Menschen, die gegenüber anderen den Vorwurf des Populismus erheben, hängen zumeist einem Wertesystem an, für das sie einen absoluten Geltungsanspruch behaupten. Das strukturelle politische Problem liegt für sie – die sich selbst als Elite von Weisen begreifen – darin, daß sie der Masse die Einsicht in die Vollkommenheit ihres Wertesystems nicht zutrauen. Deshalb sei sie durch Populisten leicht – gerade auch zu ihrem eigenen Schaden – verführbar. Sie halten sich deshalb für berechtigt, das demokratische Verfahren als den Willen des Volkes zur Geltung bringenden Entscheidungsmechanismus außer Kraft zu setzen, wenn es Politiker und Parteien an die Schalthebel der politischen Macht zu bringen droht, die ihre eigenen höheren moralischen Überzeugungen nicht teilen. Im Laufe der Zeit durchlief die Auffassung vom Wesen der Demokratie in den westlichen Ländern insofern eine Metamorphose, als das Entscheidungsprinzip zunehmend zugunsten eines Kulturprinzips zurücktrat. In der politischen Auseinandersetzung wird der Populismus-Vorwurf von den verschiedenen politischen Lagern dazu verwandt, um politische Gegner aus dem Kreis der intellektuell Aufgeklärten und moralisch Integren auszugrenzen und zu ächten. Dies ist der Grund dafür, daß mit diesem Begriff ganz unterschiedliche Vorwürfe verbunden sind. Stets verknüpft mit dem Populismus-Vorwurf ist die Behauptung, daß sich der politische – häufig mit charismatischen Eigenschaften ausgestattete – Gegner demagogischer Mittel bediene, um die nur beschränkt einsichtsfähigen Massen zu verführen und auf einen Weg zu lenken, der der Gesellschaft Schaden bringe und das Gemeinwesen bedrohe. Der Populist steht ganz generell unter dem Verdacht, sein Ansehen entweder durch demagogische Techniken erschlichen zu haben oder einer ressentimentgeladenen Gefühlsaufwallung des Volkes zu verdanken. Welche weiteren Vorwürfe mit dem Begriff verbunden sind, hängt von der jeweiligen inhaltlichen Position der politischen Gegner ab. Dies läßt verstehen, warum der zur Ächtung des politischen Gegners verwandte Populismus-Vorwurf im einzelnen ganz unterschiedliche Ausprägungen und im ganzen ein schillerndes Antlitz hat. Gleichwohl lassen sich generell der Vorwurf des Linkspopulismus und des Rechtspopulismus – die an ihren Berührungspunkten ineinanderfließen und eine verschwommene Übergangszone haben – als unterschiedliche Ausprägungen des Populismus-Vorwurfs unterscheiden. Das Gesetz vom Kreislauf der Eliten und der Ewigen Oligarchie (Vilfredo Pareto) erfährt in jüngerer Zeit insofern eine Bestätigung, als sich das intellektuelle Format und die charakterliche Integrität der Mitglieder der Politischen Klasse immer mehr zurückgebildet haben. Die unzureichende Qualifikation der Politiker, die mit der Herausbildung der Parteiendemokratie und dem Aufkommen reiner Berufspolitiker einherging, hat ihre Ursache nicht zuletzt darin, daß die Fähigkeiten, die für den politischen Aufstieg in einer Partei heute benötigt werden, nicht unbedingt identisch sind mit den Fähigkeiten, die den (liberalen) Staatsmann auszeichnen. Eigenschaften, die
den Politiker in einer Demokratie nach oben bringen, sind in der Regel weniger ein scharfer Verstand und persönliche Integrität als die Fähigkeit, sich innerhalb der eigenen Partei durch die richtigen Verhaltensweisen durchzusetzen. Die knappen Eigenschaften, die den Politiker in einer Parteien-Demokratie nach oben bringen, sind in der Regel weniger ein scharfer Verstand, Entscheidungsfreude und Tatkraft oder persönliche Integrität als die Fähigkeit, sich innerhalb der eigenen Partei durch die richtigen Verhaltensweisen durchzusetzen und in den Augen der Öffentlichkeit durch permanente Eigenwerbung ein positives Bild von sich entstehen zu lassen. Zu den richtigen Verhaltensweisen innerhalb der eigenen Partei gehört es, daß der Politiker die Langeweile ertragen kann, der er nur allzuoft auf den Sitzungen der verschiedenartigen Parteigremien mit ihren umständlichen und langatmigen Ausführungen ausgesetzt ist. Im Umgang mit Parteifreunden sind auf allen Ebenen und in allen Richtungen Selbstverleugnung, Unterwerfungsgesten und Anbiederung nützliche Verhaltensweisen für das eigene Fortkommen. Im Umgang mit der Öffentlichkeit ist es häufig erforderlich, daß der Politiker seine eigene Meinung – zumal dann, wenn sie Substanz hat – für sich behalten kann und einen offenen Meinungswechsel nach Möglichkeit erst dann vornimmt, wenn dies der Zeitgeist zuläßt. Zugleich muß der Politiker imstande sein, aus dem Stegreif zu allen Fragen und Problemen mit nichtssagenden Redensarten überzeugend Stellung zu beziehen. Für einen erfolgreichen Politiker ist es in der Parteien-Demokratie nahezu unumgänglich, sich selbst in der Öffentlichkeit unentwegt zu loben und den politischen Gegner herabzusetzen. Es kommt sicherlich nicht von ungefähr, daß in der heutigen Zeit in der politischen Auseinandersetzung der Vorwurf des Rechtspopulismus sehr viel häufiger und auch sehr viel anklägerischer erhoben wird als der Vorwurf des Linkspopulismus. Der tiefere Grund hierfür ist, daß die Politische Klasse in Deutschland und anderen europäischen Ländern eine im Kern linke – mit einem teleologischen Geschichtsverständnis verknüpfte – Position vertritt. Da ist es nur natürlich, daß die wirkliche und nur schwer kooptierbare Außenseiter-Konkurrenz – vom Standpunkt der Politischen Klasse aus gesehen – eher auf der rechten Seite zu finden ist. Somit wird auch verständlich, warum heute die politische Rechte, die früher als herrschende politische Kraft die politische Linke wegen ihrer egalitären und institutionenfeindlichen Einstellung des Linkspopulismus geziehen hat, heute für mehr Gleichheit sowie für die Auflösung hierarchischer Strukturen eintritt und dafür von der politischen Linken, die heute an der Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie steht, des Rechtspopulismus bezichtigt wird. So ins Licht gerückt, wird auch der „wahre“ Kern des – stets nur von der herrschenden Politischen Klasse und ihren Helfern vorgebrachten – Populismus-Vorwurfs erkennbar. Allen so bezeichneten Populisten – linker oder rechter Couleur – ist über die Zeit und deren Wechselfälle gemeinsam, daß sie sich gegen die jeweilige Politische Klasse und die zur Beherrschung der Massen geschaffenen Institutionen wenden. Und es stützt das Gesetz vom Kreislauf der Eliten und der Ewigen Oligarchie, daß in den Fällen, in denen Populisten die Politische Klasse von der Macht vertrieben haben, keineswegs jene egalitäre hierarchielose Gesellschaft entstanden ist, die sie den – sie tragenden – Massen versprochen hatten. Vor dem Hintergrund der bestehenden (Macht-)Verhältnisse erklärt sich auch, warum in der heutigen Zeit die Helfer der Politischen Klasse sich nur sehr wenig mit der Figur des Linkspopulisten beschäftigen und ihre Kraft und ihre Zeit nahezu ganz auf die – häufig in beschimpfendem oder gar gehässigem Ton gehaltene – Beschreibung des Rechtspopulisten verwenden. Mit dem – von ihnen nur wenig beachteten – Linkspopulisten fühlen sie sich zumeist weltanschaulich mehr oder weniger eng verwandt. Ihrem Eifer und ihrer Beflissenheit mag zuzuschreiben sein, daß das von den Porträtisten des Rechtspopulisten gezeichnete Bild insofern nicht selten etwas danebengerät, als es ihnen nicht gelingt, die ihrem Werk immanenten Widersprüche auf eine kunstvolle Weise zu verdecken. So stellen sie gewöhnlich als hervorstechende Merkmale des Rechtspopulisten seine Prinzipienlosigkeit und seinen den Stimmungsläufen der Zeit folgenden Opportunismus heraus. Zugleich sagen sie ihm aber auch nach, daß er seine dumpfen – dem Bauch entsprungenen und nicht im Kopf entstandenen – Ziele mit einer sich jedem rationalen Argument verweigernden Besessenheit verfolge, die das Böse in ihm aufscheinen lasse. Etwas durchsichtig ist auch die Methode, mit der die publizistischen Gewährsleute der Politischen Klasse versuchen, den Menschen im Lande eine Orientierungshilfe zur Aufspürung rechtspopulistischen Gedankenguts und zur Identifizierung seiner Verworfenheit an die Hand zu geben. In einem Zirkelschluß führen sie zunächst die politischen Ziele ihrer Gegner an und heften ihnen in einem A-priori-Urteil mit der Begründung, daß sie im Widerspruch zum überweltlichen göttlichen Willen oder wenigstens doch zur innerweltlichen Vernunft stünden, das Kainsmal des Bösen und der Verderbtheit an. Danach fassen sie die von ihnen bekämpften politischen Bewegungen ins Auge. Enthalten deren Programme und programmatische Äußerungen die zum Beurteilungskriterium erhobenen Zielsetzungen, so ist für die Anwender dieser Methode der Nachweis erbracht, daß man es mit einer populistischen Bewegung zu tun hat und diese eine schlimme – Vernunft und Moral mißachtende – Erscheinung sei. Was den Rechtspopulismus anlangt, so gelten als programmatische Kriterien zu seiner Identifizierung und Entlarvung vor allem sein Widerstand gegen den im Maastrichter und Amsterdamer Vertragswerk eingeschlagenen europapolitischen Kurs zur Überwindung des Nationalstaats hin zu einem supranationalen europäischen Staat sowie sein Bemühen, die Zuwanderung von Ausländern einzudämmen. Es bedarf keiner besonderen analytischen Fähigkeiten, um zu erkennen, daß hier die eigentliche politische Frontlinie zwischen der heute in Europa herrschenden Politischen Klasse und ihren populistischen Herausforderern liegt. Im Zuge der Metamorphose von einem Entscheidungs- zu einem Kulturprinzip nimmt die Demokratie immer mehr Züge einer auf das Diesseits gerichteten Religion an. Darin liegt auch begründet, daß sie einen absoluten Wahrheits- und Geltungsanspruch erhebt. In diesem Ringen, in dem es den Herausforderern um den Erhalt des Nationalstaats und die Wahrung der Interessen seiner Bevölkerung geht, dient den Herrschenden, die die entgegengesetzten Ziele verfolgen, der Populismus-Begriff als Kampfvokabel, um den politischen Gegner zu diffamieren und hassenswert zu machen. In Deutschland, aber auch anderen europäischen Ländern waren und sind zahlreiche Politologen, Soziologen und andere Gesellschaftswissenschaftler mit der Umschmiedung des – ehemals wertneutralen – Populismus-Begriffs zu einer politischen Kampfvokabel beschäftigt, mit der sich der politische Gegner verächtlich machen, herabsetzen und an den Pranger stellen läßt. Im Zuge der Metamorphose von einem Entscheidungs- zu einem Kulturprinzip nimmt die Demokratie immer mehr Züge einer auf das Diesseits gerichteten Religion an. Es ist in dem teleologisch-chiliastischen Geschichtsverständnis der heutigen Politischen Klasse und dem damit verbundenen Fortschrittsglauben begründet, daß ihre Botschaft einen universalistisch-egalitären Inhalt hat. In ihrem Wesen als universalistisch-egalitäre Religion ist wiederum begründet, daß sie für ihre Lehre einen absoluten Wahrheits- und Geltungsanspruch erhebt. In diesem Anspruch ist auch begründet, daß sie in der Ausprägung als universalistisches Kulturprinzip jeder anderen Herrschaftsform das Existenzrecht abspricht. So verwandelt stellt die Demokratie am Ende nicht nur eine der gesamten Menschheit das irdische Glück versprechende Religion, sondern auch eine Ideologie dar, mit der die Politische Klasse ihre Herrschaft gegen ihre Herausforderer verteidigen kann. In der Ausprägung der Demokratie als glückverheißender Religion und herrschaftssichernder Ideologie tritt ihr heutiges weltanschauliches Doppelantlitz unübersehbar zu Tage. Als universal-egalitäre, das irdische Glück verheißende Religion trägt sie das Antlitz der – auf Beseitigung aller Unterschiede gerichteten – Ewigen Linken (Ernst Nolte). Als herrschaftssichernde, die hierarchischen Strukturen sichernde Ideologie trägt sie das Antlitz der – auf Wahrung der Unterschiede gerichteten – Ewigen Rechten. Vor diesem Hintergrund erscheinen die populistischen Herausforderer der Politischen Klasse gleichsam als deren Spiegelbild, auch wenn ihre rechtspopulistische Spielart gewöhnlich keine auf die ganze Menschheit bezogene Politik betreiben will. Doch trägt auch der Rechtspopulismus insoweit Züge der Ewigen Linken, als er in seinem Ringen mit der Politischen Klasse auf der Geltung der Demokratie als Entscheidungsprinzip beharrt. Züge der Ewigen Rechten haften dem Populismus insofern an, als in den Fällen, in denen es ihm gelang, die Politische Klasse zu vertreiben, keineswegs eine herrschaftsfreie hierarchielose Gesellschaft entstanden ist. Daß sich an der hierarchischen Struktur der Gesellschaft im Zuge des Elitenwechsels im Kern nichts ändert, bedeutet natürlich nicht, daß auch sonst alles beim alten bliebe. Prof. Dr. Horst Rodemer lehrte Wirtschaftsingenieurwesen, Staatsphilosophie und Ethik an der Hochschule Offenburg. Tunnelblick: In der politischen Auseinandersetzung wird der Populismus-Vorwurf dazu verwandt, um politische Gegner aus dem Kreis der Aufgeklärten und Integren auszugrenzen