In der arabischen Publizistik wird zur Zeit gewaltig des sechshundertsten Todestags von Ibn Khaldun (1332 -1406) gedacht. Ibn Khaldun, geboren in Tunis, war ein vielgewandter, im ganzen Maghreb hochberühmter Politiker, Diplomat und Gelehrter, von dem viele eng beschriebene Gazellenhäute erhalten sind und dem man demzufolge viele wichtige Auskünfte über das mittelalterliche Morgenland verdankt. Gefeiert wird er jetzt von seinen Glaubensbrüdern vor allem als "Begründer der Soziologie", was westliche Beobachter sehr erstaunt.
Soziologie? Ist das nicht ein ganz und gar modernes und zudem exklusiv abendländisches Fach? Heißen seine Urväter nicht Niccolò Machiavelli, Charles-Louis de Montesquieu, Auguste Comte, Max Weber? Aber die ägyptischen, respektive saudischen Gedenkartikel belehren uns, daß alle diese Koryphäen einen erlauchten Vorgänger hatten, eben Ibn Khaldun. Von ihm gibt es ein Werk, "al-Muqaddima", das allen abendländischen Proto-Soziologen, so lesen wir, als Vorbild gedient habe.
Wer die Behauptung nachprüfen will, kann nötigenfalls zur englischen Ausgabe von al-Muqaddima greifen: "An Introduction to History", London 2003. Er findet darin einen Ton und Perspektiven, die wiederum erstaunen und einen vor Ibn Khaldun zumindest den Hut ziehen lassen. Hier schreibt, so registriert man schnell, zwar ein gläubiger Moslem, aber auch ein scharfsichtiger, letztlich völlig kaltblütiger Wissenschaftler, dessen Bestreben nach gut soziologischer Manier einzig auf die Herausarbeitung "objektiver", sich rein aus der Sache ergebender "sozialer Gesetzmäßigkeiten" gerichtet ist.
Sein Schlüsselbegriff heißt "asabiya", was bei ihm soviel wie Gemeinsinn und Stammesloyalität bedeutet. In der Asabiya sieht Ibn Khaldun die Voraussetzung jeglichen menschlichen Zusammenhalts – doch auch jeglicher Dekadenz und jeglicher sozialer Deformation. Nur wo die Asabiya tief im Bewußtsein des einzelnen verankert ist, schreibt er, kann Kultur entstehen, Sicherheit, Aufbau, Arbeitserleichterung mittels Technik, nicht zuletzt Luxus, Poesie, Bequemlichkeit, Lebensgenuß.
Aber indem die Asabiya alles das herbeischafft: Sicherheit, Kultur und Bequemlichkeit, schafft sie auch die Voraussetzung für den Untergang dieser schönen Dinge – und für den Untergang ihrer selbst. Der Mensch wird ziemlich schnell allzu bequem, und er verliert dabei jeglichen Gemeinsinn und jegliche Stammessolidarität. Er entartet zum jämmerlichen Egoisten, der sich nur noch um sich selbst und den Fortbestand seines Harems kümmert. Das soziale Desaster und das Fortgespültwerden durch eindringende, "unverbrauchte", voll mit Asabiya erfüllte Nomadenstämme sind ihm sicher.
Das Drama der Geschichte besteht für Ibn Khaldun also in einer Dialektik zwischen Nomadentum und Städtertum. Symbolstätten des unheilvollen Umschlags der Asabiya sind für ihn die großen, prächtigen Metropolen seiner Zeit und seines Kulturkreises, Cordoba, Kairo, Damaskus, mit ihren eminenten Möglichkeiten, die Zeit "totzuschlagen" und sich dabei hoffnungslos zu vereinzeln. Doch es geht ihm keineswegs nur, nicht einmal in erster Linie um aktuelle Kulturkritik. Oberstes Anliegen ist für ihn – und das läßt ihn nun tatsächlich ungemein modern und genuin "soziologisch" erscheinen – eine Analyse der menschlichen Sozialstruktur insgesamt, wie sie sich in allen Weltgegenden mit Variationen darbietet.
Hundert Jahre vor Machiavelli, der dann ähnliches Garn spann, zieht Ibn Khaldun auch schon politologische Ratschläge aus seinen soziologischen Befunden. Kluge Herrscher, meint er, müssen dafür sorgen, daß ihre Untertanen zufrieden sind und bei Laune bleiben; sie müssen indessen auch dafür sorgen, daß es diesen Untertanen nicht "zu gut" geht, d.h. daß sie nicht vor lauter Wohlgefühl übermütig werden und über die Stränge schlagen. Es komme für ein Gemeinwesen entscheidend darauf an, die Erinnerung an die harte Nomadenzeit wachzuhalten und daraus moralische Normen abzuleiten.
Nicht zuletzt die Festigkeit im religiösen Glauben – auch das steht bei Ibn Khaldun – speist sich aus der Erinnerung an die Nomadenzeit. Der wahre Gott ist ein Gott der Wüste. Er hat die Menschen einst ausdrücklich des grün-saftigen Paradieses verwiesen, denn sie waren seiner noch nicht würdig. So haben sie ihren Erdengang in Knappheit und Zucht zu absolvieren, und dessen müssen sie auch in den reichen Städten stets eingedenk bleiben. Wir sind, wo immer wir auch leben, Nomaden auf Erden, unruhige Wanderer, und jede Neigung, irgendwo allzu dauerhaft Wurzeln zu schlagen, führt letzten Endes ins Verhängnis.
Eine starke Lehre zweifellos, und sie ist wie gesagt nicht von vorgegebenen transzendenten Glaubenssätzen abgeleitet, sondern wird unmittelbar und sorgfältig aus empirischen Beobachtungen heraus entwickelt. Der Umstand, daß in diesen Tagen ausgerechnet in saudischen Medien und solchen aus Qatar und anderen Öl-Emiraten so begeistert über Ibn Khaldun berichtet wird, läßt einen die sozialkritische Absicht dieser Art Erinnerungskultur erkennen. Die im Superreichtum mittlerweile schier erstickenden Prinzen und Hofschranzen, so lautet die Botschaft, stiften Unheil, wenn sie sich weiter so besinnungslos wie bisher ihren protzigen neu-städtischen Riesenbauten und ihrer aus aller Herren Ländern zusammengeholten Angeberkultur hingeben. Die ganze Pracht bleibt auf Sand gebaut.
Für uns im Westen hält das arabische Ibn-Khaldun-Jahr ebenfalls einige Lehren bereit. Erstens: Gute Wissenschaft kommt nicht nur im Abendland vor, und ihre Wurzeln reichen in weite Fernen. Zweitens: Gemeinsinn und Stammessolidarität sind wirklich wichtige, grundlegende Antriebe jeglichen gediegenen Zusammenlebens. Wer sie in den Wind schreibt, wird weggespült. Drittens: Ein ewiges Haus gibt es hinnieden nicht, wir bleiben auf der Wanderschaft. Man muß nicht inbedingt ein Nomade werden, um das einzusehen.