Hotel Bristol in Bonn. Von außen wirkt der siebziger Jahre Bau nicht sehr einladend. Im inneren des Hotels aber unterhält sich, überwiegend im rheinischen Dialekt, eine gut gelaunte Gesellschaft bei Café und Kuchen. Zwischen fein angezogenen Damen und Herren, zumeist von älterem Semester, mischen sich Männer mit Römerkragen, Journalisten, aber auch ein paar jüngere Leute. Schnell wird klar: Hier ist das katholische Rheinland. Das Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg lädt zum 74. Buß- und Bettagsgespräch. 70 Jahre Grundgesetz und 30 Jahre Mauerfall.
Wäre ein Grundrecht des Rauchens, aber vor allem des Trinkens nicht gerechtfertigt? fragt der Dominikanerpater, Leiter des Instituts und Sozialethiker Wolfgang Ockenfels. Mit dem Grundgesetz und der Menschenwürde würde heute vieles gerechtfertigt, was beim Erlaß der Gesetze so womöglich nicht gedacht war, stellt Ockenfels fest. Heutige Debatten könnten nicht an der Intention und Tradition der Gründerväter anknüpfen. Katholische, sozialdemokratische und liberale Denkweisen hätten sich vermischt, aber „deshalb lohnt es sich heute wieder, zu streiten“. Welche Bedeutung hat das Grundgesetz heute, wie hat es sich verändert und was sind die Auswirkungen?
Statt deutschem Idealismus braucht es mehr Pragmatismus
Einer der Streiter ist Konrad Adenauer, der Enkel des ersten Kanzlers der Bundesrepublik. Den „Alten“ habe er noch kennengelernt als fromm und spitzbübisch zugleich, erzählt Ockenfels. Adenauer, der dasselbe Alter zählt wie das Buß- und Bettagsgespräch, referiert über seinen Großvater, der bei der Konzeption des Grundgesetzes maßgeblich mitgewirkt hat.
Mit dem Grundgesetz habe er den Grundstein legen wollen, daß die Deutschen zum Frieden erzogen werden. „Er war kein Theoretiker, kein Gelehrter. Er war ein Mann der Fakten, ein Macher, wie man heute sagen würde.“ Für ihn sei das Recht eine Methode zum Gestalten gewesen, kein Wert an sich und dementsprechend habe er auch auf das Grundgesetz einwirken wollen. Religion, Familie und Individuum wären Verluste der beiden Weltkriege, in denen sich Deutschland den Staat zum Götzen gemacht hätte. Diese drei gesellschaftlichen Grundpfeiler habe Adenauer durch die Verfassung der neuen Republik wieder stärken wollen. Zudem seien Freiheit, Frieden und die Einheit des Deutschen Volkes sein Wunsch gewesen.
Und tatsächlich: In der dem Gesetz vorangestellten Präambel verpflichten sich die Staatsorgane, die staatliche Einheit Deutschlands anzustreben. Adenauers Enkel knüpft an die Gedanken des Seniors an, wenn er sagt, daß die Deutschen heute wieder zu wenig rational, zu wenig pragmatisch seien und zu emotional, die Probleme anzugehen. Mit Blick auf die Klimabewegung meint er: „Wir können nicht die ganze Welt retten“. Es fehle an „Cleverness und Coolness“. Also eben an der ruhigen Hand und dem kühlen Kopf, die dem ersten Kanzler der Bundesrepublik nachgesagt werden.
Grundgesetz war Chance der Deutschen für ein menschenwürdiges Leben
„Die Zukunft dieser Verfassung ist voller Gefahren“, warnt hingegen der Staatsrechtler Josef Isensee, zweiter Redner des Abends. Von 146 Artikeln entsprächen nur noch 17 demselben Wortlaut wie 1949. Es würden derzeit Vorstöße in Richtung von Kinderrechten gemacht, die „überflüssig wie ein Kropf“ seien und vielmehr auf die Beschneidung der elterlichen Rechte abzielten. Eine „kommunikative Anarchie“ herrsche in Teilen der Gesellschaft und in den Medien, die eine Mitmacht ohne Verantwortung trügen.
Mit Blick auf die Political Correctness und die Ausgrenzung Andersdenkender hält Isensee einen Buß- und Bettag für die richtige Form, sich zum Jubiläum des Grundgesetzes zu treffen, wie er halbironisch anmerkt. Aber er betont, das Grundgesetz habe sein Hauptziel erreicht: die Wiedervereinigung. „Allen realen Gegebenheiten zum Trotz bekundete es den Willen zur nationalen Einheit und den Willen zur weltpolitischen Aufgabe, Frieden zu stiften.“ Es sei die einzige Chance der Deutschen gewesen, zu einem menschenwürdigen Leben zurückzukehren.
Die Absicherung gegen jeglichen Totalitarismus und der Verzicht auf das Nennen Hitlers im Grundgesetz „wie Pontius Pilatus im Glaubensbekenntnis“ habe die „Würde des Bleibenden festgeschrieben“. Isensee sieht darin einen großen Verdienst. Heute sei aus dem Antitotalitarismus ein Antifaschismus geworden, was die Wehrhaftigkeit der Demokratie schwäche. „Sich nur an das Grundgesetz zu klammern, ist zu wenig“, mahnt Isensee. Es bedürfe der Selbstkritik und einer „großen Portion Hoffnung“. Die jetzige Verfassung müsse nicht „bis zum jüngsten Gericht“ andauern, aber „ad multos, multos annos“, wünscht sich der Jurist.
Ostdeutschland: „AfD erntet, was die PDS gesät hat“
Bei der Europawahl hätte man die Linie, die einst Deutschland geteilt hat, wieder sehen können, sagt der letzte Redner, der Historiker und ehemalige Leiter der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Hubertus Knabe. In Ostdeutschland sei die AfD stark, in Westdeutschland CDU, SPD und Grüne. In Teilen Westdeutschlands seien Vorurteile vom FKK-liebenden, rechtsradikalen Dunkeldeutschland hoch im Kurs. Doch was sind die Gründe, warum der Osten scheinbar anders tickt?
Darüber würde auch nach den vergangenen Landtagswahlen viel diskutiert und spekuliert. Es gebe aber kaum empirische und wissenschaftliche Befunde, bemängelt Knabe. Daher habe er eine Insa-Umfrage in Auftrag gegeben. „Mit dem Grundgesetz kann ich mich total identifizieren“, lautet eine der Aussagen darin. 45 Prozent im Osten stimmten zu und 57 im Westen. Die Ergebnisse hingen aber auch von der Fragestellung ab. „Ob ich bei dieser Frage absolut zustimmen würde, weiß ich auch nicht“, räumt der Historiker ein. Daß Deutschland sich mit dem Grundgesetz gut entwickelt hat, empfanden dafür 90 Prozent im Westen und 78 Prozent im Osten so.
Erst seit den siebziger Jahren sei auch im Westen die Zustimmung zur Verfassung stetig gestiegen, erinnert der Historiker. Er stellt die These auf, die Zufriedenheit mit der Bundesrepublik im Osten wäre auch in Anbetracht des Mauerfalls zeitversetzt angestiegen. Doch sei die grundlegende Einstellung zum System im Osten eine andere. Systemkritische Parteien seien immer schon beliebt gewesen. „Die AfD erntet, was die PDS gesät hat.“ Hinzu käme die „volkseigene Erfahrung“, daß ein System versagen kann und zusätzlich der Eindruck, die politische Ordnung entwickle sich ähnlich zum schlechteren wie unter der SED-Herrschaft. Gleichklingende Medien, Ausgrenzung von politischen Meinungen, ein extra eingerichtetes Meldetelefon, eine Kanzlerin, die bald so lange an der Macht sei wie Honecker. All das erinnere die Ostdeutschen an die DDR. Sie registrierten die Probleme stärker. „Aber die Probleme gelten für Ost und West“, schlußfolgert Knabe.
„Bleiben wir beim alten Adam“
Ockenfels ergreift abermals das Wort. „Adenauer war ein Pragmatiker auf dem Boden des Christentums. Kein Rechtsdenker, aber ein rechtlich denkender Mensch.“ Heute bräuchte es wieder simple Formulierungen zur Orientierung, eine neue Wertschätzung für die „Würde des Bleibenden“. Ockenfels plädiert für einen wertebasierten Realismus. Niemand müsse Adam und Eva neu erfinden. „Bleiben wir lieber beim alten Adenauer, beim alten Adam, und ersparen wir es uns, einen neuen Menschen schaffen zu wollen.“