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Ein Porträt des jungen Mannes als Spätling

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Unwort, Umfrage, Alternativ

Der Memoirenschreiber Wolf Jobst Siedler ist ein Virtuose des Abschweifens. Als vor zwei Jahren der erste Band seiner Lebensbeschreibung erschien, der bis zur Heimkehr aus der britischen Kriegsgefangenschaft in Ägypten reicht, betteten zahlreiche Exkursionen die großbürgerliche Berliner Jugend des Autors in den zeithistorischen Kontext des Dritten Reiches retrospektiv ein (JF 43/00). Das dürfte die meisten seiner Leser nicht gestört haben, denn wer wie Siedler beim Anbruch der NS-Herrschaft sieben Jahre alt gewesen ist, kann naturgemäß wenig authentisch berichten, muß viel aus zweiter Hand nachtragen, sei es aus der Familienüberlieferung oder intensiver Lektüre. Beim nun vorgelegten zweiten Band, der 1947 mit Siedlers Rückkehr in seine verwüstete Heimatstadt einsetzt, hätte der Autor, so sollte man erwarten, auf solche Hilfsmittel verzichten dürfen, denn für diesen Zeitraum, mit dem Schwerpunkt auf den fünfziger und sechziger Jahren, mußte er nur sein Gedächtnis bemühen. Doch so einfach ist es mit der Erinnerung nicht bestellt. Das weiß niemand besser als Siedler, der als Leiter des Propyläen Verlages und später als Chef im eigenen Hause Dutzende von Lebenserinnerungen hat drucken lassen. Auch fleißige Tagebuchschreiber oder Dokumentaristen ihrer selbst können nicht verhindern, daß die Masse ihrer Erlebnisse im Strudel des Vergessens versinkt. Jeder Verkehrsrichter macht täglich die Erfahrung, daß ihm jeder neue Zeuge eine neue Version des Unfallhergangs liefert. Siedler berichtet, wie der langjährige SPD-Spitzenpolitiker Carlo Schmid sich gegen dieses Schicksal gewehrt habe. Er wollte partout „authentisch“ sein, sich aber dabei „nicht nur auf sein Gedächtnis“ verlassen. „So bestehen seine Memoiren zu weiten Teilen aus hineinmontierten Reden, Denkschriften und Bundestagsprotokollen, was ihnen zwar eine gewisse Authentizität gibt, sie aber zu einer langweiligen Lektüre macht.“ Zwischen der Scylla der Gedächtnisschwäche und der Charybdis solcher Gedächtnisstützen muß der Autobiograph also hindurchsegeln, um nicht zu langweilen. Dies ist der märkischen Landratte Siedler gelungen. Obwohl bestenfalls mit Havel und Wannsee vertraut, hat er mit seinen fortwährenden Abschweifungen, Vorgriffen, Ausblicken, mitunter gedankenflüchtig wirkenden Assoziationen und vielen eingeschalteten Reflexionen und zeitkritischen Seitenhieben offensichtlich den richtigen Kurs eingeschlagen: die fünfhundert Seiten mit dem Titel „Wir waren noch einmal davongekommen“ liest man in einem Zug durch. In diesem „man“ steckt allerdings ein kleiner Vorbehalt. Ist doch anzunehmen, daß primär die Generation des Autors seine Erinnerungen verschlingt. Sicher auch noch die Jüngeren, die mindestens die sechziger und siebziger Jahre der alten BRD samt ihres nur auf „Transitwegen“ zugänglichen ummauerten Anhängsels mitten in der „Zone“ erlebt haben und deren Eltern ihnen früh ein eigenes Stück von „Siedlers Welt“ überlieferten: Nationalsozialismus, Krieg, Nachkrieg, Teilung, Wirtschaftswunder, „Verwestlichung“. Ob die heute Dreißigjährigen, von den echten Junioren zu schweigen, sich ähnlich in den Text hineinziehen lassen, ist hingegen zu bezweifeln. Denn der Abstand der Alterskohorten bedingt die Inkompatibilität der Weltbilder. Der melancholische Skeptiker Siedler macht sich über diesen Tatbestand keine Illusionen. Nicht zufällig stellte er seinen „Ansichten vom beschädigten Deutschland“ vor über zwanzig Jahren eine Zeile Heimito von Doderers voran: „Viel ist hingesunken uns zur Trauer/und das Schöne zeigt die kleinste Dauer.“ Auch diese Essays vermittelten, wie er gleich eingangs klarstellte, eher ein „Lebensgefühl“ als eine überzeitliche „Wahrheit“. Und das „Lebensgefühl“ meint ein generationell gebundenes Orientierungsmuster, es trägt einen Kosmos ethischer und ästhetischer Wertvorstellungen, bringt Konsistenz in die stets disparaten Selbst- und Welterfahrungen, stiftet „Sinn“ – und altert mit seinen Trägern. Vor diesem Hintergrund hängt die Intensität der Lektüre gewiß vom Wiedererkennungswert ab, den das Erzählte bietet. Der ist am höchsten für all jene Leser, die sich wenigstens als Passanten irgendwann einmal in der geistigen Topographie Berlins zwischen Steinplatz und Dahlem bewegt haben. Dabei wird Siedler selbst nicht müde, darüber zu klagen, wie ihn auf diesem Terrain nur Ruinen und Restbestände erwartet hätten. Die eigentlichen gesellschaftlichen Zentren, die allen Einbußen zum Trotz auch während der NS-Zeit intakt geblieben waren, gab es nach 1945 nur noch in Rudimenten. Bezeichend dafür ist der von Siedler ganz unpathetisch und doch ergreifend geschilderte Selbstmord zweier adliger Repräsentanten dieser Welt, die freiwillig Abschied nahmen, weil sie ihre letzten Jahre nicht mehr „unwürdig“ verbringen wollten. Die in dieser Trümmerlandschaft trotzdem möglich gewordene kulturelle Aufbruchstimmung wich Mitte der sechziger Jahre. Nicht nur die Industrie, auch die Literaten verließen West-Berlin vor der „bleiernen Zeit“ der Siebziger. Als kurz nach dem Mauerfall der von Siedler hier in seiner Galerie der Nachkriegsprominenz zwischen Gottfried Benn und Jürgen Fehling nur kurz gewürdigte Sergiu Celibidache, 1954 vermeintlich designierter Nachfolger Wilhelm Furtwänglers, „zurückkehrte“, um noch einmal die Berliner Philharmoniker zu dirigieren, hielt Bundespräsident Richard von Weizsäcker inmitten der Musiker stehend eine Begrüßungsrede, und tout Dahlem drängte sich im Konzertsaal am Gendarmenmarkt, um, weißhaarig und tränenumflort, einen magischen Augenblick lang zu glauben, die Suche nach der verlorenen Zeit habe ihr glückliches Ende gefunden. Wer Siedlers Konservatismus zuneigt, der ein ästhetischer, kein politischer ist, dem dürften auch solche seltenen Momente nicht über das Gefühl unüberwindlicher Zeitfremdheit hinweghelfen. Zumal Siedler sehr ausführlich erzählt, wie er schon als junger Mann ein höchst unzeitgemäßer Spätling war. Die architektonische Moderne war ihm früh ein Greuel, mit der kleinbürgerlich-moralisierenden Wohnküchenprosa der Gruppe 47, die er hier mit brillantem Sarkasmus abfertigt, hat er wenig anfangen können, den geschichtsfeindlichen Ökonomismus der Alt-BRD registriert er angeekelt als Gegenwelt, und die diversen „Emanzipations“-Wellen provozieren nur den Spott eines Mannes, der seit 55 Jahren mit derselben Frau verheiratet ist – damit Karl Barths gut calvinistische These bestätigend, daß der Eine halt nur die ihm vorherbestimmte Eine treffen müsse, dann gäbe es keinen „Geschlechterkampf“. Die intellektuelle Provinzialisierung des Landes der Dichter und Denker registriert Siedler früh, fast ein wenig ungläubig, und zur geistigen Lage insgesamt notiert er, es mache sich das „allgemeine Empfinden von Dürftigkeit“ breit. Um exemplarisch zu demonstrieren, daß die von Lemuren bevölkerte Tiefgarage in unseren Tagen erreicht ist, zitiert er Reinhard Baumgarts altes Urteil über eine mediokre Figur, die heute als literaturkritische Instanz ersten Ranges gilt: Marcel Reich-Ranicki schreibe ein „schlechtes Bürodeutsch“, ein „Beigeschmack von Kreidestaub und Tafelschwamm“ halte sich penetrant über seinen Seiten. Wie gesagt, wer mit Siedlers Konservatismus sympathisiert, dürfte sich vielfach bestätigt sehen, fühlt sich in dieser von Seite zu Seite immer stärker gefangennehmenden, so vertrauten Berliner Welt von gestern wie zu Hause, bezahlt aber mit dem Autor auch den Preis dafür: täglich unzeitgemäßer zu werden. Foto: Wolf Jobst Siedler (2.v.r.) und seine Frau Imke mit Vätern, Berlin 1949: Kulturelle Aufbruchstimmung Wolf Jobst Siedler: Wir waren noch einmal davongekommen. Erinnerungen. Siedler Verlag, München 2004, gebunden, 495 Seiten, Abbildungen, 24,90 Euro

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