesonnene Zeitgenossen heute in exotische Religionen flüchten, die ja gerade die Auslöschung des Individuums lehren, ist eines der großen Mißverständnisse unserer Zeit. Die grundlegende dualistische Ontologie der Moderne und insbesondere des wissenschaftlichen Weltbildes, wie sie in der cartesianischen Unterscheidung von res cogitans und res extensa zum Ausdruck kommt, verleiht der „Selbstaufhebung der Religion“ (Richard Schaeffler) ungewollt die theoretische Rechtfertigung, obwohl sie von Descartes als Teil seines Versuchs geschaffen wurde, den Gottesbeweis zu führen. Durch seinen Dualismus macht er jedoch den Atheismus theoretisch begründbar: Wo es Naturgesetze gibt, welche die Welt ohne die Rückführung auf Gott aus sich selbst heraus in ihrem Verlauf erklären, da wird Gott für die Welterklärung überflüssig. Dies ist das Grunddogma des Vulgär-Atheismus. Der cartesianische Dualismus schafft auch die theoretische Grundlage für die großen „Ismen“ des neuzeitlichen Denkens: Materialismus und Idealismus. All das lag Descartes fern, dem christlichen Gottsucher an der Schwelle von Mittelalter und Moderne. Wir haben es mit einem faszinierenden Beispiel für die unvorhersehbaren Folgen von Handlungsabsichten zu tun, denn Idealismus, Materialismus und Atheismus verdanken ihre Prämissen in letzter Instanz der christlich inspirierten Suche nach dem Gottesbeweis. Das Christentum prägt also auch dort noch Denken und Handeln, wo es überwunden scheint. Diese Unhintergehbarkeit der christlichen Prägung Europas tritt nicht nur in der Grundverfassung der Moderne zutage, sondern auch in einzelnen ihrer Errungenschaften. Das wird beispielsweise am „Verfassungspatriotismus“ deutlich, den Jürgen Habermas der modernen „postnationalen“ und multikulturellen „Zivilgesellschaft“ als ideologische Grundlage empfiehlt. Habermas fordert die gleichberechtigte Koexistenz der kulturellen Lebensformen in einer multikulturellen Gesellschaft, wobei nicht eine bestimmte kulturelle Tradition gegenüber anderen Traditionen im Sinne einer Mehrheitskultur bevorzugt werden dürfe. Der ethische Gehalt des Verfassungspatriotismus dürfe die Neutralität der Rechtsordnung gegenüber den auf subpolitischer Ebene ethisch integrierten Gemeinschaften nicht beeinträchtigen; er müsse vielmehr den Sinn für die differentielle Vielfalt und die Integrität der verschiedenen koexistierenden Lebensformen einer multikulturellen Gesellschaft schärfen. Die Mehrheitskultur dürfe nicht staatliche Privilegien auf Kosten der Gleichberechtigung anderer kultureller Lebensformen usurpieren, denn sonst beleidige sie deren Anspruch auf reziproke Anerkennung. Das Konzept des Verfassungspatriotismus steht also, so könnte man glauben, für die Abkehr vom Bekenntnis zum Christentum als der religiösen Stanze, die Europa geprägt hat. Dabei muß jedoch bedacht werden, daß diese Forderung schon eine bestimmte kulturelle Tradition voraussetzt, nämlich die christlich-abendländische Hervorhebung der Rechte des Individuums gegenüber denen des Kollektivs. Nur im Rahmen eines modernen demokratischen Rechtsstaats mit seiner Anerkennung der „individuellen Rechtsperson“ als Trägers von Rechten können Forderungen nach weltanschaulicher Neutralität des Staates und dem individuellen Recht auf ungehinderte Religionsausübung Geltung finden und durchgesetzt werden. Der Verfassungspatriotismus wäre nicht einmal denkbar ohne die Prinzipien einer Werteordnung, die der christlichen Prägung des Abendlands ihre Existenz verdankt. Hier wird die ganze Widersprüchlichkeit des Konzeptes „Verfassungspatriotismus“ offenbar: Es verdankt sich christlicher Tradition, die es doch relativieren möchte. Eine Europäische Union mit einer „Verfassung“, die aus Rücksicht auf den Zeitgeist oder gar auf den Islam keinen Gottesbezug enthält, schafft kein Klima für die Vergewisserung europäischer Identität. Europa muß christlich bleiben – oder es wird nicht mehr sein. Angesichts der Prägung der Tiefenstrukturen abendländischer Identität durch das Christentum wird klar, daß die Grundlage für unser Zusammenleben, unsere kollektive Identität in Deutschland und Europa, auf dem Boden zu finden ist, den das Christentum bereitet hat. Diese Grundlage gilt es zu pflegen, und zwar in einem „Europa der Vaterländer“, wie es einst Charles de Gaulle gefordert hatte – wenn auch nicht gerade unter französischer Führung. Eine Europäische Union als regulierungswütiges bürokratisches Monstrum mit einer „Verfassung“, die aus Rücksicht auf den Zeitgeist oder gar auf den Islam keinen Gottesbezug enthält, schafft kein Klima für die Vergewisserung europäischer Identität. Europa muß christlich bleiben – oder es wird nicht mehr sein. Auch Deutschland muß christlich bleiben – das klingt paradox, ja geradezu absurd angesichts unserer Lage als De-facto-Einwanderungsland mit einer großen muslimischen Bevölkerung, die im Verlauf der letzten 50 Jahre in Deutschland, in Europa, mehr oder weniger – vielfach eher weniger – heimisch geworden ist. Diese Forderung verliert aber ihren provozierenden Charakter, wenn wir sie im Zusammenhang mit dem Faktum der christlichen Tiefenstruktur Europas bedenken. Das Postulat „Europa muß christlich bleiben“ kann ja nicht alleine am christlichen Brauchtum, an der Zahl der Taufen, an der Kirchenzugehörigkeit oder gar der Häufigkeit der Gottesdienstbesuche der Europäer festgemacht werden. Wäre dem so, dann wäre Europa schon lange nicht mehr christlich. Was bedeutet dann „christlich sein“? Joseph Ratzinger, als er noch Kardinal und nicht Papst Benedikt XVI. war, hat einmal in einfachen Worten auf die Frage geantwortet, wie viele Wege zu Gott es denn gebe. Er sagte nicht: „einen einzigen“ oder „mehrere“, er sagte: „So viele, wie es Menschen gibt“ („Salz der Erde“). Christlich sein, das heißt also: das Individuum, das Gott nach seinem Ebenbild geschaffen hat, so zu achten, daß wir seinen freien Willen und sein Recht auf seinen Weg zu Gott anerkennen, auch wenn er nicht unser Weg ist. Dem christlichen Fundament Europas und dem ihm entspringenden Geist wahrer Toleranz ist es zu danken, daß in Europa Moscheen überhaupt gebaut werden dürfen. In Deutschland wird dies sogar von Politikern unterstützt, die persönlich nicht gerade als besonders religionszugewandt hervortreten und die Parteien angehören, denen man beim besten Willen keine allzu große Nähe zu Rom oder zur evangelischen Kirche nachsagen kann. In Saudi-Arabien dürfen hingegen keine Kirchen gebaut werden, und das Praktizieren der christlichen Religion in der Öffentlichkeit ist verboten. Sorgen wir auch durch eine nationalen Eigeninteressen verpflichtete Einwanderungspolitik dafür, daß nicht eines Tages in Europa nur noch Moscheen errichtet werden! Wir dürfen uns nicht länger ängstlich hinter einem falschen Begriff von Toleranz verbergen, der nur auf die Meinung, den Glauben und die Interessen der anderen Rücksicht nimmt und in dessen Namen den bei uns lebenden Muslimen rechtsfreie Räume geöffnet werden, die sie dann mit islamischen Rechtsvorstellungen füllen. Die Besinnung auf die Wurzeln der großen christlichen Tradition Europas macht deutlich, warum wir diesen Kampf für uns, für unsere Kinder und Enkel ausfechten müssen, wenn wir wollen, daß auch sie noch ein religiös selbstbestimmtes Leben führen können. Prof. Dr. Thomas Bargatzky lehrt Ethnologie an der Universität Bayreuth. Foto: Skulptur in der Berliner Kirche St. Johannes Evangelist, 2006: Der Platz, den ein selbstvergessenes Christentum räumt, bleibt auf Dauer nicht unbesetzt In der JUNGEN FREIHEIT 2/07 hatte der Bamberger Philosoph Heinrich Beck Europa als „kulturelle Spannungseinheit“ beschrieben und dafür plädiert, in eine „dialogische Identität“ gegenüber dem Islam einzutreten, die es ermöglicht, dessen theozentrische Ausrichtung als Impuls für die christliche Identität Europas aufzunehmen. Heute antwortet ihm der Bayreuther Ethnologe Thomas Bargatzky, indem er darauf hinweist, daß Toleranz als unaufgebbares Grundmoment abendländischer Identität ein selbstbewußtes Christentum gerade voraussetzt. (JF)