Anzeige
Marc Jongen, ESN Fraktion
Anzeige
ESN-Fraktion, Europa der souveränen Nationen

An den Rand der Welt geschrieben

An den Rand der Welt geschrieben

An den Rand der Welt geschrieben

 

An den Rand der Welt geschrieben

Anzeige

Unwort, Umfrage, Alternativ

Er war ein geistiger Einzelgänger, wie er im Buche steht. Der kolumbianische Schriftsteller Nicolás Gómez Dávila (1913-1994) gehört zu jenen Denkern, deren Zeit erst noch kommen wird. Der Geselligkeit keineswegs abhold, arbeitete Don Nicolás, der den Großteil seines Lebens in seiner Bibliothek verbrachte, an einem schriftstellerischen Werk, das seinesgleichen sucht – ein Hagel an scharfen Gedanken, die zu Tausenden auf den Leser seiner Werke einprasseln, gleichsam ein literarisches Stahlgewitter, aus dem keiner ungeschoren davonkommt. Denn Gómez Dávila verfaßte außer einigen wenigen Essays allein Aphorismen, die er Glossen zu einem impliziten Text nennt – Erläuterungen, die er an den Rand der Welt geschrieben hat, Interpretationshilfen bei der Entschlüsselung ihrer Rätsel. Im spanischen Original tragen seine Bücher die denkbar sprödesten Titel, die kein Geheimnis preisgeben, keine Rückschlüsse auf den Inhalt zulassen: „Notas“ („Aufzeichnungen“; 1954), „Textos“ (1959; dt. „Texte und andere Aufsätze“, 2003); und schließlich die insgesamt fünf Bände der „Escolios a un texto implícito“ (zwei Bände 1977; zwei Folgebände „Nuevos escolios“ 1986 sowie ein abschließender Band „Sucesivos escolios“ 1992). Nur die deutschen Ausgaben des Wiener Karolinger Verlages, der sich um das Werk des Kolumbianers verdient gemacht hat, sind mit prägnant klingenden Titeln versehen worden: „Einsamkeiten“ (1987; Auswahl aus den ersten beiden Bänden), „Auf verlorenem Posten“ (1992), „Aufzeichnungen des Besiegten“ (1994). An den Rändern der Welt zu Hause, nicht auf Reisen erpicht und dem gleißenden Licht der Massenmedien abhold, lebte er seinen Gedanken, seiner Familie und seinen Freunden, ständig lesend und schreibend versuchte er, sich einen Reim auf die moderne Welt zu machen. Diese moderne Welt, die den heutigen Menschen unausweichlich umzingelt, war für Gómez Dávila Anathema, ein ethisches und ästhetisches Greuel, von dem er sich mit Schaudern abwandte und das er mit allen verfügbaren geistigen Waffen attackierte, wohl wissend, daß ihm so schnell kein Sieg vergönnt sein werde. Hochgeachtet in der Gesellschaft von Bogotá, lehnte er doch hohe politische Ämter, die man ihm mehrfach antrug, immer ab. Mit seinen kolumbianischen Landsleuten verband ihn nur, wie er einmal sagte, sein Reisepaß, und doch war er lokalpatriotisch stolz darauf, mit dem modernistischen Dichter José Asunción Silva (1865-1896) verwandt zu sein. Die Zumutungen des Glaubens verteidigen Die Fundamente der modernen Welt waren brüchig geworden, seit man sich mehr und mehr von Gott abgewandt hatte und auch die Theologen nicht mehr bereit waren, die Zumutungen des Glaubens zu verteidigen, sondern Religion in Sozialarbeit überführten und ihr Mäntelchen nach dem weltlichen Winde hängten. Gott aber ist für Don Nicolás, obschon er sich in seinem Werk zu vielen Dingen äußert, das einzige, worüber klugerweise wirklich ernsthaft gesprochen werden muß: Gott ist der unhintergehbare Kern der Dinge, von ihm hängt alles ab, von seiner Gnade kann der Mensch erhoffen, was er sich nicht selbst anmaßen darf. Gómez Dávila gehört zweifellos zu den großen politischen Theologen des 20. Jahrhunderts, für den ebenso wie im 19. Jahrhundert für Juan Donoso Cortés alle politischen Irrtümer aus theologischen Irrtümern hervorgingen. Alle legitime Macht ist für ihn eine Macht, die auf einer religiösen Vorstellung gründet: „Die ‚Legitimität‘ ist die politische Form des Heiligen.“ Der traditionalistische Katholik Gómez Dávila lehnte es ab, an seiner Kirche zu verzweifeln, wußte er doch, daß sie von fehlbaren und sündigen Menschen repräsentiert wurde. Tiefe Trauer aber empfand Gómez Dávila über die weitgehende Zerstörung der alten lateinischen Liturgie im Gefolge des II. Vatikanischen Konzils (1962-1965). Gegen alle vermeintliche Klugheit nannte der Kolumbianer sich selbst einen „Reaktionär“ und machte damit eine Vokabel der politischen Denunziation zu einem Ehrentitel, der höchste Wertschätzung zum Ausdruck bringen sollte. Gómez Dávila ist, wie könnte es anders sein, ein Geist, an dem sich die Geister scheiden. Denn seine scharfe Zeitkritik wird demjenigen, der sich nicht an den Dekadenz-Erscheinungen der Gegenwart stört oder diese leugnet, als unerhörte Ketzerei an den Glaubenssätzen der liberalistischen Zivilreligion erscheinen müssen. Doch trifft Gómez Dávila mit seiner denkerischen Unverfrorenheit Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, an deren Deutung wahre Denkerscharen oft vergeblich herumlaborieren. Gómez Dávila hätte in seiner Nüchternheit, die um das weiß, dessen der Mensch fähig ist, zweifellos dem Nobelpreisträger Imre Kertész zugestimmt, der in seinem „Galeerentagebuch“ das 20. Jahrhundert einmal als „ein ununterbrochen diensttuendes Hinrichtungskommando“ bezeichnet hat. Seit seiner frühen Lektüre des Thukydides war Don Nicolás zu der Überzeugung gelangt, daß der Mensch zu allem fähig ist. Die Bibel und die antiken Autoren, so Gómez Dávila, reichten völlig hin, um zu wissen, was man vom Menschen wissen kann: „Die griechische Tragödie und das christliche Dogma sind reife Meditationen über das menschliche Schicksal im Vergleich zum jünglingshaften Sentimentalismus der modernen Philosophie.“ Weil der Reaktionär ein realistisches Bild des Menschen hat, ist er auch davor gefeit, die vergebliche und deshalb utopische Restauration des Vergangenen anzustreben, die dem Reaktionär oft unterstellt wird; er ist „kein nostalgischer Schwärmer, sondern ein unbestechlicher Richter, ein Pathologe, der Krankheit und Gesundheit bestimmt“. Die Heilung aber könne nur von Gott kommen. Christentum und Demokratie empfand Gómez Dávila als Widerspruch, weil jenes die Souveränität Gottes, diese aber die Souveränität des Menschen proklamiere. Wie schon Nietzsche, den man sich freilich inzwischen munter zu einem demokratiekompatiblen Philosophen zurechtmacht, ist auch Gómez Dávila ein Stachel im Fleisch des bürgerlichen Wohlbehagens. Der „letzte Mensch“, der sich mit Gleichmut und Frohsinn im Nihilismus eingerichtet hat, muß eine Kulturkritik im Stile Gómez Dávilas als Angriff auf seine teuersten Güter empfinden: „Der heutige Mensch fordert Freiheit, damit die Niederträchtigkeit ungestraft blühen kann.“ Erziehung müsse deshalb darin bestehen, wie er ironisch schreibt, die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu verhindern. Denn: „Die Idee der ‚freien Entfaltung der Persönlichkeit‘ scheint ausgezeichnet, solange man nicht auf Individuen stößt, deren Persönlichkeit sich frei entfaltet hat“. Scharf beäugt der Reaktionär auch die moderne Technik der Massenmedien, habe doch die ungehinderte Verbreitung der Nachrichten dazu geführt, daß die traditionelle Funktion des Geheimnisses durch die öffentliche Lüge ersetzt worden sei. Wollte man die Konsequenzen zu Ende denken, die sich aus den Prinzipien der modernen Gesellschaft ergeben, müßte man sich eingestehen, daß diese nur theoretisch, nicht aber praktisch universalisierbar sind. Das Problem des heutigen Menschen bestehe vielleicht in der ironischen Tatsache, so Gómez Dávila, daß dieser tatsächlich über die Macht verfügt, seine Wünsche zu erfüllen, so daß den pleonektischen Begierden, dem „Immer-mehr-haben-Wollen“ der Massen wie der (Pseudo-)Eliten keine Grenzen mehr gesetzt scheinen. Der Reaktionär ist, weil er das Destruktive an der modernen kapitalistischen (oder auch sozialistischen) Industriegesellschaft empfindet, zugleich der konsequentere Ökologe und der einzig wahre Ästhet. Denn nur jene konspirieren erfolgreich gegen die moderne Welt, so Don Nicolás, die im Geheimen die Bewunderung der Schönheit propagieren. Im Utopisten schlummert der Polizeiwachtmeister Gegen die „ausnahmslose Gleichheit“ (Reinhart Maurer) als „sozialdemokratisches“ Grundprinzip moderner politischer Theologie steht der Reaktionär Gómez Dávila für das aristokratische Prinzip der Rangunterschiede und gibt zu bedenken, daß sich der Mensch seiner Menschlichkeit entschlägt, wenn er aufhört, die stets notwendigen Rangunterschiede anzuerkennen. Gómez Dávila verteidigt die Notwendigkeit von hierarchischen Strukturen und sieht Freiheitsräume gerade in einer nicht völlig durchrationalisierten Gesellschaft, die neben der Gleichheit auch der Ungleichheit ihren relativen Platz einräumt. Der Reaktionär ist deshalb allen Utopien gegenüber tief mißtrauisch, weiß er doch, daß in jedem Utopisten ein Polizeiwachtmeister schlummert. Das Individuum mit seiner jeweiligen Existenz ist für Gómez Dávila im Sinne Kierkegaards der unhintergehbare Ausgangspunkt seiner Lebensphilosophie. Er ist ein Vertreter des konkreten Denkens, der versucht, das Denken mit dem Leben zu verbinden. Die Wahrheit ist deshalb nicht nur ein erkenntnistheoretisches, sondern auch ein existentielles Problem: „Von allen Despotismen ist derjenige der Wahrheit der grauenhafteste. Welche Vorwände kann man ersinnen, um ihn zurückzuweisen? Welche Rechtfertigung läßt sich für unseren Widerstand finden?“ Gegen das Streben nach analytischer Reinheit, das der akademischen Philosophie notwendigerweise innewohnt, setzt Gómez Dávila die stete Wiederaneignung der Weisheit, die in den uralten Gemeinplätzen enthalten ist. Die Gemeinplätze, so führt er in einem seiner „Texte“ aus, mögen als Lösung eines Problems unzureichend sein, doch weisen sie auf eine ungelöste Frage, auf ein Problem, dem der Mensch sich stellen muß. Gómez Dávila bemühte sich selbst nie um eine wachsende Leserschaft, sondern schrieb recht eigentlich nur für den kleinen Kreis der Freunde, mit denen er regelmäßige Gespräche führte, wobei er häufig Autoren wie Platon, Aristoteles, Dante, Cervantes, Shakespeare, Nietzsche, Pascal, Burckhardt, Heidegger, Kierkegaard, Wittgenstein, Proust, Valéry, Malraux, Montaigne nannte, die die Spannweite seines Geistes erahnen lassen. Nur wenige wurden indes außerhalb Kolumbiens früh auf Gómez Dávila aufmerksam – wie etwa der berühmte Historiker Arnold Toynbee, der ihn in Bogotá besuchte, mit ihm über Geschichte und Geschichtsphilosophie diskutierte und von des Kolumbianers stupender Gelehrsamkeit beeindruckt war. Um so überraschender, daß in den letzten Jahren das Interesse an den geschliffenen und provozierenden Gedanken seiner Schriften stetig wächst: in Deutschland, Österreich, Italien, Frankreich, Rumänien, Polen, ein klein wenig sogar in den Vereinigten Staaten. Und in Kolumbien selbst, wo ihn manche erst durch den Umweg der europäischen und vor allem deutschen Rezeption kennenlernten, legt Benjamín Villegas in jüngster Zeit seine wichtigsten Texte wieder auf. Erst im März erschienen als dritter dieser Bände die bisher verschollenen „Notas“, d. h. „Notizen“ oder „Anmerkungen“, die vor einem halben Jahrhundert lediglich als Privatdruck in kleinster Auflage gedruckt worden waren. Sie enthalten reiche Lesefrüchte, und wenn auch schon Gómez Dávilas Begabung zur aphoristischen Verknappung aufscheint, ist er hier noch nicht durchgängig zu der radikalen Schreibweise seiner späteren Jahre durchgedrungen. Auch die kürzlich in deutscher Sprache erschienenen Essays in den „Texten“ versuchen sich noch an der diskursiven Textform, die Gómez Dávila dann hinter sich lassen sollte. Der Erbe der lakonischen epigrammatischen Form entwickelte die Form des Aphorismus zu einer diamantenen Härte, Schärfe und Eleganz, die sich mit den Meistern der Form von Lichtenberg bis Stanislaw Jerzy Lec messen kann. Die epische Breite der Schilderungen seines Landsmannes Gabriel García Márquez dagegen mißfiel ihm: Als dieser ihm über einen gemeinsamen Freund, den Dichter und Romancier Álvaro Mutis, das Manuskript seines Romans „Hundert Jahre Einsamkeit“ zu lesen gab, fand Don Nicolás diesen zu weitschweifig und ließ García Márquez ausrichten, ob es nicht auch fünfzig Jahre Einsamkeit täten. Als der linke García Márquez dann 1977 die soeben erschienenen „Escolios a un texto implícito“ las, verbrachte er eine schlaflose Nacht, weil er die harten Wahrheiten Gómez Dávilas nicht zu widerlegen vermochte. Ob es nicht auch fünfzig Jahre Einsamkeit täten? Gegen die Massengesellschaft mit ihren ästhetisch und ethisch nivellierenden Tendenzen erinnert Gómez Dávila an die Kraft des Individuums, dem Übel mit Würde und Stil zu widerstehen. Etwas von dieser Haltung findet sich auch in den gegen die Häresie der Formlosigkeit gerichteten „Manieren“ Asfa-Wossen Asserates, der sich mehrfach auf den kolumbianischen Denker beruft. Das Pathos der Distanz zur Vulgarität des modernen Alltagslebens, das seinen Ausdruck in der ätzenden Schärfe seiner Zeitkritik findet, paart sich bei Gómez Dávila mit der stilvollen Gelassenheit des Herren, die wohl nur aus dem tief verwurzelten Glauben an Gott ganz erklärbar ist. Bei aller kategorischen Unbedingtheit, die in zahlreichen seiner Glossen aufscheint, erhebt die reaktionäre Lehre Gómez Dávilas jedoch nicht den Anspruch auf eine endgültige Sicht der Dinge. Vielmehr handele es sich bei ihr um einen Dialog zwischen Freunden, um einen Aufruf der wachen an eine schläfrige Freiheit. Das reaktionäre Denken, eben weil es ein Denken des Konkreten ist, sperrt sich gegen die Reduktion auf ein Schema, weshalb es auch keinen „reaktionären Katechismus“ geben kann – die reaktionären Texte sind nichts als mahnende Spuren zwischen den Ruinen der modernen Welt. Als ein kolumbianischer Nietzsche führte Gómez Dávila seinen einsamen Kampf gegen das Narrenhaus der „modernen Ideen“ und harrte stolz auf, wie es schien, verlorenem Posten aus. Vor zehn Jahren starb der große Reaktionär am 17. Mai in Santafé de Bogotá. Die Wahrheit aber, die er an eine nähere und vor allem fernere Zukunft zu übermitteln suchte, ist nicht mit ihm untergegangen, sondern lebt im geistigen Untergrund unserer von intellektuellem Konformismus und Dürftigkeit erstickten Welt – dort, wo man den stets prekären Versuch unternimmt, „in der Wahrheit zu leben“. Dies scheint wenig. Allein, es ziemt sich, an eine wahrhaft reaktionäre Maxime zu erinnern: „Die geistigen Kriege werden nicht von den regulären Truppen, sondern von den Freischärlern gewonnen.“ Kurz und bündig „Die Reaktionäre bereiten den Dummköpfen das Vergnügen, sich als verwegene Denker der Avantgarde zu fühlen.“ „Die moderne Gesellschaft ist nur in zwei Dingen den vergangenen Gesellschaften voraus: in der Vulgarität und in der Technik.“ „Es gibt Epochen, in denen nur der Pöbel eine Zukunft zu haben scheint.“ „Das die Rechte bedrohende Laster ist der Zynismus, das die Linke bedrohende die Lüge.“ „Die Demokratie kennt keinen Unterschied zwischen Wahrheiten und Irrtümern; sie unterscheidet nur populäre Meinungen von unpopulären Meinungen.“ Nicolás Gómez Dávila (1913-1994): Mahnende Spuren zwischen den Ruinen der Moderne – mit seinen Landsleuten verband ihn nur der Reisepaß Till Kinzel ist Autor des Buches „Nicolás Gómez Dávila – Parteigänger verlorener Sachen“ (Edition Antaios, Schnellroda 2003).

Anzeige
Marc Jongen, ESN Fraktion
Anzeige

Der nächste Beitrag

ähnliche Themen
Hierfür wurden keine ähnlichen Themen gefunden.