Es ist eine besondere Auszeichnung für ein Buch, wenn es auch mehr als 20 Jahren nach seinem erstmaligen Erscheinen immer noch als Standardwerk gilt. So verhält es sich im Falle der „Höhe- und Wendepunkte deutscher Militärgeschichte“ des Historikers und ehemaligen Generalleutnants Franz Uhle-Wettlers, die nunmehr in ihrer dritten, überarbeiteten und erweiterten Fassung vorliegen. Der Autor schildert in seinem „Klassiker“ anhand von neun ausgewählten Schlachten der vergangenen 250 Jahre Charakteristika der deutschen Militärgeschichte – und bürstet dabei manches heute verbreitete Geschichtsbild gehörig gegen den Strich. Der Befund, daß sich bislang kaum ein anderer deutscher Autor gleichrangig mit dem Thema beschäftigt hat, sagt zum einen viel über den Umgang mit der deutschen Militärgeschichte hierzulande aus, zum anderen aber auch über Qualität und Charakter des vorliegenden Bandes. Daß die Militärgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg von deutschen Historikern nur mit spitzen Fingern angefaßt wird und im Gegensatz etwa zu den Vereinigten Staaten oder Großbritannien nur ein Schattendasein führt, ist häufig beklagt worden. Gilt es, ein differenziertes und vorurteilsfreies Bild der deutschen Militärgeschichte zu zeichnen, muß – wie in diesem Band – vor allem auf ausländische Historiker zurückgegriffen werden. Mit der distanzierten Behandlung militärischer Geschichte in Deutschland ging, wie Uhle-Wettler anhand der amtlichen Geschichtsschreibung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundeswehr zum Zweiten Weltkrieg zeigt, eine bewußte Abkehr von der eigentlichen Operationsgeschichte einher, also von dem, was ganz konkret auf dem Schlachtfeld vorging, oder um es kurz zu sagen: wann Friedrich der Große in einer Schlacht welches Regiment warum zum Angriff befohlen hat. Statt dessen rückten soziologische, wirtschaftliche und politische Gesichtspunkte in den Vordergrund. Das eigentliche Geschehen auf dem Schlachtfeld, das in der Tat ohne Kenntnis der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse der jeweiligen Zeit nicht gänzlich zu verstehen ist, aber für die Gesamtschau dennoch unverzichtbar bleibt, geriet dabei zu einem – nach Meinung vieler deutschen Historiker – eher vernachlässigbaren Phänomen. Anders in dem Buch von Uhle-Wettler, der bewußt die Operationsgeschichte in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt. Er zeigt, daß sich auf dem Schlachtfeld ebenso Entwicklungen erkennen lassen, die hier wenn nicht ihren Ausgang nehmen, so doch als erstes ihre Wirkung zeigen, später aber auch abseits der eigentlichen Kampfhandlungen Bedeutung erlangen. Dieses macht er etwa an dem Beispiel der Kanonade von Valmy von 1792 deutlich, bei der erstmals Soldaten des revolutionären Frankreichs den Truppen der europäischen Monarchien standhielten. Uhle-Wettler sieht in dieser Schlacht, die den Beginn der Volksbewaffnung markiert, den Wendepunkt von einem in der damaligen Zeit relativ eingehegten Interessenkonflikt zwischen Staaten hin zu einem durch die Mobilisierung der Massen und die damit einhergehende Entgrenzung der Auseinandersetzung charakterisierten Existenzkampf. Dieser mündet in eine Rebarbarisierung des Krieges, wie sie für die beiden großen Kriege des 20. Jahrhunderts bestimmend wird, in denen dann „sogar die Erde des Feindstaates“ (Uhle-Wettler) als verschmutzt gilt. Auf deutscher Seite ist diese Entwicklung untrennbar mit der britischen Hungerblockade gegen die Zivilbevölkerung im Ersten und dem alliierten Bombenterror im Zweiten Weltkrieg verbunden. Neben der Kanonade von Valmy sind mit den Schlachten von Leuthen (1757), Bell Alliance/Waterloo (1815), Mars la Tour (1870), Tannenberg (1914), dem Westfeldzug von 1940, dem Kampf um Kreta (1941) sowie der Schlacht um Stalingrad (1942/43) – ergänzt um die Erkenntnisse der neueren Literatur – jene Schlachten vertreten, die bereits in der ersten beziehungsweise zweiten Auflage enthalten waren. Neu ist ein Kapitel über die Skagerrak-Schlacht. Uhle-Wettler bleibt auch bei der Schilderung dieser größten Seeschlacht des Ersten Weltkrieges seiner Linie treu und schildert detailliert und verständlich den Ablauf der Auseinandersetzung und die Entscheidungen der Flottenführer während des Aufeinandertreffens der deutschen und der britischen Schlachtflotte im Jahr 1916. Diese Schilderung bildet für den Autor den Hintergrund für eine dezidierte Auseinandersetzung mit der Flottenpolitik der Vorkriegszeit und dem Ausbau der deutschen Flotte zur nach der britischen Royal Navy zweitstärksten Seestreitmacht der Welt. Er bestreitet gut begründet die immer wieder gerade auch von deutschen Historikern behauptete „existentielle Bedrohung“ Großbritanniens durch die Flottenrüstung des Kaiserreiches und den daraus resultierenden Vorwurf, durch den Ausbau der Flotte sei das gute Verhältnis zum Königreich zerstört worden und Deutschland somit letztlich in die verhängnisvolle Umklammerung geraten, die schließlich 1918 die Niederlage herbeigeführt habe. Ein Schlaglicht darauf, wie Deutschland mit seiner Vergangenheit umgeht, wirft die Behandlung der Protagonisten der Schlacht. Während die Briten ihre Flottenführer, deren Büsten noch heute am Trafalgar Square in London stehen, nach dem Krieg gebührend ehrten, sind die Namen Scheer, Hipper oder Tirpitz aus dem Gedächtnis der Deutschen fast gänzlich verschwunden. Überhaupt sind es diese vermeintlichen Geschichten am Rande, Anekdoten mitunter, die Uhle-Wettler in seine Darstellung einfließen läßt, in denen häufig wie in einem Brennglas Zusammenhänge und Entwicklungen hervortreten. Wem die gängigen und heutzutage kaum noch hinterfragten Stichworte wie „preußischer Militarismus“ oder die deutsche Kriegsschuld am Ersten Weltkrieg zu pauschal erscheinen und wer dahinter differenzierte Wahrheiten vermutet, der kann nach wie vor an diesem anregenden Werk nicht vorbeigehen: Hier wirft ein ranghoher pensionierter deutscher Offizier mit unverkennbarer Sympathien und Respekt für die Leistungen derjenigen, die vor ihm den Rock einer deutschen Armee trugen, einen kenntnisreichen Blick auf die deutsche Militärgeschichte. Franz Uhle-Wettler: Höhe- und Wendepunkte deutscher Militärgeschichte. Von Leuthen bis Stalingrad. Ares Verlag, Graz 2006, gebunden, 416 Seiten, 19,90 Euro Foto: Preußische Kavallerie 1870 in der Schlacht von Mars la Tour : Differenziertes Bild geboten
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