Man soll die Feste feiern, wie sie fallen. Die Stadt Erfurt feiert in diesem Sommer das "Jahr Meister Eckharts", einzig weil vor siebenhundert Jahren dieser große, in Thüringen geborene Theologe und Prediger des Mittelalters als Ordensprovinzial der Dominikaner für die Provinz Saxonia nach Erfurt kam. Das ist zweifellos bemerkenswert. Ob es, wie angepeilt, der Tourismusbranche nützt, muß sich freilich erst erweisen. Es gibt Veranstaltungen über den "Europäer Eckhart", über den "Mystiker und seine geistige Nähe zum Buddhismus", was aber fehlt, ist ein spezieller Blick auf den Sprachschöpfer Eckhart, der die deutsche Sprache, nicht zuletzt die deutsche Wissenschaftssprache, tief beeinflußt und entscheidend mitgeprägt hat.
Meister Eckhart war der erste, der auf deutsch, mittel-hochdeutsch, lehrte, und zwar mit solcher Gewalt und Farbenkraft, daß die meisten seiner Wortschöpfungen den späteren Übergang zum Neuhochdeutschen spielend überdauerten, ja, den Übergang teilweise sogar erst ankurbelten. Mit Meister Eckhart kam die erste Welle philosophischer Begrifflichkeit in die deutsche Sprache. Die zweite, nebenbei, kam mit Christian Wolff im achtzehnten Jahrhundert, die dritte mit Hegel im neunzehnten, die vierte mit Heidegger im zwanzigsten.
Jedesmal wurden eine Menge neuer Wörter gebildet, doch das war nicht einmal das Entscheidende. Entscheidend war vielmehr, daß mit den Wörtern die ganze Sprache in ihrer grammatischen Grundstruktur getestet und geformt wurde, daß Formprinzipien offenbar gemacht wurden, die nicht nur gänzlich neue Kontexte ermöglichten, sondern die Sprache insgesamt in eine höhere, geistigere, spirituellere Dimension rückten.
Heutige Wörter, die längst zu gehobenen Alltagswörtern geworden sind, "Inbegriff", "Ebenbild", "Schöpfungsakt", "Fleischwerdung" und viele, viele andere, wurden damals von Meister Eckhart ganz ad hoc beim Predigen und beim Umgang mit seinen Schülern geschaffen und von diesen eifrig aufgeschrieben und weiterverbreitet. Sie standen nicht nur glänzend für sich selbst, sondern verwiesen in fast unendlicher Vielfalt auf der Sprache innewohnende Möglichkeiten zur Weiterentwicklung, und zwar beileibe nicht im Stile bloßer Ausschmückung.
Was statt dessen mit jeder neuen Bildung mitentdeckt wurde, war ein semantischer "Quellgrund" (auch dies eine Eckhartsche Schöpfung), an dessen Wasser sich die nachdenklichen und an Sprache interessierten Geister erquicken und in Fahrt bringen lassen konnten. Insofern reichte der Eckhartsche Sprachvulkan weit über Philosophie und Gottesgelehrsamkeit hinaus, zumal da unter seinen Schülern ausgesprochene Poeten waren, die die literarische Dimension der Neubildungen sofort erkannten und für sich nutzten, man denke an Heinrich Seuse, Johannes Tauler, Thomas a Kempis.
Luthers Bibelübersetzung, die ja zu Recht als Anfangsdokument des Neuhochdeutschen gilt, wäre ohne Meister Eckhart nicht möglich gewesen, Hans Sachs und die späten Minnesänger auch nicht und nicht die großen schlesischen Dichter des Dreißigjährigen Krieges und nicht Angelus Silesius, der "cherubinische Wandersmann".
Wahrscheinlich war es ein Glück, daß die meisten Predigten und Ermahnungen Meister Eckharts nicht von ihm selbst zu Pergament gebracht wurden, sondern Nachschriften seiner unmittelbaren Schüler und Sekretäre sind, mit den unvermeidlichen Zusätzen und Entstellungen. Vielleicht kam dadurch erst das zutiefst Spontane des Vorgangs zur Geltung, der Umstand, daß hier nicht ein einzelner irgendwelche Wörter erfand, sondern daß, wie Heidegger das genannt hat, "die Sprache selbst" sprach.
Allerdings, Meister Eckhart hat beileibe nicht nur deutsch geschrieben. Das weiß man übrigens erst seit 1886, als man in einem Kölner Kloster einen ganzen Packen philosophisch-theologischer Literatur in lateinischer Sprache fand, der unbezweifelbar von Meister Eckhart stammte. An Eckharts auf deutsch überlieferter Lehre hat das nichts geändert.
Das Paradox an diesem Meister ist: Er steigt als einer der ersten aus der weiträumigen lateinischen Sprache aus, wechselt in die (damals) viel begrenztere Volkssprache – und gerade dadurch wird seine große Verwandtschaft mit den alten, erhabenen asiatischen Weistümern, die in Erfurt so schön herausgestellt wird, deutlich und überdeutlich, die Verwandtschaft mit Zarathustra, mit dem chinesischen "Tao" des Lao-Tse, mit Buddhas "Nirwana".
Die Vernunft, von der beim "Mystiker" Eckhart durchaus die Rede ist und die die Seele auf ihrer Wanderschaft leitet, wird als Feuer vorgestellt, genau wie bei den Zarathustra-Jüngern, als Feuerfunken, und weiter beschrieben wird sie als "Bürglein in der Seele". Die Wahrheit obsiegt, wenn es dem Bürglein gelungen ist, alle unguten, ungeklärten, hinabziehenden Wollungen der Seele wegzubrennen und sie "rein" zu machen.
Eckhart sagt nicht "rein" machen, sondern "arm" machen. Die Seele muß "arm" und "einfach" gemacht werden, wenn sie zur Erkenntnis aufsteigen will. Und weil sie wirklich dazu fähig ist, ist sie etwas Ungeheures und darin Gott Ebenbürtiges, das Karman zum Brahman, eine "Lauterkeit", wie Eckhart gewohnt sprachschöpferisch sagt. Das Fünklein ist Teil des göttlichen Weltfeuers und deshalb "unerschaffen" und "unerschaffbar", eben in diesem Punkt Gott, dem "lauteren Nichts", ebenbürtig.
Als Meister Eckhart diese Einsicht auch "europäisch", nämlich lateinisch, formulierte (aliquid est in anima, quod est increatum et increabile. Et hoc est intellectus), wurde er vom Kölner Erzbischof der Ketzerei bezichtigt, und das entsprechende Pergament wurde verbrannt. Aber in der deutschen Predigt blieb alles aufgehoben und könnte nun in Erfurt bekakelt werden.