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Marc Jongen, ESN Fraktion

Und täglich streut der Sandmann

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Weihnachts-Abo, Weihnachtsbaum, Zeitungen

Die Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern haben das erwartete Mehltau-Ergebnis gebracht. Die erfolglose rot-rote Regierung unter Ministerpräsident Harald Ringstorff (Spottname „Onkel Bräsig“), der man auch für die nächsten vier Jahre nichts Besseres zutraut, wurde eindeutig bestätigt, weil man von der CDU-Opposition noch weniger erwartet. Nicht einmal ein Aufbäumen – wie vor Monaten in Sachsen-Anhalt – war zu spüren. Eine Analyse entlang der parteipolitischen Frontlinien ist unergiebig, denn die Lethargie im Land ist allgemein und hat tieferliegende Gründe als Parteiprogramme. Mecklenburg-Vorpommern umfaßt den nördlichen Teil der ehemaligen DDR. Leiser Widerstand gegen den SED-Staat regte sich dort erst, als die Sachsen und Thüringer bereits an dessen Fundamenten rüttelten. Auch heute gibt es im Land keine gesellschaftliche Gegenbewegung zur politischen Depression. Man darf diese Passivität nicht einfach zur norddeutschen Bedächtigkeit stilisieren (obwohl die natürlich eine Rolle spielt), sondern sie als Folge und Ausdruck tiefsitzender Ausprägungen und Beschädigungen begreifen, die aus dem DDR-System herrühren. Zwölf Jahre Freiheitlich-Demokratischer Grundordnung (FDGO) haben daran wenig geändert. Politische Kreativität, Mündigkeit, Widerspruchsgeist, die nun gebraucht werden, würden einen Bruch mit der anerzogenen Mentalität voraussetzen. Der wiederum ist ohne Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit nicht zu haben. Das Gegenteil ist der Fall. Gewiß, die rot-rote Koalition hat die PDS politisch entzaubert, doch der Preis dafür wird mit einer erdrückenden Gleichgültigkeit und Schlußstrichmentalität bezahlt, die mit einer importierten, also fremdbestimmten Zukunftsrhetorik camoufliert wird. Die Enthüllungen alter Seilschaften in den PDS-Ministerien sind bloß die spektakulärsten Symptome für das Fortleben vertrauter Verhaltensstrukturen. Die Selbstreflexion steckt voller Ausflüchte Das könnte die Stunde freier Medien sein, die diesen Prozeß endlich aufbrechen und umkehren. Die Anstöße dazu müßten aus den Landesmedien, vor allem aus der Lokalpresse kommen. Regionalzeitungen haben in den neuen Bundesländern eine noch größere Bedeutung als in den alten. Da die überregionale Qualitätspresse ihre Wurzeln und das Zielpublikum ausnahmslos im Westen hat, wird sie in den neuen Ländern, jedenfalls von der breiten Leserschaft, kaum wahrgenommen. DerSpiegel wird wenig gelesen, von der Zeit oder der FAZ ganz zu schweigen. Die einzigen überregionalen Ost-Zeitungen sind hier das PDS-Blatt Neues Deutschland und die bunte Superillu aus dem Burda-Verlag. Mit 180.000 Exemplaren ist die in Rostock erscheinende Ostsee-Zeitung (OZ) die größte Zeitung des Landes, in den nördlichen Kreisen hat sie de facto ein Monopol inne. Vor wenigen Wochen beging sie ihr 50. Jubiläum und brachte dazu eine ebenso umfang- wie aufschlußreiche Sondernummer heraus. Die OZ ist ein Blatt mit Vergangenheit. 37 Jahre lang, von 1952 bis 1989, war sie das Rostocker SED-Bezirksorgan. Der aktuelle Chefredakteur Gerd Spilker gehörte damals schon zum Inventar. Für die Seite Drei hat er einen großen Beitrag verfaßt. Kritik und Selbstkritik beschränken sich darin auf einen einzigen Satz: „Journalismus wurde der Freiheit beraubt zur Hure, Journalisten wurden mißbraucht – und ließen es geschehen.“ Das ist die einzige kritische Selbstreflexion auf insgesamt 108 Zeitungsseiten, und auch die steckt voller Ausflüchte. Durch das Weglassen der bestimmten Artikel wird die Verhurung des DDR-Journalismus anonymisiert und auch denjenigen, die an dieser Verhurung aktiven Anteil hatten, eine Hintertür offengelassen, durch die sie sich davonstehlen können – sie brauchen diese vage Zuschreibung ja nicht auf sich zu beziehen. Der „Mißbrauch“ scheint ausschließlich passiv erfolgt zu sein, man „ließ es geschehen“ und war selber Opfer eines unerklärlichen Fatums. In Wahrheit waren Journalisten nicht selten „hundertfünfzigprozentige“ Aktivisten, die den äußeren auch als inneren Auftrag verstanden und ihren Ehrgeiz darin setzten, der von oben angezogenen Meinungsschraube eine zusätzliche Umdrehung zu verleihen. Kein Zwangssystem, erst recht kein real existierender Sozialismus, kommt ohne beflissene Helfer aus. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es interessant zu erfahren, wie die OZ – um nur einige Beispiele zu nennen – mit der zwangsweisen Kollektivierung der Landwirtschaft, mit der unter schwersten Rechtsbrüchen und Menschenrechtsverletzungen erfolgten Enteignung der Hotels und Pensionen entlang der Ostsee, mit dem Mauerbau oder der Biermann-Affäre umgegangen ist, oder wie sie den Verfall der Greifswalder Altstadt bis 1989 verharmlost hat. Die Aussicht auf ehrliche Selbstaussprache, die freie Rede über erlittene und zugefügte Verletzungen war 1989/90 eine der wichtigsten Chancen überhaupt. Diese Chance ist größtenteils vertan worden, die Angepaßtheit von damals wird unter neuen Vorzeichen fortgeschrieben. Die OZ argumentiert heute so glatt und gedankenlos freiheitlich-demokratisch, wie sie ehedem den „Sozialismus in den Farben der DDR“ verteidigte, sie hält die korrekte Mitte zwischen Zukunftsorientierung und selektivem Vergangenheitsbewußtsein, daß niemand im Lande aufgestört wird und andererseits die Presseschau des Deutschlandfunks Notiz von ihr nimmt. Mit Querdenkern geht man um wie gehabt. Der bekannte Umweltforscher und Alternative Nobelpreisträger Michael Succow zum Beispiel, der harsche und kluge Kritik an der Zerstörung von Naturräumen übt, beklagt sich über die ihm entgegengebrachte Ignoranz. Daß solche opportunistischen Verhaltensweisen unter tätiger Mithilfe aus dem Westen konserviert wurden, ist einerseits ein Skandal, kann aber nicht wirklich erstaunen. Die Zeitung gehört heute zum Springer-Verlag, und so kommt es, daß der eigentliche, richtungsweisende Leitartikel, der die Zeit nach 1989 behandelt, auf Seite vier von einem „Wessi“, einem ehemaligen Hörzu-Chefredakteur, stammt, der zwischen 1992 und 1994 auch als Herausgeber fungierte. Über den 18. Januar 1990 heißt es: „Gerd Spilker, amtierender Chefredakteur (…) fightet am Runden Tisch für eine unabhängige Ostsee-Zeitung…“ Neugegründete Zeitungen hatten keine Chance Über den affigen, der Situation von damals gänzlich unangemessenen Springer-Anglizismus sehen wir hinweg, denn ein paar Sätze weiter wird es wirklich interessant. Wir erfahren nämlich, daß der eigentliche „Fight“ um Meinungs- und Pressefreiheit zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr in den gerade konstituierten demokratischen Strukturen der DDR stattfand, sondern in Rostocker und Lübecker Hinterzimmern. Schon am 29. Dezember 1989 hatte der Geschäftsführer der Lübecker Nachrichten „aus Neugierde“ dieOZ-Redaktion aufgesucht. „Bei den unverbindlichen ersten Kontakten bleibt es nicht. Chefredakteur Spilker trifft sich noch einmal unter vier Augen mit dem Lübecker Verlagschef, dessen Unternehmen mit dem finanzstarken Springer-Konzern eng verzahnt ist.“ Die Ostsee-Zeitung hatte einiges zu bieten: die Abonnentenkartei, eine angestammte Leserschaft, das Regionalmonopol, Druckkapazität, Redaktions- und Vertriebsstrukturen. Springer verfügte über Kapital und über das nötige Renommee, um den Ruch der SED-Vergangenheit zu neutralisieren. Die OZ-Journalisten, voller Angst um ihre Arbeitsplätze, begaben sich flugs, statt die nötige Trauerarbeit zu vollziehen, unter die Fittiche einer neuen Fremdbestimmung. Angesichts solcher Mauscheleien hatten neugegründete Zeitungen wegen Kapitalmangels, Unerfahrenheit und Standortnachteilen von Anfang an keine Chance. Anfang 1990 gab es den Versuch, mit der Mecklenburgischen Volkszeitung an die Tradition einer sozialdemokratischen Vorkriegszeitung anzuknüpfen. Blättert man in den wenigen erschienenen Exemplaren, erkennt man das Bemühen, sich Klarheit über die eigene Vergangenheit zu verschaffen und zugleich die neuen Heilsversprechungen aus dem Westen kritisch zu hinterfragen, kurzum: endlich mündig zu werden. Die gesellschaftliche Lethargie in Mecklenburg-Vorpommern hängt nicht zuletzt mit dem Scheitern solcher emanzipatorischen Bemühungen zusammen. Statt dessen triumphierte die Ostsee-Zeitung, um seitdem der allgemeinen Trägheit eine Stimme zu geben und sie zugleich zu pflegen. Dem Bündnis zwischen Westkapital und Parteipersonal, zwischen den Erben Axel Springers und den Satrapen der SED sei Dank! Um die gesellschaftliche Bedeutung seiner Zeitung zu demonstrieren, schreibt Spilker: „OZ-Leser haben dem Sandmann im Kinderprogramm zum Überleben verholfen.“ Das Sandmännchen ist ein harmloses bärtiges Kerlchen, das am frühen Abend den Kindern Sand in die Augen streut und sie in den Schlaf lullt. Oder verwechseln wir ihn da mit „Onkel Bräsig“?

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