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Marc Jongen, ESN Fraktion
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Literarische Wahlverwandtschaften

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Cato, Palmer, Exklusiv

Fast hätte man befürchten müssen, die 14. Jahrestagung der 1991 gegründeten Anna-Seghers-Gesellschaft könnte nach drei Absagen Vortragender nur in verkürzter Form stattfinden, wenn überhaupt. So hatte man in der Mitgliederversammlung am 11. November erfahren müssen, daß der Berliner Schriftsteller Volker Braun (1939), der aus seinem neuen Buch „Das unbesetzte Gebiet“ hätte lesen sollen, mit hohem Fieber im Bett liege und daß auch die Berliner Privatdozentin Sonja Hilzinger, die in Mainz habilitiert worden war, schwer erkrankt sei, und schließlich falle auch die Berliner Schriftstellerin Kerstin Hensel, mit der Eva Kaufmann ein Streitgespräch führen wollte, wegen Terminüberschneidungen aus. Nur der Umsicht und Tatkraft der Vorsitzenden Barbara Prinsen-Eggert aus Mainz war es zu verdanken, daß die Tagung mit fünf Vorträgen, zwei Lesungen, einer Preisverleihung, einer Theateraufführung ein gutes Ende fand. Für Braun sprang die Mainzer Schauspielerin Helga Bender ein, die abends im Gutenberg-Museum die Nachlaßerzählung von Anna Seghers „Jans muß sterben“ las, während die aus Potsdam angereiste Schauspielerin Jutta Wachowiak zwei Texte aus dem Taschenbuch des Aufbau-Verlags Christa Wolf/Anna Seghers „Das dicht besetzte Leben“ vortrug. Die fünf wissenschaftlichen Vorträge am 13. November, die unter dem Thema „Literarische Wahlverwandtschaften – Intertextuelle Beziehungen“ standen, waren der eigentliche Höhepunkt der Veranstaltung, weil sie auch Anna-Seghers-Kennern neue Horizonte eröffneten. So konnte Ursula Elsner aus Freiburg einleitend Querverbindungen zwischen Seghers einerseits und Bertolt Brecht, Heiner Müller, Christa Wolf andererseits aufzeigen und fand schließlich auch Berührungspunkte zwischen dem Exilroman „Das siebte Kreuz“ (1942) von Seghers und dem Jahrzehnte später geschriebenen Roman „Die schöne Frau Seidemann“ (1985) des Polen Andrzej Szczypiorski. Hensel verließ den Staat, für den Seghers einst kämpfte Aufschlußreich war, in der Diskussion zu erfahren, daß Seghers als einzige DDR-Autorin ihrer jüngeren Kollegin Christa Wolf, die nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns im Herbst 1976 totgeschwiegen werden sollte, in der Literaturzeitschrift Sinn und Form zum 50. Geburtstag am 18. März 1979 gratuliert hat. Hilzingers Vortrag „Fortgesetzter Versuch. Anna Seghers und Christa Wolf“ wurde von der Anna-Seghers-Biographin Christiane Zehl Romero in gekürzter Fassung verlesen. Der Beginn der Freundschaft beider Schriftstellerinnen ist auf den Sommer 1959 zu datieren, als Christa Wolf, damals Redakteurin der Neuen Deutschen Literatur, mit Anna Seghers ein Gespräch über den Roman „Die Entscheidung“ (1959) zu führen hatte. Den Exilroman „Das siebte Kreuz“ hatte sie, die an ihrer Erzählung „Der geteilte Himmel“ (1963) arbeitete, damals schon gelesen; die Affinität in der Struktur beider Prosatexte sind unübersehbar. Auch zwischen der Erzählung „Das wirkliche Blau“ (1967) und dem Roman „Kindheitsmuster“ (1968/69) gibt es Übereinstimmungen. Eine „Biographie der Anna Seghers“, die Christa Wolf zum 65. Geburtstag schreiben wollte, scheiterte allerdings, weil Seghers dieses Vorhaben als unnötig abwies. Die Berliner Germanistin Eva Kaufmann konnte sich, da die 1955 in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) geborene Kerstin Hensel nicht erschienen war, nur auf einige Notizen beziehen, die ihr die verhinderte Autorin in den Briefkasten geworfen hatte. So gab die Referentin Erläuterungen zum völlig verschiedenen Lebenslauf Hensels gegenüber dem von Anna Seghers. Sie war in einem bücherfreien und literaturfernen Elternhaus aufgewachsen und hatte bald bemerkt, daß das „Leben anders verläuft, als uns beigebracht wurde“. Zwei Jahre nach dem Besuch des Leipziger Literaturinstituts 1983/85 reiste sie nach West-Berlin aus. Literarische Beziehungen zwischen Seghers und Hensel gibt es allerdings kaum. Die einzige Gemeinsamkeit: Beide Autorinnen sind aus der Enge, in der sie lebten, frühzeitig ausgebrochen, Seghers wurde 1928 Kommunistin, Hensel verließ 1987 den Staat, für den Seghers einst gekämpft hatte. Preisverleihung an Hernandez und Wagner Der Berliner Germanist Peter Geist, Experte für DDR-Lyrik, verglich den Exilroman „Transit“ (1943) von Anna Seghers mit Volker Brauns Buch „Transit Europa – Der Ausflug der Toten“, wobei der Untertitel lautete „Antizipation geschichtlicher Sackgassen“. Dabei ging es ihm vor allem um die Umwandlungen und die Eingriffe in die Vorlage, die der Autor am Text der älteren Kollegin vorgenommen hatte. So veränderte er beispielsweise die Namen der Figuren, aus „Marie“ machte er „Sophie“, und führte den Juden Freudental ein, der bei Seghers nicht vorkommt. Exil ist für Braun nicht das Aufnahmeland aus Deutschland Vertriebener, sondern überhaupt die heutige Situation des Menschen mit ihren Aporien. Die wissenschaftliche Leistung des Referenten wird man erst ermessen können, wenn der Vortrag im Anna-Seghers-Jahrbuch 2005 gedruckt vorliegt. Der letzte Vortrag war von besonderer Art. Es ging um die kompositorische Verarbeitung des Romanstoffs „Das siebte Kreuz“ durch Hans Werner Henze. Der 1926 geborene Komponist versuchte mit seiner neunten „Sinfonia“, einer Chorsinfonie nach dem Vorbild und in Absetzung zu Ludwig van Beethovens „Neunter“, eigene Erlebnisse im „Dritten Reich“ zu bewältigen. Dem Berliner Musikwissenschaftler Albrecht Dümling gelang es vorzüglich, die Differenzen zwischen Romanvorlage und dem Libretto von Hans Ulrich Treichel und der darauf basierenden Komposition abzuklären. Abgerundet wurde die Tagung durch die Vergabe des Anna-Seghers-Preises von 25.000 Euro, der am 13. November in der Staatskanzlei verliehen wurde und zu gleichen Teilen an die Erzählerin Claudia Hernandez aus San Salvador und den Berliner Lyriker Jan Wagner ging, und durch den Besuch der Aufführung des Heiner-Müller-Stücks „Der Auftrag“ nach der Seghers-Erzählung „Das Licht auf dem Galgen“ (1960) im Theater im City am 14. November.

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