Die moderne Türkei ist ein Produkt Mustafa Kemal Atatürks. Er hatte 1922/23 mit militärischen Siegen die Unabhängigkeit der Türkei errungen und entwickelte sich im Anschluß daran als „Vater der Türken“ zu mehr als einem Volkshelden. Bis heute wird die Türkei durch ein Meer von Statuen, Büsten und Portraits des Staatsgründers geprägt. Atatürk hatte in der Türkei mit rigorosen Mitteln die Modernisierung eingeleitet, brach mittels revolutionärer Reformen mit den Traditionen des Osmanischen Reiches und richtete den Blick gen Westen. Doch all die Modernisierungsschübe fanden in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts statt. Mehr als siebzig Jahre sind seitdem vergangen und diverse Politikergenerationen versuchten mit den sechs Prinzipien des Kemalismus: Nationalismus, Laizismus, Modernismus, Republikanismus, Populismus und Etatismus Staat zu machen. Gelang dies nicht, stand als Hüter des kemalistischen Erbes die türkische Armee Gewehr bei Fuß. Sie galt und gilt auch noch heute als „Staat im Staate“ und griff, wann immer sie Atatürks Grundideen in Gefahr sah, in die Politik ein. Sah man, wie in den Jahren 1960 und vor allem im Jahr 1980 Gefahr im Verzug, putschten sich die Generäle an die Macht und sorgten für ihre Art von Stabilität. Parallel dazu wurde die Regierung Süleyman Demirels 1971 zum Rücktritt gezwungen und im Jahr 1997 die – demokratisch gewählte – islamistische Regierung von Necmettin Erbakan zum Rücktritt gedrängt. Dieser Schritt war der Höhe- und Scheitelpunkt zugleich. Denn er sorgte nicht nur für die Einhaltung des Laizismus, er „hinterließ bei vielen Türken das unbehagliche Gefühl, daß sich die Armee nicht länger nur gegen die radikalen Islamisten, sondern gegen den einfachen frommen Muslim richte,“ so das Fazit von Ersel Aydinli (Assistenzprofessor an der George Washington Universität in Washington), Nihat Ali Özcan (Major a.D. in der türkischen Armee) und Dogan Akyaz (Major der türkischen Armee) in der aktuellen Ausgabe der US-Fachzeitschrift Foreign Affairs („The Turkish Military’s March Toward Europe“). Kurdischer Separatismus und islamischer Einfluß Infolge der Machtübernahme im Jahre 1980 hatten sich die türkischen Militärs mit einer derart massiven Machtfülle ausgestattet, daß sie vielerorts als hinter den Kulissen agierender politischer Akteur gesehen wurden, der nach den Grundsätzen des Kemalismus für die Einheit der Nation und den Laizismus, gegen den kurdischen Separatismus der PKK und den islamistischen Einfluß kämpfte. Vor allem im Nationalen Sicherheitsrat hatte das Militär die entscheidende Macht. Der Rat behandelte alle aktuellen innen- und außenpolitischen Themen und setzte so die Wegmarken. Offiziell hatte der Rat nur beratende Funktion. Inoffiziell kam das aber einer Weisungsbefugnis des Militärs gegenüber der Politik gleich. Was allerdings nicht immer in vollem Umfang gelang. Spannungen zwischen der Politik und den Militärs gab es immer wieder. Explizit unter der Regentschaft Turgut Özals (1983 bis 1989 Ministerpräsident; 1989 bis 1993 Staatspräsident), der unverhohlen zu einer Re-Islamisierung der Türkei beitrug und durch außenpolitische Alleingänge die Militärs in die Defensive zwang. Dessen ungeachtet hatten die Militärs nach Özals Tod den Fuß wieder etwas weiter in der Tür. Ob in der Strafgerichtsbarkeit, im Hohen Fernseh- und Rundfunkrat oder dem Hohen Bildungsrat – überall saßen sie an den Schalthebeln der Macht. Selbst der militärische Etat unterlag keiner parlamentarischen Kontrolle. Ein Umstand, der aber in Westeuropa nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes, bei dem man den militärischen Stützpfeiler Türkei benötigte, immer mehr mit Besorgnis zur Kenntnis genommen wurde. Aber hatten nicht gerade die Militärs nie einen Hehl aus ihrer pro-westlichen Haltung gemacht? So wie etwa der damalige türkische Staatspräsident und vormalige Träger des Militärputsches 1980, Kenan Evren, schon im Jahr 1988 die Linie gewiesen hatte: „Wenn die Türkei außerhalb der EG bleibt, dann würde der Schaden zu Lasten Europas gehen. Denn in diesem Falle müßte die Türkei nach Alternativen suchen.“ Doch war wohl auch schon ihm klar, daß der Einfluß der türkischen Militärs und deren politische Stoßrichtung in Richtung Einheit der türkischen Nation nicht EG-kompatibel war und ist. Ist der nach Westen ausgerichtete Kemalismus also eher ein Hemmschuh als eine Hilfe für eine Annäherung an Europa? Für die Verantwortlichen in der EU ist die Frage längst entschieden. Folgerichtig kam die Europäische Kommission in ihrer Berichterstattung über die Türkei aus dem Jahre 1998 zu folgendem Schluß: „Das Fehlen einer zivilen Kontrolle über die Armee ist beunruhigend.“ Der Druck aus der Europäischen Union stieg und als der Europäische Rat der Türkei im Dezember 1999 offiziell den Status eines Beitrittskandidaten verlieh, erklärte der damalige Generalstabschef Hüseyin Kivrikoglu einer EU-Mitgliedschaft seines Landes die volle Unterstützung. Daß er damit einer Teilentmachtung der Militär-macht das Wort redete, kam nur wenig später zum Vorschein. Zwischen 1997 und 2002 schlitterte die Türkei von einer wirtschaftlichen Krise in die nächste, so daß erste Stimmen schon wieder mit einem Eingreifen der Militärs rechneten. Doch die hatten aus der Geschichte gelernt. Was sich in erster Linie nach dem Wahlsieg von Recep Tayyip Erdogans islamischer „Fortschritts- und Entwicklungspartei – AKP“ ab November 2002 offenkundig zeigte. Zwar erklärte die Militärführung, daß man mit „höchster Wachsamkeit“ den Schutz „des säkularen Charakters des Staates“ schützen wolle. Doch der Pragmatismus überwog auf beiden Seiten. Selbst Recep Tayyip Erdogan, vormals Ziehsohn des Islamisten Erbakan, erklärte beflissen: „Ich habe mich gewandelt. Ich bin ein islamischer Demokrat“ – und machte sich auf den Weg, das Militär zu „entmachten“. In den Jahren 2003 und 2004 wurde die zivile Kontrolle über das Militär gestärkt. Die Arbeitsweise des Nationalen Sicherheitsrates wurde zu Ungunsten des militärischen Einflusses geändert, der militärische Etat der parlamentarischen Kontrolle unterstellt. Die militärischen Vertreter im Hohen Bildungsrat und Hohen Rundfunk- und Fernsehrat wurden ihrer Ämter enthoben. Der Zuständigkeitsbereich der Militärgerichte wurde eingeengt und das kemalistische Nationalismusverständnis, das die sprachlich-kulturelle Hegemonie des Türkischen als unabdinglichen Bestandteil der nationalen Einheit postulierte, wurde modifiziert. Heißt: Nach zahlreichen Anläufen wurden erstmals im staatlichen Fernsehen kurdischsprachige Sendungen ausgestrahlt. Die Militärs haben weiterhin ihren Fuß in der Tür Die Militärs ließen gewähren und die EU zeigte sich daraufhin erst einmal zufrieden und erklärte: „Die Regierung hat ihre Kontrolle über das Militär zunehmend behauptet. Obwohl der Prozeß der Angleichung der Beziehungen zwischen Zivilsphäre und Militär an die Praxis der EU im Gange ist, üben die Streitkräfte in der Türkei immer noch durch eine Reihe informeller Kanäle Einfluß aus.“ Dennoch beschloß man am 3. Oktober 2005, mit der Aufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu beginnen. Die Führung der türkischen Streikräfte hat also weiterhin ihren Fuß in der Tür. Und der Kampf um die kemalistischen Werte wird gerade im Zuge der Verhandlungen EU-Türkei noch an Brisanz zunehmen. Ob in der Zypern-, in der Armenien- oder der Kurdenfrage, auf vielen Gebieten gibt es erheblichen Klärungsbedarf, der an die staatliche Substanz geht und zudem ein offenes Ende hat. Wenn es dann noch um die absolute Unteilbarkeit des Landes geht, spricht ein Großteil der Türken mit einer europäischen Standards widersprechenden „kemalistischen“ Zunge. Nachdem die türkischen Militärs in den letzten Jahren so manche Kröte schlucken mußten, indem sie zurücksteckten, blicken sie nun, aus einer Position der wiedergewonnen Stärke heraus, vorwärts. Zum einen wissen sie sich des überaus breiten Rückhalts in der türkischen Bevölkerung sicher. Zum anderen sehen sie sich ganz in der Tradition als politikferner Sachwalter innen- und außenpolitischer türkischer Interessen. Kein Wunder also, daß der türkische Generalstabschef Hilmi Özkök im November 2005 erklärte, daß die Türkei den EU-Beitritt nicht um jeden Preis anstreben solle: Weitere Zugeständnisse gegenüber den Kurden oder in der Armenien- und Zypernfrage seien der Türkei nicht zuzumuten. Doch die innenpolitischen Scharmützel um den Fortgang der Beitrittsangelegenheiten haben erst begonnen. Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stehen vor der Tür und der noch längst nicht entschiedene Kampf zwischen den „Kemalisten“ und der „demokratisch“-islamischen AKP-Bewegung um Erdogan geht in die nächsten Runden. Im Hintergrund stehen die Militärs. Diesmal in der selbstgewählten Funktion eines Kapitäns, der die Türkei in schweren Wassern ans vorgegebene Europa-Ziel zu steuern sucht. Die Autoren Aydinli, Özcan und Akyaz erklären dies so: „Ähnlich wie Kapitäne, die einen Öltanker in einem neuen Hafen einzudocken versuchen, sehen die obersten türkischen Generäle sich gezwungen, die Reformen mit Strategien zu steuern, die sie im Laufe der Jahre entwickelt haben. Verständlicherweise werden sie ihre erprobten Methoden erst aufgeben, wenn sie Vertrauen haben, daß die Anlegesysteme im Hafen – die Institutionen, die Politik und letztendlich die Versprechen der EU – den Tanker am Sinken zu hindern.“ Feier zum 66. Todestag Mustafa Kemals vor dem Atatürk-Mausoleum in Ankara (2004): Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan (mit Sonnenbrille) inmitten der Elite der türkischen Streitkräfte Stichwort: Türkische Armee Die türkische Armee hatte im Jahr 2003 eine Personalstärke von 523.000 Mann (vgl. Deutschland 284.000). An der Spitze stehen im Generalstab die aktiven Vier-Sterne-Generäle, deren Sprecher ist der Generalstabschef. Als „Staat im Staate“ ist die Armee auch Teil des Wirtschaftssystems. Durch den „Unterstützungsfonds für die Armee“ und die „Stiftung für die Stärkung der türkischen Streitkräfte“ hält das Militär Beteiligungen an vielen Unternehmen unterschiedlichster Gewerbe- und Industrieunternehmen. In der Türkei besteht die allgemeine Wehrpflicht. Deren Dauer wurde im vergangenen Jahr von 18 auf 15 Monate verkürzt. Für Türken, die im Ausland leben, besteht die Möglichkeit, den Wehrdienst durch Zahlung von rund 5.000 Euro auf einen Monat zu verkürzen. Ein Ersatzdienst für Wehrdienstverweigerer existiert nicht.