Unbehagen macht sich breit. Die Furcht vor dem Wähler ist so groß, daß sich sogar der Bundeskanzler in die Debatte einmischt. „Das darf nicht sein“, sagte Gerhard Schröder (SPD) Anfang der Woche, „wenn der EU-Beitritt der Türkei zu einem Wahlkampfthema gemacht würde, wäre das ganz, ganz schlimm.“ Am 13. Juni sind Europawahlen. „Eine innenpolitische Wahl“, meint CDU-Fraktionsvize Friedrich Merz, „das war sie immer schon.“ Der Steuer- und Haushaltexperte der Union ruft deswegen zu einer Strafaktion gegen Rot-Grün auf. Doch die Opposition ist in dieser Frage gespalten. Gerade die Schwesterpartei CSU liebäugelt mit einem „Anti-Türkei-Wahlkampf“. Seit CDU-Chefin Angela Merkel während ihres Ankara-Besuchs auf deutliche Distanz zu einer Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union ging und eine „privilegierte Partnerschaft“ in den Raum stellte, sind die Bayern hellhörig geworden. Die CDU-Parteivorsitzende will die Debatte daher nicht zum „einzigen Thema“ ihrer Partei bei der Europawahl im Juni machen. Genau dies hat CSU-Chef Edmund Stoiber bereits angekündigt. Doch dieses Thema eigne sich nicht für Populismus, warnte Merkel ihren Parteifreund und Dauerrivalen um die Rolle des Schröder-Herausforderers. Dennoch stehe der EU-Beitritt der Türkei auf der Tagesordnung des Wahlkampfes. Aus Sicht der CDU gebe es Zweifel, ob die Europäische Union derzeit in der Lage sei, ihre Integration mit einer weiteren Ausbreitung zu verbinden, so Merkel. Nichtsdestoweniger sei die EU aus geostrategischen und sicherheitspolitischen Überlegungen auf spezielle Beziehungen zur Türkei angewiesen. „Wir als Europäer sollten der Türkei nichts Falsches versprechen, weil dann wieder Enttäuschungen entstehen“, sagte die CDU-Vorsitzende. Die EU könne mit der Türkei über einen Beitritt nur verhandeln, wenn die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt seien. Dazu gehöre auch, daß die EU selbst in der Lage sein müsse, den Beitritt eines so großen Landes zu verkraften, ohne ihre Integrationsanstrengungen zu stoppen. Noch deutlicher äußerten sich andere Unions-Politiker. Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Wolfgang Bosbach, ist strikt gegen einen EU-Beitritt der Türkei. Grund dafür sei nicht, daß die Türkei zu 95 Prozent nicht in Europa liege, sondern daß eine Aufnahme die Integrationskraft der EU überfordern werde. Die etablierten Parteien versuchen vor der Europawahl einen schwierigen Spagat. Einerseits eignet sich gerade die Europawahl glänzend als „Denkzettelwahl“ mit populistischem Hintergrund. Andererseits will man auf die Stimmen der türkischstämmigen Wähler nicht verzichten. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Willi Zylajew warnte, seine Partei müsse „aufpassen, daß sie in Europa hinterher nicht dumm außen vor steht mit einer gestrigen Meinung, wie einst bei der Ostpolitik“. Und sein Parteifreund, der Gelsenkirchener Oberbürgermeister Oliver Wittke, sagte: „Wer so kategorisch einen EU-Beitritt der Türkei ausschließt, wie die CSU es tut, der knallt damit auch den bei uns lebenden Türken die Tür vor den Kopf.“ Der Kanzler kennt diese Problematik nur zu gut. Schröder setzt ganz unverhohlen darauf, mit seiner türkeifreundlichen Haltung die vielen türkischstämmigen Wähler in Deutschland für die SPD zu begeistern. Deswegen hat er persönlich dafür gesorgt, daß der deutsch-türkische Vorzeigeunternehmer Vural Öger („Öger Tours“) auf den aussichtsreichen Platz 10 der Europawahl-Liste der SPD gesetzt worden ist. Schröder weiß schon, warum. Öger lernt schnell: „Die Union“, sagte er pünktlich zum Kanzler-Besuch in Ankara, „kann sich bei den Deutsch-Türken keine Hoffnungen mehr machen.“ Allerdings zeigen sich auch bei den Sozialdemokraten bereits die Sollbruchstellen der Europapolitik bezüglich eines EU-Beitritts der Türkei. Der frühere Bundesgeschäftsführer der SPD, Peter Glotz, kritisierte die Kanzler-Versprechungen an die Türken. „Ich bin überzeugt, daß dieser Weg falsch ist“, so Glotz im Fernsehsender n-tv. Und er geht noch weiter: Er begrüßte den Vorstoß Merkels für eine privilegierte Partnerschaft. Selbst Bundespräsident und Kopftuch-Befürworter Johannes Rau (SPD) mahnt den Kanzler zu einem langsameren Tempo. Auf Schmusekurs ging auch FDP-Chef Guido Westerwelle und plädierte für eine differenzierte Herangehensweise in der Türkei-Frage. Er begrüßte ausdrücklich die von Parlament und Regierung in Ankara unternommenen Reformschritte, um das Land beitrittsfähig zu machen. „Anders als für viele Konservative ist für die FDP die Religionszugehörigkeit der Bevölkerungsmehrheit eines Beitrittskandidaten kein Ausschlußkriterium. Wir begreifen die EU nicht als christlichen Club,“ so Westerwelle. Auf eindeutige Ablehnung stößt der geplante EU-Beitritt der Türkei bei rechten Parteien. Doch die Hoffnungen, am 13. Juni ins Europaparlament einzuziehen, sind verschwindend gering. 1989 schafften die Republikaner mit dem Spitzenkandidaten Franz Schönhuber und dem Wahlkampf-Thema „Nein zu dieser EU“ den Sprung nach Straßburg. In Bayern erreichte der damalige Landeschef Harald Neubauer satte 15 Prozent der Stimmen und wilderte in CSU-Revieren. Von dieser Aufbruchsstimmung ist nichts mehr zu spüren – auch wenn Vertreter der Rechtspartei nun dazu aufrufen, die EU-Wahl zur Volksabstimmung über den Türkei-Beitritt zu machen. „Ein Europa, das Außengrenzen mit dem Irak und Syrien hat, ist absurd“, sagte Parteichef Rolf Schlierer. Ein asiatisches Land, das von seiner maroden Wirtschaft, inneren Konflikten und wachsendem islamischem Fundamentalismus destabilisiert werde, könne unmöglich in eine sich als europäisch verstehende Union integriert werden. Ähnliches ist auch von der konservativen Deutschen Partei (DP) unter dem Vorsitz des ehemaligen FDP-Politikers Heiner Kappel zu hören. „97 Prozent des türkischen Territoriums liegen in Asien. Die Europäische Union wäre damit zur ‚Europäisch-Asiatischen Union‘ umgewandelt. Das kann und darf nicht Ziel der EU sein“, heißt es in einer Resolution der DP. Foto: Schröder, Erdogan in Ankara: Selbst Sozialdemokraten bereitet das Thema „Türkei-Beitritt“ Unbehagen
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