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An den richtigen Themen dran: Lutz Seiler: Ein sprachmächtiger Wortkünstler

An den richtigen Themen dran: Lutz Seiler: Ein sprachmächtiger Wortkünstler

An den richtigen Themen dran: Lutz Seiler: Ein sprachmächtiger Wortkünstler

Auf dem Foto befindet sich Lutz Seiler während einer Preisverleihung. (Themenbild)
Auf dem Foto befindet sich Lutz Seiler während einer Preisverleihung. (Themenbild)
Lutz Seiler: Ein mehrfacher Preisträger – laut Dietmar Mehrens nicht zu Unrecht. Foto: picture alliance/dpa | Jörg Carstensen
An den richtigen Themen dran
 

Lutz Seiler: Ein sprachmächtiger Wortkünstler

Am 4. November erhält Lutz Seiler den Georg-Büchner-Preis. Der ostdeutsche Schriftsteller machte sich mit Bestseller-Romanen wie „Kruso“ und „Stern 111“ einen Namen – doch sein eigentliches Steckenpferd ist die Lyrik. Dietmar Mehrens erzählt den ungewöhnlichen Werdegang des mehrfach preisgekrönten Wortkünstlers.
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Bereits vor knapp zehn Jahren geriet Lutz Seiler in die Schlagzeilen, als die Jury des Deutschen Buchpreises befand: „Kruso“ ist der beste Roman des Jahres. „Kruso“, ein gewaltiges Romanprojekt, das Recherchen zu Diktaturmüden, die von Hiddensee auf die dänische Nachbarinsel Møn fliehen wollten, mit einem Aussteiger- und DDR-Subkulturporträt verband, war Seilers erster Roman, ein Werk voller poetischer Sätze, das das große Geschichtsbild im kleinen gespiegelt wissen möchte.

In Darmstadt wird dem 60jährigen Autor dieses Wochenende nun – und das wird auch an „Kruso“ liegen – erneut ein großer Preis verliehen: der Georg-Büchner-Preis, die bedeutendste Würdigung für das Gesamtwerk eines Schriftstellers im deutschen Sprachraum, dotiert mit 50.000 Euro. Die Laudatio hält der Literaturwissenschaftler Lothar Müller.

Vom Handwerker zum Sprachkünstler

Seilers Weg in die Literatur verlief unorthodox. Der am 8. Juni 1963 in Gera geborene Dichter ließ sich zum Baufacharbeiter ausbilden und arbeitete als Maurer und Zimmermann. Während seiner Dienstzeit in der NVA begann er sich der Literatur zuzuwenden, studierte anschließend Geschichte und Germanistik in Halle an der Saale. 1990 ging er – wie der Protagonist seines zweitens Romans „Stern 111“ – nach Berlin.

Er unternahm erste dichterische Versuche, die 1995 in den Gedichtband „berührt / geführt“ mündeten. Es folgten, im gleichen Stil, „pech & blende“ (2000) sowie „vierzig kilometer nacht“ (2003), Essays und 2007 die von Heinrich Heine inspirierte Erzählung „Turksib“ über eine winterliche Reise durchs radioaktiv verseuchte Kasachstan, ausgezeichnet mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis. Zu „Turksib“ gesellte sich im selben Band die kurze Erzählung „Die Anrufung“. Viel Lob erhielten auch die Prosastücke in „Die Zeitwaage“ (2009). Mit „Kruso“ wurde Lutz Seiler dann 2014 schlagartig einem großen Publikum bekannt.

Wo Ostmuff auf William Golding trifft

Lutz Seiler: Kruso. Roman. Suhrkamp, Berlin 2014, gebunden, 484 Seiten, 22,95 Euro. Jetzt beim JF-Buchdienst bestellen.

In dem Romandebüt verläßt ein lebensmüder Student namens Edgar Bendler, 24 Jahre jung, nach dem Unfalltod seiner Freundin abrupt seine Studentenbude in Halle an der Saale und strandet auf Hiddensee. Hier ist er eine Weile obdachlos und lebt wie ein Landstreicher, kann aber schließlich als Küchenhilfe in dem Restaurant „Zum Klausner“ auf einer Anhöhe im Nordwesten der Insel anheuern, wo ihm als SK („Saisonkraft“) auch eine Unterkunft gestellt wird.

Im Abwaschbereich des Lokals nimmt ihn der verwaiste Halbrusse Alexander Krusowitsch, genannt Kruso, unter seine Fittiche, ein indianisch wirkender Typ, den eine besondere Aura umgibt. Er weist Edgar in die Gesetze der Küchenarbeit ein wie ein indianischer Schamane, der seinen Zögling in die Geheimnisse einer mythischen Welt einweiht. Die beiden jungen Männer verbindet bald eine seltsame Freundschaft mit dekadent-homoerotischen Zügen, getragen von der gemeinsamen Liebe zur Poesie.

Pilger der Freiheit

Erzogen wurde Kruso von seinem Onkel, dem deutschen Physiker Rommstedt, der auf Hiddensee ein Forschungsinstitut leitete. Seine langjährige Insel-Erfahrung macht den Deutschrussen zum ungekrönten König einer Hiddenseer Hippie-Subkultur, deren Hauptaugenmerk der Aufnahme von Republikflüchtlingen und Aussteigern gilt, die auf der Ostseeinsel stranden. Es gibt freie Liebe, geheiligte Plätze und mythisch überhöhte Rituale, eine „Vergabe“ genannte Aufteilung der Insel-Ankömmlinge auf verschiedene Quartiere und Verstecke, eine Empfangssuppe, eine Waschung und sogar eine Schmuckmanufaktur (basierend auf Vogelringen), durch die die Organisation Geld einnimmt – DDR-Muff trifft „Herr der Fliegen“.

Der Titelheld verkörpert eine Insel-Philosophie der inneren Emigration, die auf die lebensgefährliche Flucht in den Westen verzichten kann, weil sie zu viele – darunter Krusos Schwester Sonja, die nach einem Fluchtversuch in der Ostsee verschollen ist – bereits das Leben gekostet hat. Das macht den Roman, in dem Seiler eigene SK-Erfahrungen aus dem Jahr 1989 verarbeitete, zu einem reizvollen Reflex des Lebensgefühls junger Menschen am Ende der SED-Diktatur, aber auch zur Ausrede für nur halbherzigen Widerstand.

„All diese Schiffbrüchigen waren Pilger, Pilger auf der Pilgerschaft zum Ort ihrer Träume, dem letzten Ort der Freiheit innerhalb der Grenzen“, heißt es an einer Stelle in dem Roman, den schließlich der Wind des Wechsels aus dem gleichnamigen Scorpions-Lied durchweht. Hiddensee – als Mikrokosmos des zusammenbrechenden DDR-Systems – verliert seine bis dahin prägende Gestalt, als sich via Feindfunk die Nachrichten von Fluchten über Ungarn und die Tschechoslowakei verbreiten. Die Insel-Subkultur kollabiert genauso wie die des Staats, an dessen Rand sie sich befindet. Kruso bleibt schließlich allein mit Ed zurück, ein Rufer in der sich ausbreitenden Wüste. 

Seiler als DDR-Erklärer

Die exakt recherchierten Informationen zu Ostseeflüchtlingen hat der Autor unter Einsatz des feinen Sprachgefühls des in der Dichtkunst Erprobten und unter Zuhilfenahme jeder Menge intertextueller Referenzen mit einer philosophischen Inselschau voller subtiler Beschreibungen verbunden. Was für Diskursleitwölfe, unter denen vor allem Bürger der untergegangenen SED-Diktatur von einem gewissen Wiedererkennungseffekt profitierten, ein großer Wurf war, hielten andere für gedanklich und sprachlich überfrachtet und nicht spannender als den 334. Inseltag von Robinson Crusoe. Sie nervten der ewig lange Anlauf, den der Autor benötigt, um die Handlung einem ersten Höhepunkt zuzuführen, und die Betulichkeit, mit der er seine Leser mitnimmt auf seine Reise in die DDR-Vergangenheit.

Offenkundig durch die Lektüre gequält, kürten sechs Oberstufenschüler des Emil-von-Behring-Gymnasiums, die „Kruso“ unter Prämissen, die sich für sie als falsch erwiesen, für ein Referat ausgewählt hatten, das Buch in ihrer mit der Überschrift „Folter!“ versehenen Amazon-Amateurkritik zum langweiligsten Buch, „das wir je gelesen haben“. Sie freuten sich schon, so die Pennäler, auf Bücher wie „Werther“ oder „Faust“, weil „diese Bücher im Vergleich zu Kruso leicht verständlich und spannend“ seien. 191 „Hilfreich“-Bewertungen sind ein Indiz dafür, daß die jugendlichen Leser vielen aus dem Herzen gesprochen haben. 

Dem Autor als Person wird man mit solchen Verrissen freilich nicht gerecht. Der stets bescheiden auftretende Literat mag vielleicht kein großer Romancier im herkömmlichen Sinne sein, auch psychologischem Realismus gilt – das wurde auch an seinem zweiten Roman „Stern 111“ bemängelt – nicht unbedingt sein Hauptaugenmerk, denn Figuren ordnet er lieber in Experimentalkonstellationen an und schaut dann mal, was passiert; auf jeden Fall aber ist der Büchner-Preisträger ein Wortartist und Syntaxkünstler. Und wer hat verfügt, daß Literatur kurzweilig sein muß?

Lyriker und Erzähler – eine seltene Kombi

Völlig anders fällt demgemäß das Urteil der Literaturexperten aus. „Es ist außergewöhnlich selten, daß ein großer Lyriker gleichzeitig ein großer Erzähler ist, und das ist die überraschende Kombination, mit der wir es bei Lutz Seiler zu tun haben“, lobt Ernst Osterkamp, Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, die den Büchnerpreis vergibt, den Ausgezeichneten und erklärt den Erfolg des Romanciers – „Kruso“ wurde in 25 Sprachen übersetzt und 2018 verfilmt – damit, daß ihm „seine Erfahrungen als Lyriker“ zugute gekommen seien.

Lutz Seiler: Stern 111. Roman. Suhrkamp, Berlin 2021, gebunden, 525 Seiten, 24 Euro. Jetzt beim JF-Buchdienst bestellen.

Auch „Stern 111“ wurde gleich wieder mit einem bedeutenden Literaturpreis bedacht. Der Roman, der gleichsam beginnt, wo „Kruso“ endete, nämlich bei den Ereignissen rund um den Mauerfall 1989, erhielt 2020 den Preis der Leipziger Buchmesse. Wieder ließ sich der Autor viel Zeit für seine Figuren, seinen Helden Carl Bischoff und dessen Eltern, ein Ehepaar mittleren Alters, das die Wende zum Anlaß nimmt, aus der vertrauten Umgebung auszubrechen.

Ein „Lebensgeheimnis“ lockt sie, von dem selbst ihr Sohn, der jahrelang von ihnen getrennt lebte, nichts weiß. Carl wiederum nutzt die Gunst der Stunde zu einem eigenen Ausbruch aus bekanntem Gefilde und geht nach Berlin, wo er sich einer Gemeinschaft anschließt, die der verschworenen Saisonkraft-Truppe des Vorgängerromans in manchem ähnelt: der der illegalen Hausbesetzer.

Mit Konventionen brechen

Gefallen muß das, was die Jury des Büchnerpreises das Werk eines „rätselhaften, dunkel leuchtenden Lyrikers“ mit „seiner eigenen, unverwechselbaren Stimme“ nennt, durchaus nicht jedem. Doch was für die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung zählt, ist, daß Lutz Seiler in Sprache mehr sieht als den fadenscheinigen Stoff, mit dem man ein austauschbares Handlungskorsett überkleidet; eher gleicht sie einem farbigen, abwechslungsreichen, oft detailverliebten und gleichwohl in sich stimmigen Muster, das diesem Stoff eingewoben ist. Man tut dem Autor sicher nicht unrecht, wenn man die Lyrik und eben nicht Epik und Dramatik sein eigentliches Metier nennt. Voller artistischer Kreationen stecken jedenfalls seine Lyrikbände und lassen den in seinem Stammland ackernden Wortwäger erkennen.

Lutz Seiler: schrift für blinde riesen. Gedichte. Suhrkamp, Berlin 2021, gebunden, 112 Seiten, 24 Euro. Jetzt beim JF-Buchdienst bestellen.

Die darin versammelten Gedichte haben wenig mit dem zu tun, was man als Leser von Goethe, Eichendorff und Heine gewohnt ist. Der mit Preisen Überhäufte – allein in diesem Jahr erhielt er bereits den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung, den Bertolt-Brecht-Preis und den Berliner Literaturpreis – verwendet ein gewöhnungsbedürftiges „&“ für „und“, ist ein passionierter Anhänger des Enjambements, des Nichtzusammenfalls von Satz- und Versende, und der konsequenten Kleinschreibung.

An den richtigen Themen dran

Als dunkel lockende Welt erscheinen die Dinge, die es umgeben, seinem lyrischen Ich. Das in die Jahreszeit passende Gedicht „zuerst siehst du die blätter“ aus dem Band „schrift für blinde riesen“ (2021) vermittelt einen Eindruck von des Dichters Gabe, Sinneseindrücke in impressive Wortfolgen zu überführen und so Stimmungen zu vermitteln: „zuerst siehst du die blätter, die vollkommen / unverständlich winken mit / ihren bleichen innenseiten. jeder baum / spielt jetzt den clown mit tausend / ungelenken händen. dann / der sturm; er wiegelt gleich das ganze / nasse astwerk auf, das knochensteif & übertrieben / unlesbare zeichen sendet.“ 

Als „große Freude“ und „Ermutigung“ für die eigene Arbeit wertete der Autor die Auszeichnung, von der er im Juli im Sommerurlaub erfuhr, und als Bestätigung dafür, daß er an den richtigen Themen dran ist. Und so wird Lutz Seiler weiter lauschen, wenn passiert, was er in seinem Gedicht „nichts geschieht“ so beschreibt: „aus der Kindheit tauchen tauben auf & wollen reden.“

JF 46/23 

Lutz Seiler: Ein mehrfacher Preisträger – laut Dietmar Mehrens nicht zu Unrecht. Foto: picture alliance/dpa | Jörg Carstensen
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