Bereits 2012 hatte ich mich mit dem Phänomen des Nahtods beschäftigt. Ich schrieb eine Rezension zu Pim van Lommels Buch „Endloses Bewußtsein“. Unsere Kenntnisse der Nahtoderlebnisse basieren auf Schilderungen von Menschen, die einige Zeit bewußtlos waren, dann aber noch rechtzeitig reanimiert werden konnten. Diese Phänomene häufen sich, seitdem die Medizin über verbesserte Möglichkeiten der Reanimation verfügt. Es liegt allerdings nahe, daß viele überlieferte bildlich-religiöse Vorstellungen früherer Jahrhunderte auf Berichten einstiger ins irdische Leben zurückgekehrter Menschen basieren. Manche der immer wiederkehrenden Phänomene sind auch vielen heutigen Bürgern schon einmal zu Ohren gekommen: die Überwindung von Raumgrenzen, der Lichttunnel, die Begleitung durch engelsähnliche Wesen, die Begegnung mit toten Bekannten, das Gefühl, in der eigenen Heimat angekommen zu sein, einer Welt uneingeschränkten Annahme und Liebe.
Meist werden diese Phänomene von Kritikern mit allerlei Reflexen oder scheinbar wissenschaftlichen „Erklärungen“ abgetan. Eine beliebte Erklärung ist die Ausschüttung von Streßhormonen im Todeskampf, welche halluzinogene Phänomene hervorrufen würden. Pim van Lommel, dessen Buch ich immer noch uneingeschränkt empfehlen kann, widerlegt unter anderem diese These, da zum einen diese „Halluzinationen“ stets sehr ähnlich sind, und zwar unabhängig vom kulturellen Kontext, in dem der betroffene Mensch aufgewachsen ist. Der New Yorker und der Eskimo berichten also recht ähnlich von der Zeit ihres Nahtods. Zum anderen ist der ins Leben Zurückgeholte schlagartig wieder „wach“. Die Phänomene verschwinden umgehend, was aber bei sich stets nur langsam abbauenden Hormonen gar nicht der Fall sein könnte. Auch sind die Unterschiede zu Träumen evident, in denen wir unter anderem unsere sehr individuellen Alltagserfahrungen verarbeiten.
Nun las ich ein weiteres aktuelles Buch, daß sich mit Nahtod beschäftigt, und das derzeit als ein Bestseller gehandelt wird. Eben Alexanders „Blick in die Ewigkeit“ ist ein anrührend geschriebener Erfahrungsbericht eines amerikanischen Neurochirurgen, der 2008 für etwa eine Woche ins Koma fiel, fast gestorben wäre und über ein sehr buntes Nahtoderlebnis zu berichten weiß. Da es sich um einen Erfahrungsbericht, aber keine wissenschaftliche Untersuchung handelt, bewerte ich das Buch vom Standpunkt der Erkenntnis als weit schwächer als Lommels Werk. Es kann von Kritikern als „pure Phantasie“ abgetan werden, zudem decken sich manche Schilderungen Alexanders nicht eindeutig mit den gängigen Nahtod-Berichten. Gleichwohl ist das Buch zur Einstimmung sicherlich nicht falsch. Und es versucht auch einige Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem Phänomen ergeben, zu beantworten. Pim van Lommel hingegen wertete vom außen stehenden Standort die gesammelten Berichte anderer Patienten aus, was den beschriebenen Quellen ein größeres Maß an Objektivität verleiht beziehungsweise eine wissenschaftliche Prüfung beinhaltet.
Wissenschaft und Spiritualität können sich ergänzen
Die Beschäftigung mit der jenseitigen Sphäre wirkt heutzutage gelegentlich abwegig, weil wir, zumindest in Deutschland bzw. unter den heutigen Deutschen, in einem weitgehend atheistischen, materialistischen Umfeld leben. Erst letzte Weihnachten war ich in eine Diskussion verwickelt, in der ich den einsamen Part desjenigen übernehmen mußte, der sich für Spiritualität, Transzendenz und Religion aussprach. Gerade ich, der in Jugendjahren bereits aus der Kirche ausgetreten war (wenngleich vor allem aus Gründen der Politisierung des Glaubens durch diese Institution) und das bislang nie wirklich bereute. Und soeben trat ein Kumpan an mich heran, eine Initiative für einen atheistischen Feiertag mit zu unterstützen. Dies sei eine Reaktion auf das Ansinnen der Muslime nach einem eigenen Feiertag. Ich wand mich etwas, denn schließlich sei ich ja kein Atheist. Ich bot aber den Kompromiß an, gegen einen Feiertag des Verstandes, des freien Geistes und der Wissenschaft nichts einzuwenden zu haben.
Denn Wissenschaft und Spiritualität müssen sich keinesfalls ausschließen. Sie können sich hervorragend ergänzen, wie Pim van Lommel mit seiner Arbeit zum Nahtod dargelegt hat. Lommel ist Kardiologe und hat die Nahtod-Schilderungen zahlreicher Patienten gesammelt und wissenschaftlich aufbereitet. Dabei kam er zu der These, daß die beschriebenen Phänomene recht eindeutig darauf hinweisen, daß es eine Existenz nach dem Tod gibt und eine Welt jenseits unserer irdischen, die nur beschränkte Wahrnehmungsebenen zuläßt. Es ist hier nicht der Platz, diese Thesen eingehend vorzustellen, somit sei es bei diesen Hinweisen belassen. Lommel liefert in seiner Untersuchung allerdings nichts weniger als eine Art von Gottesbeweis, wenn auch nicht im Sinne einer religiösen Dogmatik.
Dazu bedarf es indes bei den Betroffenen offenbar gar keines Buches mehr. Es scheint, daß das Erlebnis des Nahtods die Menschen verändert. Es macht sie aufmerksamer, liebevoller, spiritueller. Alexander Eben gründete die Einrichtung „Eternea“, die sich der Wohlfahrt und Verbreitung der Liebe verschrieben hat. Lommel berichtet von der Zunahme mitmenschlicher Empathie bei ehemaligen Nahtod-Patienten. Gott scheint demnach also existent, wenn auch oft verborgen hinter dem Elend und den Konflikten unserer diesseitigen Welt. Sicherlich hilft uns das „Wiederfinden“, wenn wir Religion nicht mehr nur als „Opium des Volkes“ oder Ursache ihres Mißbrauchs betrachten, sondern als Voraussetzung tieferer Erkenntnis. Forschung, Verstand und Spiritualität könnten hierzu eine neue, fruchtbare Verbindung eingehen.