Gerade in Prag kann man abseits der populären touristischen Sehenswürdigkeiten unendlich viel entdecken. Etwa den Abstieg vom Hradschin durch die malerische Nerudagasse in das Botschaftsviertel auf der Kleinseite. Deutsche Besucher sollten dort unbedingt einen Blick von der Rückseite in den Park der deutschen Vertretung im Palais Lobkowitz werfen. Dieses ist weit und breit das repräsentativste Gebäude, welches sogar die nahegelegene US-Botschaft in den Schatten stellt, und man befindet sich zudem an geschichtsträchtiger Stelle. Genau hier standen im September 1989 Tausende DDR-Bürger, ehe sie über den Zaun auf das Botschaftsgelände kletterten, wo ihnen am 30. September Außenminister Hans-Dietrich Genscher das erlösende Ergebnis heikler Verhandlungen übermittelte: 5.000 Prag-Flüchtlinge durften in Sonderzügen über die DDR nach Westdeutschland ausreisen. Das dramatische Geschehen trug seinen Teil dazu bei, den Untergang des SED-Staates zu beschleunigen. Zur Erinnerung ist im Garten des Palais Lobkowitz ein goldlackierter Trabi aufgestellt. An diesem Ort und mehr noch auf dem berühmten Wenzelsplatz werden in diesen Wochen Bilder jenes denkwürdigen Herbstes 1989 wach. Man erinnere sich: Auch in der Tschechoslowakei hofften die Menschen im Zuge der Reformen Gorbatschows und verstärkt durch die Grenzöffnung Ungarns zu Österreich am 2. Mai 1989, die Wahl eines nicht-kommunistischen Ministerpräsidenten in Polen im August sowie die ersten machtvollen Leipziger Montagsdemos am 9. und 16. Oktober auf einen grundlegenden Wandel. Ausgelöst wurde der radikale Umbruch in dem mitteleuropäischen Land dann durch die Studenten. Der Umbruch vollzog sich in nur knapp einem Monat Diese brachten am 17. November, dem Internationalen Studententag, mit einer großen Demonstration auf dem Wenzelsplatz die „Samtene Revolution“ ins Rollen. Etwa 15.000 Teilnehmer protestierten gegen das völlig erstarrte System. Die Staatsmacht griff ein letztes Mal zum Mittel der Repression und trieb einen Teil der Demonstranten gewaltsam auseinander. Ungefähr 600 junge Leute wurden verletzt. Danach ging alles sehr schnell: Die Prager Hochschüler riefen bereits am nächsten Tag zu einem unbefristeten Streik auf, dem sich spontan die Schauspieler der Prager Bühnen anschlossen. Während die Studenten im weiteren Verlauf in den Hintergrund traten, übernahmen die sogenannten Dissidenten die Initiative, die wegen ihrer seit langem bewiesenen Unbotmäßigkeit große Autorität in der Bevölkerung genossen. Am 19. November entstand das Bürgerforum, am 27. November gab es einen landesweiten zweistündigen Generalstreik in allen Bereichen des Wirtschaftslebens, am 28. November wurde die führende Rolle der Kommunistischen Partei aus der Verfassung gestrichen, am 5. Dezember verschwanden die Stacheldrahtzäune an den Grenzen zur Bundesrepublik Deutschland und zu Österreich, am 10. Dezember kam eine „Regierung des nationalen Einverständnisses“ an die Macht, in der erstmals nicht-kommunistische Politiker in der Mehrheit waren, und Ende des Jahres wurden schließlich Alexander Dub-cek, der Held des „Prager Frühlings“, zum Parlamentsvorsitzenden und Václav Havel, einer der Köpfe der „Charta 77“, zum tschechoslowakischen Präsidenten gewählt. All diese revolutionären Ereignisse sind mit dem Wenzelsplatz, dem böhmischsten aller Plätze, untrennbar verbunden. Allerdings geraten sie heute angesichts des ungeheuren Trubels auf diesem Zentrum des Geschäftslebens der prosperierenden Hauptstadt allzu leicht aus dem Blick. Statt dessen sind die Zeugnisse aktueller Einflüsse – namentlich des Kapitalismus amerikanischer Prägung und der schnellebigen westlichen Massenkultur – um so präsenter. Banken und Schnellimbißbuden reihen sich dicht aneinander, abends blenden grelle Leuchtreklamen. Biegt man allerdings in eine beliebige Querstraße ab, so ist es wieder das „ewige“, das historische Prag, das einen in den Bann zieht. Oder man stößt parallel zum Wenzelsplatz auf andere symbolträchtige Stätten neuerer Zeit wie das Gebäude der Kommunistischen Partei Böhmens und Mährens in der Straße Politikych Veznu, das – eigentlich alt und prächtig – mit seiner grauen, nicht restaurierten Fassade in krassem Gegensatz steht zum sonst frisch aufpolierten Glanz der „Goldenen Stadt“. Auch das über dem Eingang prangende Parteisymbol der zwei leuchtendroten Kirschen vermag in diese Tristesse keine Farbe zu bringen. Nur einen Steinwurf weiter tummeln sich wieder die Touristen. Reisen nach Prag haben bekanntlich Hochkonjunktur. Millionen US-Amerikaner, Deutsche, Italiener, Franzosen und Japaner suchen an der Moldau alljährlich – bewußt oder unbewußt – das ebenso geschichtsträchtige wie prachtvolle Gesicht des alten Mitteleuropas. Wohl nirgendwo sonst legt das Kernland des Kontinents ein beeindruckenderes Zeugnis ab von der einstigen kulturellen Schaffenskraft des Deutschen Reiches, der Donaumonarchie und der mit diesen Mächten eng verwobenen kleineren Völker im Osten. Viele Besucher der „Goldenen Stadt“ werden auf ihrer Reise in die Geschichte fündig und können sich kaum satt sehen an dem weitgehend geschlossenen historischen Stadtbild, das nur an den Rändern ein häßliches Antlitz in Gestalt zahlloser sozialistischer Plattenbauten zeigt. Andere wiederum sind enttäuscht, wenn sie von ihren Fremdenführern durch die vom Massentourismus gezeichneten Gassen vom Altstädter Ring zur Karlsbrücke geschleust werden oder auf dem Hradschin wegen des beständig hohen Lärmpegels der zahllosen ausländischen Reisegruppen den Zauber dieses Ortes nur noch schwer empfinden können. Einige Grundregeln für den Prag-Reisenden können derartigen Enttäuschungen vorbeugen und den Aufenthalt in der böhmischen Metropole zum unvergeßlichen Erlebnis machen. Zunächst sollte man seinen westlichen Wohlstand keinesfalls zur Schau stellen, eventuelle Blickfänger für Diebe (Schmuck, Handtaschen, Fotoapparate) daheim lassen oder nach Möglichkeit nicht offen herumtragen. Dann sollte man sich nur sofern unbedingt nötig im Bereich des „Touri-Trampelpfades“ zwischen Altstädter Ring und Karlsbrücke aufhalten. Dieses Gebot gilt nicht nur der Taschendiebe und der entzauberten Atmosphäre wegen, sondern auch eingedenk der vergleichsweise unverschämten Preise für Mitbringsel aller Art oder in Cafés und Restaurants. Abseits des großen Trubels lebt man demgegenüber in Prag für deutsche Verhältnisse nach wie vor erstaunlich günstig. Die Größe der Stadt erschließt sich auch im weiteren Umfeld der Innenstadt zu Fuß. Ansonsten bieten sich drei verschiedene U-Bahn-Linien oder die zahlreichen Busse und Straßenbahnen an, die von den Einheimischen stark genutzt werden, zumal man in Teile der Altstadt mit dem Auto überhaupt nicht hineinkommt. Wer in der Metro fährt, dem fällt auf, daß sich die Menschen dort durchaus anschauen, also nicht abwesend in einer Zeitung blättern oder ins Leere starren, wie dies zum Beispiel für Berlin typisch ist. Die Moldaustadt ist nun einmal kein Moloch wie die deutsche Hauptstadt oder wie Paris und London, sondern eine noch überschaubare, nicht allzu anonyme Metropole. Auch das macht etwas von ihrem Zauber aus. Besonders bezaubernd ist der Rundblick auf Prag, der sich bietet, wenn man von der Kleinseite kommend auf den Laurenziberg (Petrín) steigt. Der Weg führt durch wildromantische Obstwiesen; alternativ verkehrt eine Zahnradbahn zum Areal der Prager Industrieausstellung von 1891. Dort findet man einen sechzig Meter hohen Nachbau des Eiffelturms. Oben angekommen, sieht man die Moldaubrücken, die grün durchwirkte Kleinseite sowie die Alt- bzw. Neustadt am anderen Flußufer. Keine Hochhäuser von Banken oder Versicherungen beeinträchtigen den Blick – die kommunale Baubehörde leistet offenbar gute Arbeit. Linker Hand erstreckt sich der riesige Hradschin und noch weiter westlich das ebenfalls stattliche Kloster Strahov mit seinem berühmten Bibliothekssaal. Im Hintergrund befindet sich mit dem Strahov-Stadion das weltweit größte Leichtathletikstadion (Fassungsvermögen: 200.000 Personen), in dem zu kommunistischer Zeit die Spartakiaden stattfanden. Spuren der Deutschen in Prag wurden verwischt Im Baedeker nicht einmal erwähnt, ist der Stadtteil Weinberg (Vinohrady): ein Geheimtip für Architekturliebhaber. Um 1900 entstanden, stehen dort straßenweise wundervolle Jugendstilhäuser, ein sehenswertes Jugendstiltheater und – für den, der länger sucht, – die Reste eines großen evangelischen deutschen Friedhofs. Während die Spuren der (deutschsprachigen) Juden und natürlich der Tschechen für Touristen offenliegen, sind jene der bis 1945 vor Ort beheimateten Deutschen weitgehend getilgt. Dabei ist das Prag, wie es heute bewundert wird, das kulturelle Produkt einer langen Symbiose aller drei Gruppen. Noch im Jahre 1857 haben die Deutschen immerhin fünfzig Prozent der Einwohner gestellt, bevor der massenhafte Zuzug von Tschechen infolge von Industrialisierung und Eingemeindungen sie zu einer Minderheit von kaum mehr als fünf Prozent machte. Dennoch blieben sie bis zur Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg ein fester Bestandteil des Stadtbildes. Doch auch auf ausgedehnten Erkundungstouren ist es schwer, direkte Hinweise auf ihr Wirken zu entdecken. Dafür spürt man um so deutlicher, wie kräftig das Herz der mitteleuropäischen Metropole Prag rund anderthalb Jahrzehnte nach der Samtenen Revolution wieder schlägt und wie diese Stadt auch jenseits des Massentourismus weiter „lebt“ – mit allen ihren Licht- und einigen wenigen Schattenseiten. Fotos: Generalstreik am 27. November 1989 auf dem Wenzelsplatz in Prag: Samtene Revolution , „Quo vadis?“ Denkmal für die DDR-Flüchtlinge in der Prager Botschaft