Die deutsche Nicht-Haltung im russisch-ukrainischen Streit um die Krim ist ein Desaster. Wahllos werden Propagandaphrasen fremder Interessen nachgebetet. Dabei kann es aus historischen und geopolitischen Gründen für Deutschland in diesem Konflikt kein Entweder-Oder geben, sondern nur eine Mittlerposition als „ehrlicher Makler“.
Wohlwollen gegenüber jungen, in der Geschichte vielfach unter die Räder gekommenen Nationen ist eine durchaus sympathische deutsche Eigenart. Sie verbindet uns mit der Ukraine ebenso wie das deutsche Erbe der längere Zeit zum Habsburgerreich gehörenden Westukraine und der deutschen Volksgruppen in der Bukowina und am Schwarzen Meer.
Der erste ukrainische Staat der Neuzeit entstand nach dem Zusammenbruch des Zarenreichs im Schatten der im Osten noch siegreichen deutschen Truppen. Er wurde von Lenins Roter Armee blutig liquidiert, die Ukrainer einem mörderischen Hunger-Holocaust, dem „Holodomor“, unterworfen; ein Grund, warum deutsche Soldaten 1941 gerade in der Ukraine als „Befreier“ begrüßt wurden, bevor ignorant-brutales Herrenmenschengehabe die anfänglichen Sympathien zunichte machte.
Wer „Faschist“ sagt, lügt
Nicht zufällig war München, wo sich nach dem Krieg die rückkehrunwilligen „Displaced Persons“ aus dem sowjetischen Machtbereich sammelten, im Kalten Krieg ein Zentrum der ukrainischen patriotischen Emigration. Stepan Bandera, der nationalukrainische Partisanenführer, der gegen Polen und Sowjets, zeitweise mit der und zuletzt gegen die Wehrmacht kämpfte, wurde auf dem Waldfriedhof in München begraben, nachdem er im bayerischen Exil von KGB-Agenten ermordet worden war.
Er war Patriot in zerrissener Zeit, kein „Faschist“; die allzu geläufige Wiederbelebung von primitiven sowjetischen Propagandaschemata („faschistischer Putsch“) durch Putins Medienmaschinerie erweckt auch bei rußlandfreundlich Gesinnten – zu denen sich der Schreiber dieser Zeilen durchaus zählt – zumindest Unbehagen. Wer „Faschist“ sagt, lügt.
Deutsche Ukraine-Politik ohne historische Feinfühligkeit
Die deutsche Ukraine-Politik ist indes frei von jeglicher historischer Feinfühligkeit. Sie hat sich – mit der Finanzierung und Ausbildung des Ex-Boxers Klitschko zum Pseudo-„Oppositionsführer“ – ganz auf EU-Linie kritiklos in den Dienst der amerikanischen Zündelei gestellt, die glaubt, ihren schon während der Schwächeperiode der neunziger Jahre verfolgten Expansionskurs fortsetzen und nun auch die Ukraine dem russischen Einfluß entwinden zu können.
Das 45-Millionen-Volk und seine in geostrategischer Schlüsselposition gelegene Landmasse, von der Natur mit Bodenschätzen und fruchtbarem Ackerland gesegnet und von skrupellosen Oligarchen ausgeplündert, ist aber keine beliebige periphere Kriegsbeute des russischen Imperiums wie Polen oder die baltischen Völker und Staaten: Die Ukraine ist historisch und ethnisch mit Rußland weit länger und enger verbunden als mit dem europäischen Westen.
Kiew ist die „Mutter der russischen Städte“, im Kiewer Höhlenkloster entstand die Nestorchronik, ein Gründungsdokument der Kiewer Rus’, des ersten russischen Reiches. Ein „ukrainisches“ Bewußtsein entstand erst nach dem Zerfall der mittelalterlichen Rus’ – in den Kosakenrepubliken des „Grenzlandes“ (nichts anderes heißt „Ukraine“) und den polnisch-litauisch beherrschten einstigen Fürstentümern.
Den platten ökonomistischen Globalismus, freilich, interessieren weder Völker noch deren historische Identitäten. Sein Expansionismus ist ökonomischer Natur und mit universalistischen Menschenrechts- und Demokratiephrasen verbrämt und scheut sich nicht, eine korrupte Oligarchin, die „Gasprinzessin“ Timoschenko, gegen den korrupten und kleinkriminellen Präsidenten der Oligarchen der Ostukraine, Janukowitsch, auszuspielen und sogar zum Dreh- und Angelpunkt von Vertragsverhandlungen zu machen. Kein Wunder, daß diese scheitern.
Zwei Prämissen für eine deutsche Ostpolitik
Die USA und ihre EU-Vasallen machen sich die tragische Unfähigkeit der Ukrainer zunutze, in den zwei Jahrzehnten ihrer Unabhängigkeit eine eigene Geschichtserzählung zu finden, die alle historischen und ethnischen Richtungen verbinden und zum Fundament einer Nationwerdung geeignet wäre. Kasachstan, das 19-Millionen-Land von der Ausdehnung Westeuropas zwischen Rußland und China, hat unter seinem Gründungspräsidenten Nasarbajew dieses schwierige Projekt gemeistert.
Nasarbajew hat so vermieden, daß das Land, mit fast vierzig Prozent ethnisch russischer Bevölkerung vor allem im Norden, zwischen rivalisierenden Oligarchen gespalten und paralysiert wurde, wenn auch um den Preis, daß der Oligarchismus bei der Präsidentenfamilie monopolisiert wurde. Dafür ist Kasachstan heute ein Akteur, der zwischen den geostrategischen Schlüsselmächten Rußland, China und USA einen eigenständigen Weg gehen kann.
Die Ukraine ist von solch einer Befriedung weit entfernt, und die jetzt vom Westen installierten Figuren werden sie ebenso wenig leisten können wie die vorher von Rußland begünstigten. Wo aber liegen die deutschen Interessen? Wo so viel schon falsch gemacht wurde, ist es schwer, richtige Entscheidungen zu treffen.
Deutsche Außenpolitik mit Handlungsspielraum zur Wahrung eigener Interessen
Zudem wird die Debatte von den Lobbyisten einseitig auf Handelsinteressen verkürzt: Der langjährige Vorsitzende des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft, Klaus Mangold, warnte letztes Wochenende im Handelsblatt vor Rußland-Sanktionen, weil sie der deutschen Wirtschaft schaden, und der einstige CDU-Bundestagsfraktionsvorsitzende und heutige „Atlantik-Brücke“-Chef Friedrich Merz spielt brav das amerikanische Lied und meint, das müsse die deutsche Wirtschaft eben aushalten.
Tatsächlich geht es um mehr. Jede deutsche Ostpolitik muß von der Prämisse ausgehen, daß zum einen die Ukraine aufgrund ihrer besonderen historischen, ethnischen und geopolitischen Situation niemals ein EU- oder Nato-Land wie Polen oder Ungarn sein kann, und daß zum zweiten gute Beziehungen zu Rußland essentiell sind für eine deutsche Außenpolitik mit Handlungsspielraum zur Wahrung eigener Interessen.
Im fremden Auftrag in sensiblen Staaten wie der Ukraine herumzupfuschen, ohne Rußland auf der Rechnung zu haben, ist fahrlässig und dumm, besonders wenn dieses Rußland weiß, wozu Armeen wirklich da sind: Nicht zum Brunnenbohren, sondern als Mittel der Politik zur gezielten Durchsetzung nationaler Interessen.
Bismarck danebenhängen
Parallelen zum ersten Krimkrieg 1853-1856 tun sich auf: Als Briten und Franzosen gegen Rußland in den russisch-türkischen Krieg eintraten, um eine Vorherrschaft Rußlands am Schwarzen Meer zu verhindern, hielt Preußen sich wohlweislich heraus. Als 25 Jahre später der nächste russisch-türkische Krieg ums Schwarze Meer ausbrach und die Westmächte erneut vor der Intervention standen, trat Bismarck als „ehrlicher Makler“ auf den Plan und vermittelte auf dem Berliner Kongreß.
In Frau Merkels Arbeitszimmer, heißt es, hängt ein Porträt von Zarin Katharina der Großen, die 1774 das Khanat der Krimtataren unterwarf und 1783 die Krim für Rußland annektierte. Sie sollte einen Bismarck danebenhängen – oder, besser noch, dessen Politik studieren.