35 Jahre Deutsche Einheit: Auch wenn manches im Argen liegt – gibt es an Deutschland nicht eine Menge zu feiern?
Denkmalschutz: „Reko statt Abriß“
Blühende Landschaften“ hatte Helmut Kohl 1990 versprochen. Und wenn man sich die vielerorts sanierten Ortschaften in den östlichen Bundesländern anschaut, dann ist das Versprechen auf diese Weise eingelöst worden. Ohne die „Wende“ müßten heute zahlreiche Baudenkmale und ganze Stadtbilder als verloren bewertet werden. Jahrzehntelange Verwahrlosung, Flächenabrisse und der Ersatz historischer Gebäude durch Plattenbauten gehörten zur SED-Melange aus ideologischer Verbohrtheit, Unfähigkeit und schlechtem Geschmack. Beispiel Halberstadt. Nach dem us-amerikanischen Bombenangriff von April 1945, dem 600 Fachwerkhäuser zum Opfer fielen, riß die DDR im Lauf ihres Bestehens weitere 600 Gebäude ab. Auch ein großer Teil der verbliebenen etwa 450 Häuser wäre ohne die „Wende“ noch gefallen.
Doch bereits 1990 wurde mit der Bürgerinitiative „Reko statt Abriß“ das Ruder herumgerissen. Beispiel Görlitz. Die von Gründerzeit-Prachtbauten geprägte Stadt war von der DDR-Führung bereits zum weitgehenden Abriß vorgesehen. Das verhinderte die „Wende“, und ein beispielhafter Sanierungsboom brachte bald eine architektonische Perle zum Vorschein. Beide Beispiele stehen für zahlreiche Ortschaften und einen unvorstellbaren Verlust an Kulturgut, der in letzter Minute abgewendet werden konnte. Doch nicht nur das. Rekonstruktionen nach 1990 holten bereits verlorene Stadtbilder zurück: Die historischen Zentren Dresdens und Potsdams sowie das Berliner Schloß. Und befruchtete auch Bemühungen im Westen. Beispiel: Die umkämpfte Rekonstruktion der Altstadt in Frankfurt am Main.
Claus-M. Wolfschlag
Neo Rauch zählt zu den drei Lebenden im „Met“
In der DDR war der Maler Neo Rauch Honorarprofessor, immerhin. Im Jahr 2019, 30 Jahre nach der Wende, kaufte der amerikanische Schauspielstar Brad Pitt sein Gemälde „Etappe“ für knapp eine Million Dollar. Einige Minuten lang soll Pitt unentschlossen vor dem Bild gestanden und mit seinem Bart gespielt haben, bevor er den saftigen Geldbetrag hinlegte.
Anders gesagt: Neo Rauch ist so etwas wie Rammstein mit Staffelei, eine ostdeutsche Erfolgsgeschichte, die von Sachsen bis zum Weltruhm reicht.

Geboren wurde der gebürtige Leipziger 1960. Seine Eltern kamen vier Wochen nach der Geburt bei einem der schwersten Bahnunglücke der deutschen Nachkriegszeit ums Leben (ein möglicher Grund für die Tatsache, daß Zugmotive bis in die heutige Zeit immer wieder in Rauchs Gemälden auftauchen). Überhaupt, die Symbolik: Rauchs Gemälde sind eine Art surreale Abspaltung der sozialistisch-realistischen Leipziger Schule, sind Kaleidoskope voller archetypischer, mittelalterlich erscheinender Figuren (Schmiede, Ritter, Kaufmänner), perspektivischer Verzerrungen und unerklärlicher Symbolik.
2002 löste die renommierte amerikanische Kunstkritikerin Roberta Smith schließlich mit einem Artikel in der New York Times einen internationalen Hype um Rauch aus – als einer von drei lebenden Künstlern hängen seine Werke heute im New Yorker „Met“, dem Metropolitan Museum of Art.
Lorenz Bien
Die DDR gab Deutschland Kräfte für Weltmeistertitel
Wenn niemand geringeres als der fünffache Weltfußballer Cristiano Ronaldo nach deiner Karriere öffentlich verkündet: „Was für eine Ehre, das Feld mit dir zu teilen“, dann hast du offensichtlich einiges richtig gemacht.
Der 1990 im mecklenburg-vorpommerschen Greifswald geborene Toni Kroos ist der erfolgreichste deutsche Fußballer aller Zeiten: Deutscher Meister und DFB-Pokalsieger in mehrfacher Ausführung. Weltmeister, jahrelang Spielmacher und Gehirn von Real Madrid, sechsmaliger Champions-League-Sieger – niemand gewann die Krone des europäischen Vereinsfußballs öfter.
Kroos war ob seiner maßgenauen Pässe, seiner beinahe übernatürlichen Spielintelligenz und seines Gespürs, wann es einen riskanten Ball übers halbe Feld, und wann es einen sicheren Rückpaß braucht, um Ruhe reinzubringen, maßgeblich verantwortlich für den WM-Sieg 2014. Außerhalb des Platzes gilt er als bescheiden und umgänglich.
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Kroos reiht sich ein in eine ganze Riege von ostdeutschen Fußballern, die die DFB-Auswahl maßgeblich geprägt haben. Da wäre der letzte deutsche Weltfußballer Matthias Sammer – von Mitspielern geliebt, von Gegnern als beinharter Abwehrspieler gefürchtet.
Der geborene Sachse Michael Ballack, der Anfang der 2000er Jahre in einem der schwächsten deutschen Jahrgänge aller Zeiten zusammen mit Oliver Kahn die Nationalmannschaft durch düstere Zeiten geführt hat, ist ein weiterer. Die Liste ließe sich lange fortführen. Fakt ist: Ohne die harte Arbeit und das Talent von Spielern aus der ehemaligen DDR würden das DFB-Trikot wohl kaum vier Sterne auf der Brust zieren.
Vincent Steinkohl
Auch Westler lernen, zwischen den Zeilen zu lesen
Im Prinzip ja, aber …“ Diese Antwort des fiktiven Propagandasenders Radio Eriwan war in den sozialistischen Ländern vielen Zeitgenossen ein Begriff. Damit wurde die Methode karikiert, mit der staatliche Medien meist schönfärberisch das Gegenteil dessen auszudrücken versuchten, was angesichts der jedem offenkundigen Misere nicht zu leugnen war.
Daraus entspann sich über die Jahrzehnte die Fähigkeit, zwischen den Zeilen lesen zu können, und nährte ein Grundmißtrauen gegenüber allen Verkündigungen des Nannystaates, der seine Bürger mit Zerrbildern zu erziehen trachtete. Im DDR-Alltag wußten viele, diese „objektiven Wahrheiten“ (Lenin) über Freiheit, Planerfüllung, sozialistische Errungenschaften oder „Wahlen“ leicht zu durchschauen – die allzu dreiste Fälschung der DDR-Kommunalwahl im Mai 1989 erschütterte schließlich selbst bei den Hartleibigsten die letzte Glaubwürdigkeit des Systems.
Aufschlußreicher war oft auch das, was eben nicht gesagt wurde oder werden durfte. Nach der Wende nutzten im Arbeiter- und Bauernparadies sozialisierte Schriftsteller wie Uwe Tellkamp, Monika Maron, Jörg Bernig oder Matthias Wegehaupt die diesem Fundus der Wiedersprüche von Sein und Schein entspringenden Spannungsbögen, um ihren Romanen eine reizvolle gesellschaftspolitische Schlagkraft zu verschaffen.
Lügen hatten natürlich auch in der Bundesrepublik vor 1989 allzeit Konjunktur. Dennoch haben 35 Jahre nach der Wiedervereinigung viele der treugläubigen „Tagesschau“-Zuschauer im Westen allmählich lernen müssen, offiziellen Verlautbarungen aus Politik und Medien die gleiche Skepsis entgegenzubringen, wie sie den Brüdern und Schwestern im Osten schon lange antrainiert war. Das Lesen zwischen den Zeilen ist heute eine gesamtdeutsch eingeübte Praxis geworden. Objektive Wahrheiten über „unsere Demokratie“, „Haß und Hetze“, „junge Männer“, „Faktenchecks“ etc. pp sind jetzt auch den Menschen an Rhein und Donau geläufig, auch wenn viele für ihr Damaskus-Erlebnis erst die Propaganda zur Massenmigration nach 2015 oder der Corona-Pandemie benötigten.
Matthias Bäkermann
Liebesfäden spinnen sich von Land zu Land
Fragte Theodor Storm in einem Gedicht („An die Freunde“) einst so ahnungsvoll: „Wird uns wieder wohl vereinen / Frischer Ost und frischer West?“ Die Wiedervereinigung führte nicht nur zwei 40 Jahre getrennte Territorien Deutschlands zusammen, sondern ein ganzes Volk. Über vier Millionen Ost-West-Ehen sind seit 1990 geschlossen worden!

Wie viele Paare ohne Mauerfall und deutscher Einheit nicht denkbar wären: Die in Jena geborene Sahra Wagenknecht und der aus dem Saarland stammende Oskar Lafontaine, das in Bergisch Gladbach (NRW) geborene Model Heidi Klum und der aus Leipzig stammende Musiker Tom Kaulitz, der Münsteraner Publizist Matthias Matussek und seine Frau Ulrike Matussek aus Ost-Berlin, die aus Dresden stammende Buchhändlerin Susanne Dagen und ihr Partner Michael Bormann aus Köln – oder der in Ingolstadt geborene JF-Chefredakteur Dieter Stein und seine Dresdner Ehefrau Antje Stein. Theodor Storm schloß sein Gedicht – als hätte er an die vereinte Nation gedacht: „Und an seines Hauses Schwelle / Wird ein jeder festgebannt;/ Aber Liebesfäden spinnen /Heimlich sich von Land zu Land.“
Dieter Stein
In Protest und Wut vereint
Als 1990 die Protestwelten aufeinanderprallten, war das, als träfe ein durchstrukturiertes West-Orchester auf einen spontanen Ost-Posaunenchor. Der Westen hatte bereits bei den 68ern, der Anti-Atom- und der Friedensbewegung eine ritualisierte Kultur entwickelt: Grüne, Linke und Liberale sammelten sich in Metropolen und arbeiteten sich an Ozon, Gleichberechtigung und AKWs ab. NGOs verwandelten das in eine feinabgestimmte Maschinerie.
Dann kamen die neuen Bundesländer und brachten zwei essentielle Dinge mit: das „Montags-Gen“ und die „Vor-Ort-Demokratie“. Während der Wessi oft Anlässe suchen mußte, ging der Osten einfach montags raus. Protest als Ritual. Noch wichtiger: Im Westen wurde im Zentrum demonstriert. Der Osten zeigte, daß auch die Provinz Krach machen kann. Während die Bewegungen im Westen allermeist in den Großstädten blieben, entfaltete sich der populistische Moment in den Mittelstädten Sachsens, im Harz und rund um die Hauptstadt. Man protestiert, da wo man wohnt – nicht in Berlin. Wenn in Plauen 5.000 Menschen auf der Straße sind, ist das mehr als 50.000 in Hamburg. In Plauen kennt jeder jeden: Der Mut zur unbequemen Meinungsäußerung hat einen höheren Preis.
Zudem ging es im West-Protest oft subtiler zu: Atomkraft abschaffen: Jetzt oder tendenziell? Klima retten: Reicht auch bis 2050? Die Proteste im Osten waren stets von einer schlichten Wucht geprägt. 1990er Jahre: Arbeitsplatz weg. Alle auf die Straße! Später. Pegida: „Wir sind das Volk.“ Corona war mit wöchentlichen Spaziergängen und zentralen Großveranstaltungen wohl der erste gesamtdeutsche Protest.
Mathias Pellack
Die Kaderschmieden der Künstler
Die Dirigenten Kurt Masur und Sebastian Weigle, die Opernsänger Peter Schreier und Gunther Emmerlich, der Thomanerchor in Leipzig , der Kreuzchor in Dresden, das Vogler-Quartett, der Hornist Peter Damm und der Trompeter Ludwig Güttler, sie alle haben die reiche Kulturlandschaft der DDR mit ihren Theatern, Orchestern, Schauspielstätten und Opernhäusern in das wiedervereinigte Deutschland getragen. Hoch- und Spezialschulen wie in Berlin, Leipzig und Weimar, Ensembles wie das Gewandhaus oder die Komische Oper, sie brachten Künstler von Weltrang hervor, die nach dem Mauerfall die Bühnen von Bayreuth, Hamburg, Bamberg und Frankfurt am Main im Sturm eroberten.
Daran hatte auch eine musikalische Erziehung seinen Anteil, die Talente schon im Kindergarten, als Musikschüler, erfaßte und sie bis ins hohe Alter, als Kammersänger, -Musiker und -Virtuosen in Amt und Würden, begleitete – kaum vorstellbar im Einheitsland, wo Klavierlehrer sich von einer halben Stelle zur nächsten hangeln und der Deutschrap hörende Nachwuchs nicht üben muß, wenn er wieder einmal keine Lust hat.
Wie sehr sticht dagegen der Auftritt des Baßbaritons Theo Adam als Hans Sachs in Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ an der Metropolitan Opera in New York heraus. Glanzkarrieren wie diese haben bei Auftritten in den entlegensten Winkeln der Republik wie der „Stunde der Musik“ in Joachimsthal, irgendwo mitten in der brandenburgischen Schorfheide ihren Anfang genommen. Selbst in Bauernhöfen und Kasernen standen oft noch irgendwelche alten Instrumente herum. Auch wenn die Bundesrepublik sich später nicht viel aus diesem Erbe gemacht hat – es hat etwas aus ihr gemacht.
Florian F. Werner





