Der politische Optimist glaubt nicht nur an das Gute im Menschen, sondern auch daran, daß es in jeder größeren politischen Partei – unabhängig von deren Ausrichtung – zumindest ein paar anständige und vernünftige Leute gibt. So gesehen kann man den Streit, der aktuell im linksliberalen Lager um die Reform des Transsexuellengesetzes herrscht, durchaus als positives Zeichen dieses demokratischen Zweckoptimismus werten. Der sollte dazu allerdings schon relativ gestählt sein.
Anderenfalls könnte einen bereits die Grundlage des Zwistes an der postmodernen Demokratie der Gegenwart verzweifeln lassen. FDP und Grüne hatten im Bundestag Anträge eingebracht, die es schon für Minderjährige möglich machen sollten, sich chirurgischen und hormonellen Eingriffen zu unterziehen, um ihre „Geschlechtsidentität“ künstlich verändern zu lassen.
Die Linkspartei signalisierte mehrfach ihre Zustimmung; vor allem zum Papier der Grünen-Fraktion. Die Linken-Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen stimmte dennoch gegen den Antrag und wird dafür jetzt offenbar innerparteilich massiv angegriffen. Sie begründete ihre Ablehnung mit grundsätzlichen Bedenken dagegen, daß die entsprechenden Eingriffe zur „Geschlechtsumwandlung“ schon bei 14jährigen vorgenommen werden sollten. Das sollte sogar ohne Einwilligung der Eltern möglich sein.
Abweichler werden in Linkspartei nicht geschätzt
So weit so gewissenhaft und vernünftig von Dağdelen. Ihre Vernunft und ihr Gewissen stehen in diesem Fall aber der identitätspolitischen Agenda ihrer Partei im Weg. Daß die Genossen auf Abweichler in den eigenen Reihen traditionell nicht gut zu sprechen sind, wußte man. Daß sie im Umgang mit diesen alles andere als zimperlich sind, unterstreicht jetzt eine an den Spiegel weitergeleitete E-Mail von Sevim Dağdelen.
An die Führungsgremien ihres nordrhein-westfälischen Landesvorstands schreibt die Politikerin: „Die letzten Wochen und Monate waren von Schuldzuweisungen und mehr oder weniger öffentlichen Angriffen auf die eigenen Genossinnen und Genossen geprägt. Teils ist sogar von Ausschluß- bis hin zu Spaltungs-Fantasien zu lesen.“ Zwar könne sie selbst mit Angriffen umgehen, jedoch sei die „Dimension der innerparteilichen Angriffe“ in den sozialen Netzwerken, innerparteilichen Verteilern oder der Presse einmalig, so Dağdelen. Die Grabenkämpfe würden „zutiefst persönlich geführt“ und müßten unbedingt enden, „wenn wir das Projekt Die Linke nicht scheitern lassen wollen“.
Die Linke.queer ist empört
Nicht nur Dağdelen hatte gegen den bizarren Gesetzesvorschlag aus der identitätspolitischen Hölle gestimmt. Auch Sahra Wagenknecht verweigerte ihre Zustimmung. Wagenknecht fällt den eigenen Genossen in letzter Zeit immer öfter durch konterrevolutionäre Vernunft und eine für die moderne Linke verdächtige emotionale Nähe zum normalen Volk unangenehm auf.
Besonders empörte sich über die beiden Abweichlerinnen die Linke.queer-Gruppe. Diese verkündete über die Sozialen Netzwerke: „Wir werden uns als Die Linke.queer weiter darauf konzentrieren, unser Partei- und Wahlprogramm durchzusetzen und mit den Zehntausenden Genoss*innen und allermeisten unserer Abgeordneten zusammenarbeiten, die keinen an der Klatsche haben“. So unterschiedlich können die Wahrnehmung und die Definition von Normalität sein, wenn man schon lange nicht mehr aus der politischen Klapsmühle herausgekommen ist.
Dağdelen schoß in ihrer „internen Mail“ zurück und versuchte, die Genossen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Die Verunglimpfungen seien „dreist, diffamierend und einfach nur beleidigend“, konterte die Abgeordnete. Zudem würden die Angriffe vornehmlich auf sie und Wagenknecht zielen, während die männlichen Fraktionskollegen unbenannt blieben. Dieses Verhalten bewertete sie als „Ausdruck von Frauenfeindlichkeit“. Den parteiinternen Kritikern gehe es „anscheinend mehr um weitere Stimmungsmache gegen die Spitzenkandidatin der Linken in Nordrhein-Westfalen (NRW) als um das Selbstbestimmungsrecht der LGBTQI-Community“.
Kommt es zur Abspaltung?
In der Tat ist Wagenknecht vielen in der Partei schon lange ein Dorn im Auge. Zwar wurde sie in NRW mit 61 Prozent auf Platz eins der Liste für die Bundestagswahl gewählt. Davor und auch danach gab es aber viel Kritik an der lagerübergreifend populären Politikerin.
Vor allem ihr Buch „Die Selbst-Gerechten“, in dem die Sozialistin mit der linken Identitätspolitik abrechnet, hat sie für viele zum innerparteilichen Haßobjekt werden lassen. Manche befürchten oder hoffen sogar, daß Wagenknecht, Dağdelen und einige andere sich nach der Wahl im Herbst mit einer eigenen Gruppierung abspalten könnten. Vielleicht wäre eine solche Abspaltung tatsächlich vernünftig. Besonders dann, wenn sich ihre Noch-Genossen von Vernunft dermaßen provoziert fühlen.