Das Stockholm-Syndrom dürfte angesichts der ab 8. Januar angekündigten Streiks der Lokführergewerkschaft GDL bei den Bahnreisenden kaum aufkommen. Unbeteiligte Dritte werden quasi als Geiseln genommen, um den Forderungen Nachdruck zu verleihen. Doch was ist die rechtliche Grundlage? Artikel 9 des Grundgesetzes garantiert die Tarifautonomie. Indem die Arbeitsmarktparteien eigenständig die Konditionen aushandeln dürfen, ist es zum einen ein Abwehrrecht gegen staatliche Bevormundung und Eingriffe in die Lohnfindung. Wenngleich der gesetzliche Mindestlohn, die Sozialversicherungspflicht und verschiedene Bestimmungen zum Arbeitnehmerschutz dagegen sprechen. Zum anderen liegt hier eine Ausnahme vom generellen Kartellverbot (Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen) vor.
Denn sowohl die Arbeitgeber wie auch die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer verhandeln jeder mit einer Stimme. Doch neben der GDL gibt es noch die größere Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) im DGB. Diese Konkurrenz verleitet zu erhöhten Forderungen. Die GDL vertritt etwa 30.000 der bundesweit 47.000 Lokführer in den rund hundert Bahngesellschaften. 10.000 der Lokführer der bundeseigenen Deutschen Bahn (DB) sind in der GDL organisiert, die damit über eine starke Verhandlungsmacht gefügt. Mit dem DB-Konkurrenten Netinera (deutsche Tochter der italienischen Staatsbahn FS) konnte die GDL vor Weihnachten die 35-Stunden-Woche durchsetzen. Die wird aber erst wirksam, wenn auch die DB diese Regelung übernimmt.
Das deutsche Arbeitskampfrecht ist Richterrecht, und das Bundesarbeitsgericht ist in vergangenen Jahren durch eine eher gewerkschaftsfreundliche Urteilsfindung aufgefallen, was wohl auch dem abnehmenden Organisationsgrad geschuldet sein könnte. Galt früher der Streik als letztes Mittel, so ist er inzwischen quasi jederzeit erlaubt. Lediglich zwei unumstößliche Eckpfeiler gibt es weiterhin: eine Friedenspflicht bei bestehendem Tarifvertrag und das Gebot der Tarifbezogenheit der Forderungen.
Bahnstreiks müssen rechtzeitig angekündigt werden
Das heißt, es darf beispielsweise kein Betriebserhalt erstreikt werden. Durch den Lokführerstreik stehen den zahlreichen Bahnkunden elementare, notwendige und kaum ersetzbare Dienstleistungen der Daseinsvorsorge nicht mehr zur Verfügung. Ein streikbedingter Entzug solcher Dienste – dazu zählen auch die medizinische Versorgung, Gas, Strom, Wasser sowie Feuerwehr, Polizei und Kinderbetreuung – betrifft die Allgemeinheit in ihren grundrechtlich geschützten Interessen. Deshalb hat die GDL besondere Pflichten einzuhalten, wie eine hinreichende Ankündigungszeit und die Aufrechterhaltung eines Notfallplanes.
Eine 28stündige Vorlaufzeit wie bei den GDL-Streiks vor Weihnachten dürfte eindeutig zu knapp sein. Auch wäre ein planmäßig-zuverlässiger Zweistundentakt nötig. Zudem steht in Frage, ob beispielsweise ein fünftägiger Streik im Januar mit entsprechenden Folgen für die Lieferketten noch als angemessen gelten kann. Für diese Gemeinwohlbelange trägt der Staat typischerweise eine Gewährleistungsverantwortung. Notfalls müßte er die GDL zu entsprechenden Streikmilderungen zwingen. Denkbar wäre auch ein Schlichtungszwang bis hin zu einer staatlichen Zwangsschlichtung. Auch Gewerkschaftsaristokraten sind in die rechtlichen Schranken zu verweisen, soll ihr Arbeitskampf nicht anarchisch-willkürliche Züge zum Schaden für Gesellschaft und Wirtschaft annehmen.