Deutschland hat sich wie kein anderes Land der Globalisierung hingegeben, die Globalisierung erscheint fast wie ein Naturgesetz, und der Neoliberalismus wird nicht müde, die Vorteile des globalisierten Laisser-faire und Laisser-aller zu rühmen und zu preisen. Die betriebswirtschaftliche Perspektive der „global players“ wird dabei universalisiert, und die Schattenseiten der völligen ökonomischen Öffnung des Landes wie Kapitalexport, Arbeitsplatzverlagerung, Ausverkauf der deutschen Wirtschaft, Zuwanderung von Billigarbeitern werden als Interimsprobleme abgetan und relativiert. Eine Folge dieser bedingungslosen Öffnung ist die Tatsache, daß Deutschland wie kein anderes Land ökonomisch zurückgefallen ist: Sein Anteil am Bruttosozialprodukt der EU ist von über 35 Prozent auf 28 Prozent zurückgegangen, sein Pro-Kopf-Einkommen vom ersten auf den drittletzten Platz der zwölf Euro-Länder abgesunken. Nach Wilhelm Hankel hat man Deutschland im Rahmen der EU-Politik seiner wirtschaftspolitischen Gestaltungselemente beraubt, die es erlauben, eine den Verhältnissen des Landes angepaßte Wirtschaftspolitik auszuüben. „Die Disposition über seinen eigenen Wirtschafts- und Währungsraum ist ihm weitgehend entzogen worden. Es gibt weder nationale Wechselkurse noch Zinssätze; erstere sind abgeschafft, letztere europäisch vereinheitlicht. Zudem schreiben die Maastricht-Kriterien allen EU-Ländern einen stabilitätsgerechten Haushalt vor. Gerade diese Vorschrift kommt für Deutschland der de-facto-Amtsenthebung der jeweiligen Regierung gleich. Denn jetzt werden die Spielräume staatlicher Aktivität im Inland nicht mehr von den beträchtlichen Leistungsbilanzüberschüssen der deutschen Volkswirtschaft vorgegeben, sondern vom von der EU genehmigten nationalen Budgetsaldo.“ Auch Alfred Mechtersheimer kommt in seinem „Handbuch Deutsche Wirtschaft“ zu dem Schluß, daß Deutschland in wirtschaftspolitischer Hinsicht als Folge eines Kompromisses mit den Siegermächten zur Ermöglichung der Wiedervereinigung „auf die Attribute eines souveränen Staates verzichtet hat“. Mit seiner nationalen Währung hat Deutschland einen Schlüssel zur eigenen Wirtschaftspolitik verloren. Grundlage des Globalismus ist das neoliberale Credo von Adam Smith und David Ricardo, daß durch Freihandel und freien Kapitalverkehr eine win-win-Situation für alle Beteiligten eintritt. Die Realität zeigt indes, daß Länder mit hohen Lohnkosten, entwickelter Infrastruktur und ausgebauten sozialen Sicherungssystemen mehr Nachteile als Vorteile einfahren, weil durch die neue Mobilität des Kapitals in einer globalisierten Ökonomie kostengünstige Standorte bevorzugt werden. Entwickelte Volkswirtschaften gehören so in weiten Bereichen zu den Verlierern dieser globalisierten Ökonomie. Unverständlich ist, warum von den politischen und ökonomischen Eliten dieser Länder trotz dieser offensichtlichen Tatsache immer noch und immer wieder das hohe Lied des Neoliberalismus gesungen wird, als ob es zu dieser Entwicklung keine Alternative gäbe. Die Alternative zum liberalen Globalismus ist eine wieder zu revitalisierende Nationalökonomie, die das Schicksal ganzer Volkswirtschaften in den Blick nimmt und sich nicht mit der Analyse von Betriebsabläufen und mikroökonomischen Kreisläufen zufriedengibt. Als Vorbild kann uns Friedrich List (1789-1846) dienen, der mit seinem Werk „Das nationale System der politischen Ökonomie“ (1841) schon damals einen Kontrapunkt zum vorherrschenden Liberalismus in der ökonomischen Theorie gesetzt hat. Friedrich List kann als einer der bedeutendsten Wirtschaftstheoretiker angesehen werden, scharf attackierte er die von den liberalen Klassikern wie Smith, Ricardo, Ferguson vertretene Werttheorie. Die später entstandene Humankapitaltheorie vorwegnehmend, vertrat er die These, daß nicht die kurzfristige Anhäufung von Kapital, sondern die Akkumulation menschlichen Vermögens als ausschlaggebend für die langfristige Entwicklung einer Volkswirtschaft anzusehen sei. Adam Smith, so List, habe zwar richtig die Arbeitsproduktivität als Ursache des Volkswohlstandes angesehen, habe es aber versäumt, diese Produktivität ihrerseits zu erklären. Nach List ist das Vermögen, „Reichtum zu schaffen, unendlich wichtiger als der Reichtum selbst“. Nach Maßgabe der klassischen Werttheorie ist jemand, „der Schweine erzieht, ein produktives, wer Menschen erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft“. Wie aktuell allein diese Einsicht ist, führt uns die demographische Entwicklung der frühen Industrieländer dramatisch vor Augen. List orientierte sich in seiner Nationalökonomie systematisch an dem Wohlergehen und der Wohlfahrt einer gegebenen, in seinem Fall der deutschen Volkswirtschaft. Freihandel, freier Kapitalverkehr, Liberalismus und Protektionismus waren für ihn situationsflexibel einsetzbare Instrumente, um die Wohlfahrt einer Volkswirtschaft zu mehren, sie waren nie – wie bei den englischen Klassikern – Werte an sich, die universelle Geltung beanspruchen können. List durchschaute die Lehre der Klassiker vom Freihandel sehr schnell. Auf dem Freihandel beruhte nach Ablauf der napoleonischen Kontinentalsperre Englands „Handelssuprematie“, da die technisch überlegene englische Industrie nur so lange ihre Waren absetzen konnte, wie sie ungehindert in die kontinentalen Märkte eindringen durfte. Wenn man ökonomisch und technisch überlegen ist, fällt es leicht, liberal zu sein. Die Lehren des Adam Smith, so List, waren keineswegs allgemeingültige (Natur‑) Gesetze des wirtschaftlichen Lebens, sondern Derivationen englischer Wirtschaftsinteressen. Adam Smith lehrte und propagierte für die Volkswirtschaft Gewerbefreiheit, für die Weltwirtschaft Freihandel. Dies führe, wie David Ricardo formulierte, zum „komparativen Kostenvorteil“ für alle Beteiligten. Für List bewirkte diese Lehre, daß nur England seine Industrie entwickeln konnte, während Deutschland auf dem besten Weg war, „eine englische Ackerbaukolonie zu werden“. Wollte Deutschland sich auch als Industrieland entwickeln, mußte es sich durch Protektionismus in Form von Schutzzöllen vor der übermächtigen Konkurrenz Englands zumindest zeitweise schützen, „weil ein Knabe im Ringkampfe mit einem erwachsenen Manne schwerlich obsiegen oder auch nur Widerstand leisten kann“. List gehörte zur „romantischen Schule“ der Ökonomie, für die die Volkswirtschaft eines Landes mehr ist als das wirtschaftliche Handeln aller einzelnen. Die Grundlagen der Volkswirtschaft liegen nach List jenseits der „Privatökonomie“. Der Privatbetrieb muß sich zunächst rentieren, er kann nicht alle Voraussetzungen seines Handelns selbst herstellen und regulieren, er sorgt auch nicht für die Wohlfahrt kommender Geschlechter, sondern höchstens für die Heranbildung seiner Lehrlinge. Nach List ist also streng zwischen den individualistischen Prämissen einer rationalen Betriebsführung und den makrosozialen Erfordernissen einer Volkswirtschaft zu unterscheiden. Wie Franz Schnabel in seiner „Deutschen Geschichte im neunzehnten Jahrhundert“ schrieb, lehrte List, „daß das ökonomische Leben nicht einfach nur eine Summe von Privatwirtschaften ist, sondern daß Staat und Gesellschaft schöpferische Macht besitzen – daß also die produktive Kraft einer ganzen Nation eine viel größere ist als die ihrer Angehörigen und daß das Leben der Nation ein in sich zusammenhängendes Ganzes darstellt“. Man möchte diese Lehren, befreit vom pathetischen Sprachstil, den jungen Betriebswirtschaftlern zur Lektüre anempfehlen, damit sie wieder lernen, daß Ökonomie mehr ist als die Umsetzung von Profitmaximierungsstrategien. List war eigentlich ein Liberaler. Deutschland empfahl er dringend die Zollvereinigung und innerhalb der Grenzen den freien Warenverkehr. Er empfand die Situation nach dem Ende der napoleonischen Kontinentalsperre als unerträglich: Während jeder einzelne deutsche Kleinstaat sich vom anderen durch hohe Zollmauern absperrte, gab es keine geschlossene Linie nach außen, so daß die Waren, die England während der Kontinentalsperre auf Lager legen mußte, zu diesem Zeitpunkt in ungeheuren Mengen nach Deutschland hereinströmten und um jeden Preis losgeschlagen wurden. Die aufkeimende Industrialisierung Deutschlands wurde gleichsam erschlagen. List empfahl zur Beendigung der ökonomischen Misere genau eine Umkehrung des vorgefundenen Zustandes: Abschaffung von Zollschranken im deutschen Binnenbereich, Ermöglichung des freien Warenverkehrs und Schaffung von Schutzzöllen im Warenverkehr nach außen. Diese Zölle nannte er auch „Erziehungszölle“, weil durch sie die eigene Industrie zur Aktivität ermuntert werden sollte. Lists Ideen stießen nicht nur auf Gegenliebe. Englands Industrie hatte in Deutschland ihre eigene Lobby und mußte die Sache des neuen Industriekapitals gegen die Freihandelsinteressen des englandfreundlichen Handelskapitals und der norddeutschen Agrarwirtschaft durchsetzen, die Angst um den Vertrieb ihrer Agrarprodukte in England hatte. Auch galt es die „Anglisierung des deutschen Denkens“ zu beseitigen, um den politischen Repräsentanten klarzumachen, daß der Freihandel nicht automatisch ein Bestandteil liberaler Politik sein muß. List zeigte auf, daß die Frage, ob Freihandel oder Schutzzoll, eine Angelegenheit der Zweckmäßigkeit war und ihre Beantwortung von der gegebenen Marktsituation abhing. Gerade als Liberaler könne man in bestimmten ökonomischen Situationen für Schutzzölle sein, ohne damit aufzuhören, ein Liberaler zu sein. Schutzzölle waren für List ein „Erziehungs“- und Entwicklungsmittel der Industrie, nie Selbstzweck. Sie konnten nur wirksam sein, solange die eigene Industrie noch schwach war, sobald sie herangewachsen war, mußte wieder Freihandel hergestellt werden, „um die Fabrikanten und Kaufleute vor Rückschritten und Nachlässigkeiten zu bewahren“, der Zoll durfte kein dauerndes inländisches Monopol gewähren. List war dabei kein Befürworter eines protektionistisch geschützten autarken „geschlossenen Handelsstaates“. Die deutsche Industrie sollte soweit entwickelt sein, daß sie in den Status des „do ut des“, des Gebens und Nehmens gegenüber den anderen Industrienationen gerät, nur so sei der komparative Kostenvorteil für die eigene Unabhängigkeit der Nation zu nutzen. Friedrich List ist so ein wichtiger Wegbereiter der historischen Schule in der Ökonomie. In der Geschichte der ökonomischen Entwicklungstheorie nimmt er einen bedeutenden Platz ein, da er als erster ein systematisches Strategiemodell einer „nachholenden“ Entwicklung formulierte, durch das vor allem die großen „nachstrebenden“ Nationen wie Deutschland, Frankreich und die USA den englischen Entwicklungsvorsprung aufholen sollten. Von List können wir heute lernen, daß wir mit den Instrumenten der Wirtschaftspolitik strategisch und zweckgebunden umzugehen haben. Anstatt die Auswirkungen der Globalisierung wie einen Schicksalsschlag untätig hinzunehmen, müssen wir prüfen, mit welchen wirtschaftspolitischen Instrumenten die Globalisierungsfolgen genutzt oder abgemildert werden können. Der Maßstab ist dabei die größtmögliche Wohlfahrt für dieses Land und seine Bevölkerung, die Rentabilität der Unternehmen nur ein Parameter unter vielen. Die Situation heute kann in vielerlei Hinsicht mit der Situation um 1830 verglichen werden. Zwar gibt es keine Schutzzölle zwischen deutschen Duodezstaaten mehr, aber die Binnenwirtschaft ist in vielerlei Hinsicht überreglementiert und überbürokratisiert, während die „Außenflanken“ unseres Wirtschaftsraumes ohne jeden Schutzmechanismus offen liegen. List würde uns einen listigen Mix von Freihandel und Protektionismus empfehlen. Kann die Massenzuwanderung von billigen Arbeitskräften richtig sein? Kann man wichtige Industriezweige dem „Heuschreckenfraß“ großer ausländischer Investorgruppen überlassen? Gibt es nicht zarte Pflänzchen innovativer Produktentwicklung, die bis zu ihrer Marktauglichkeit geschützt werden müssen? Ohne Zweifel könnte mit Gesetzen gegen den Verkauf technologisch wichtiger Industrien und Unternehmen vorgegangen werden. So hat 2004 das Bundeswirtschaftsministerium aufgrund einer Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes durchgesetzt, daß es den Verkauf von mehr als 25 Prozent eines in Deutschland ansässigen Waffenherstellers untersagen kann. Dies könnte auch für die übrige Wirtschaft Gültigkeit erlangen, verlangt aber einen souveränen Staat, der sich seiner wirtschaftspolitischen Verantwortung bewußt ist und im Listschen Sinne Nationalökonomie betreibt. Prof. Dr. Jost Bauch lehrt Soziologie an der Universität Konstanz. Foto: Joachim Beuckelaer, Auf dem Markt, Öl auf Holz (1564): Deutschland hat mit der eigenen Währung auch den Schlüssel zu einer eigenen Wirtschaftspolitik verloren