Warum ist die Erzählung der Geschichte einer Nation so wichtig? Ihre Bedeutung muß uns gerade mit Blick auf den Jahrestag der Wiedervereinigung bewußt werden. Ich werde meinen Kindern von den seligen Augenblicken erzählen, als ich mit Freunden nach der überraschenden Grenzöffnung am 9. November 1989 auf die Mauer vor dem Brandeburger Tor kletterte, ich mit denselben und einer Million Deutschen am Vorabend des 3. Oktober 1990 vor dem Reichstagsgebäude in Berlin feiernd zusah, wie um Mitternacht die Flagge der Einheit unter dem Geläut der Kirchenglocken gehißt wurde und wir das Lied der Deutschen sangen.
Die Wiedervereinigung, erzwungen von den Deutschen in der DDR, war deshalb ein solches Glück, weil sich vor allem im Westen die tonangebende politische und kulturelle Klasse bereits überwiegend vom Ziel der Einheit verabschiedet hatte. Es hatte sich hier die Vorstellung verfestigt, die Niederlage vom 8. Mai 1945 habe uns dauerhaft von der Last erlöst, eine Nation sein zu müssen und die Teilung Deutschlands, dieses „ruhelosen Reiches“ (Michael Stürmer), sei für Europa gar ein Segen.
Ein „von der Geschichte widerlegtes Volk“?
Ich weiß noch, wie mein Geschichtslehrer in den achtziger Jahren wiederholte Nachfragen nach einer fehlenden aktiven Wiedervereinigungspolitik mit der lakonischen Feststellung parierte, das „Zeitalter der Nationalstaaten“ sei endgültig vorbei. Im Windschatten des Eisernen Vorhanges träumte man in Bonn komfortabel vom postnationalen Ende der Geschichte.
Unser doppeltes Scheitern in zwei aufeinanderfolgenden Weltkriegen und das moralische Desaster durch die Verbrechen des Dritten Reiches – dies mündete nicht allein in die Konsequenz, Chauvinismus und totalitäre Ideologien aller Art zu verwerfen, sondern auch in den bohrenden Selbstzweifel; wir Deutschen seien ein grundsätzlich „von der Geschichte widerlegtes Volk“ (Otto Westphal).
Aus der Vorstellung vom „Irrweg einer Nation“, vom Irrweg zur Nation, folgte die spezifisch deutsche Begeisterung für das Schleifen der Idee des Nationalstaates. Der ehemalige Verfassungsrichter Udo Di Fabio führt auf unsere charakteristischen Schwierigkeiten mit der nationalen Identität zurück, daß wir „seit Jahrzehnten als Mentor einer europäischen Bundesstaatsgründung und Überwinder nationaler Traditionen“ auftreten, was uns jedoch hindere, „Deutschland als politische Primärgemeinschaft zu wollen und zu verteidigen“ und uns „um die Zukunft der eigenen Nation zu sorgen.“
Anhaltende Suche nach nationaler Identität
Auch deshalb wurde im Übereifer nach dem 3. Oktober 1990 ein gutes Jahrzehnt später die D-Mark geopfert und das abenteuerliche Projekt der europäischen Währungsunion forciert. Damit sollte ein befürchteter neu erwachender Nationalismus aufgelöst werden. Die Entscheidung für Berlin als Hauptstadt fiel im Lichte hysterischer Debatten um eine drohende preußisch-deutsche Renaissance äußerst knapp aus. Das Ja zu Berlin verdanken wir paradoxerweise ausgerechnet den Abgeordneten der SED-Nachfolgepartei PDS.
In der neurotischen Fixierung, die eigene Nationswerdung sei per se eine zu überwindende Hypothek, wurzelt der musterschülerhafte Elan, sich in Weltbürgertum oder multikulturelle Utopien zu flüchten. Doch ob wir wollen oder nicht, die Zugehörigkeit zu einer Nation bleibt unverändert „existentiell, sie ist die gegebene Bezugsgröße des modernen Staates und verpflichtet das Zoon politikon“, wie Karlheinz Weißmann in seinem wegweisenden Werk „Rückruf in die Geschichte“ schrieb.
Der kürzlich verstorbene SPD-Vordenker Egon Bahr unterstrich im Gespräch mit dieser Zeitung: „Deutschland ist das einzige Land in Europa, das seine nationale Identität noch sucht.“ Und: „Kein Volk kann auf Dauer leben, ohne sein inneres Gleichgewicht zu verlieren, wenn es nicht ja sagen kann zum Vaterland.“
Neugier nach den eigenen Wurzeln
Und so treffen wir auf der Flucht vor uns selbst immer wieder nur neu auf die unbeantwortete deutsche Frage. Das deutsche Selbstgespräch schließlich ist „stockend, träumend, nachdenklich, voller Versuche, voller Aufbrüche, voller Schleifen, voller Scham“, wie Matthias Matussek es beschreibt.
Gerade die masochistisch herbeigesehnte Selbstauflösung in anonymen postnationalen Großstrukturen, das heraufziehende Szenario, das deutsche Volk könne sich demographisch, kulturell, staatlich „abschaffen“ (Thilo Sarrazin), übt nur für eine verirrte, leider zu oft tonangebende intellektuelle Minderheit eine bizarre positive Faszination aus.
Für immer mehr Deutsche erwachte jedoch in den letzten Jahren leise tastend die Neugier nach den eigenen Wurzeln, den kulturell-nationalen Ursprüngen und Begründungen unserer Gemeinschaft. Der Ausbruch eines neuen, positiven Patriotismus wie bei der Fußball-WM 2006 oder 2014 war Symptom dieses Klimawechsels.
Die beiden Publizisten Thea Dorn und Richard Wagner erkannten diese Entwicklung, als sie 2011 ein liebevolles Buch über „Die deutsche Seele“ verfaßten. Sie taten dies im Bewußtsein, ein „wachsendes Deutschlandsehnen“ zu spüren: Diese Selbstvergewisserung sei unerläßlich, schrieben sie: „Jemand, der nicht weiß, wo er herkommt, kann auch nicht wissen, wo er hinwill.“ Nach Udo Di Fabio kann aufrecht nur gehen, wer sich selbst nicht haßt: „Die Seele der Deutschen muß endlich wieder den Kern und nicht die Verirrung seiner Nationalgeschichte in den Mittelpunkt einer optimistischen Selbstgewißheit rücken.“
In was sollen sich Zuwanderer „integrieren“?
Mit Macht stellt sich die Frage nationaler Identität nun erst recht im Zeichen einer explodierenden Zuwanderung, wenn in diesem Jahr eine Million Fremde in Deutschland aufgenommen und ein erheblicher Teil nach Vorstellung der politisch Verantwortlichen hier „integriert“ werden soll. In was sollen sich Zuwanderer generell überhaupt „integrieren“?
Wie kann Deutschland bei einem irritierten Verhältnis zur eigenen Geschichte und Identität Neubürger erfolgreich integrieren? In ein Nichts oder multikulturelle Beliebigkeit kann man sich nicht integrieren. Und eine Nationalneurose will sich auch kein Fremder einreden lassen. Parallelgesellschaften werden so nur weiter wachsen und die Rückbesinnung auf die jeweils eigene Identität, Religion und Herkunft nur folgerichtig sein.
Der Historiker Jörg Baberowski mahnt in der FAZ deshalb zu Recht, die Integration von mehreren Millionen Menschen in nur kurzer Zeit unterbreche den „Überlieferungszusammenhang, in dem wir stehen und der einer Gesellschaft Halt gibt und Konsistenz“ verleihe: „Wenn uns mit vielen Menschen nichts mehr verbindet, wenn wir einander nichts mehr zu sagen haben, weil wir gar nicht verstehen, aus welcher Welt der andere kommt und worin dessen Sicht auf die Welt wurzelt, dann gibt es auch kein Fundament mehr, das uns zum Einverständnis über das Selbstverständliche ermächtigt.“
Ein Volk ohne Helden?
Um eine selbstbewußte Nation zu sein, brauchen wir Kenntnis unserer Geschichte. Und wir brauchen eine starke, feste, mitreißende Erzählung. Wir müssen wissen, wie fragil Einheit, Freiheit und Recht in unserem Gemeinwesen sind, wenn diese Werte nicht ständig neu erinnert, begründet und verteidigt werden. Blicken wir in die Jahrhunderte zurück, sehen wir, wie teuer bezahlt beispielsweise der Religionsfrieden in unserem Land ist.
Daß die Erde zwischen Rhein und Oder getränkt ist mit dem Blut von Millionen im Dreißigjährigen Krieg wegen abweichender Konfession Erschlagener, einem Bürgerkrieg, der Deutschland entsetzlich verheerte und zum Urgrund unseres Bewußtseins für die notwendige Trennung von Staat und Religion und die unbedingte Herrschaft des Rechts führte.
Der Schriftsteller Walter Kempowski meinte, in seinen Tagebüchern zur Wende 1989/90, das deutsche Volk sei das einzige auf der ganzen Welt, das keine Helden mehr aufzuweisen habe: „Irgendwann wird die jetzt nachwachsende Generation danach fragen.“ Darum ist jetzt eine positive Geschichtserzählung überfällig.
Die Bereitschaft zur Nation neu artikulieren
Wir müssen uns erinnern, wie jahrhundertelang Streit, Rivalität, Fremdherrschaft unser Volk zerriß, wie bitter arm die deutschen Länder waren. Wie hart erkämpft der wirtschaftliche und kulturelle Aufstieg Deutschlands war, wie „Made in Germany“ erst Makel und dann Markenzeichen einer technisch Maßstäbe setzenden Industrienation wurde. Wenn wir den nur durch strenge Disziplin und eisernen Willen unserer Urahnen erarbeiteten Aufstieg aus Not, Zersplitterung und Ohnmacht vergessen und nicht in Ehren halten, werden wir in der Zukunft mit dem Abstieg bestraft.
Eine Nation ist nach Ernest Renan eine große Gemeinschaft, „begründet im Gefühl der Opfer, die man gebracht hat und derjenigen, die man noch zu bringen bereit ist“. Sie setze eine gemeinsame Geschichte voraus. Doch in der Gegenwart werde sie durch eine spürbare Tatsache zusammengeschlossen: „Die allgemeine Zustimmung, den deutlich ausgedrückten Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen.“ Es ist notwendig, diese Bereitschaft wieder entschlossen zu artikulieren.
JF 41/15