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20 Jahre Mauerfall: „Ich bin froh und dankbar!“

20 Jahre Mauerfall: „Ich bin froh und dankbar!“

20 Jahre Mauerfall: „Ich bin froh und dankbar!“

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20 Jahre Mauerfall
 

„Ich bin froh und dankbar!“

Seit zwanzig Jahren ist Deutschland als Subjekt in die Geschichte zurückgekehrt. Die Wunden der Nation schließen sich symbolisch im Wiederaufbau der Frauenkirche oder der kommenden Wiedererrichtung des Berliner Stadtschlosses. In der neuen Generation liegt die Hoffnung des jungen Deutschlands. Sie muß die Fundamente der Nation erneuern. Von Dieter Stein
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Trotz allem dankbar und froh über die Einheit: Der ehemalige Bundesminister und FDP-Politiker Rainer Ortleb Foto: JF

Herr Professor Ortleb, erinnern Sie sich noch an den Abend des 9. November 1989? 

Ortleb: Natürlich, vor allem an das Gesicht meiner Frau, die eine West-Reise beantragt hatte und der ich, als sie spät abends nach Hause kam, eröffnete: „Du brauchst nicht auf deine Papiere zu warten, du kannst gleich fahren!“ Sie können sich vorstellen, wie sie aus allen Wolken gefallen ist.

Im ersten Moment hat man das alles damals ja gar nicht fassen können: Die Mauer, die Teilung, all das schien für immer zementiert. Heute kann man kaum noch nachvollziehen, was deren Ende damals bedeutet hat.

Viele Deutsche klagen aus persönlichen Gründen mehr über die Wiedervereinigung, als daß sie sich aus Patriotismus darüber freuen.

Ortleb: Das ist unendlich schade! Für mich ist ganz klar: Ich bin froh und dankbar, und man sollte sich nicht dazu verleiten lassen, seine politischen Enttäuschungen über die letzten zwei Dekaden über die Freude an der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes zu stellen.

„Die Bonner Politik wußte nichts mit der Einheit anzufangen“

Die Einheit der Nation ist für Sie ein Wert an sich?

Ortleb: Ja, und zwar weil ein Staat nicht leben kann ohne Volk und Nation. Die DDR hat den Fehler gemacht, sich einzubilden, dies sei möglich. Auch wenn das nicht der direkte Grund für ihren Untergang gewesen ist, weil sie von noch viel fundamentaleren Konstruktionsfehlern gezeichnet war, gehörte zu ihren Lebenslügen sicher die Ausklammerung der deutschen Frage. Ich war erstaunt, als ich später feststellen mußte, daß es auch in der Bundesrepublik die Tendenz dazu gibt.

Was meinen Sie damit konkret?

Ortleb: Natürlich stellt sich die Frage nach Volk und Nation heute anders als in der DDR: Heute geht es zum Beispiel darum, ob man Volk durch Bevölkerung ersetzen kann. Die Vorstellung, es sei egal, wer in einem Staat lebt, denn schließlich könne jeder mit jedem, ist aber ein gründlicher Irrtum.

Wer so etwas vertritt, hat keine Ahnung von Geschichte. Denn tatsächlich muß eine Gemeinschaft ein Nationalverständnis haben, zum Beispiel um zu begreifen, warum man nicht nur für sich, sondern für die Gesamt
heit verantwortlich ist.

Von 1990 bis 1994 waren Sie Bundesminister in Bonn. Man hat den patriotischen Impuls der Wiedervereinigung dort also nicht aufgenommen? 

Ortleb: Nein, ich mußte feststellen, daß das Thema Patriotismus dort mit der Wiedervereinigung abgehakt zu sein schien, statt dessen blickte man lieber wieder nach Europa. Ich habe nichts gegen Europa, aber es war bestürzend zu erleben, daß die politische Klasse des wiedervereinigten Deutschland mit dem Geschenk der Einheit offenbar gar nichts anzufangen wußte.

Es war, als wäre ihnen das im Herbst 1989 so dazwischengekommen, und nachdem man das Problem am 3. Oktober 1990 unter Dach und Fach gebracht hatte, ging man wieder zur europäischen Tagesordnung über, als sei nichts gewesen. >>

Offenbar hat das die Deutschen nicht gestört.

Ortleb: Ich habe mich damals auch gefragt, woran das eigentlich liegt: Handeln die Politiker so, weil die Deutschen sich nicht mehr für Volk und Nation interessieren? Ich kann diese Frage natürlich nicht mit Sicherheit beantworten, mit Sicherheit kann ich überhaupt nur sagen, daß ich und auch mein Bekanntenkreis nach 1990 wieder mehr Volk und Nation erwartet haben und daß man aus der historischen Erfahrung heraus feststellen kann, daß ohne Gemeinschaft die Leute nicht zusammenhalten und daß das auch für Nationalstaaten gilt.

Im übrigen wäre ich mir nicht so sicher, daß es die Deutschen nicht gestört hat, denn obwohl ich eben dazu aufgerufen habe, die persönlichen Enttäuschungen nicht über die Freude an der Wiedervereinigung zu stellen, sage ich Ihnen ebenso klar: Diese Enttäuschungen existieren, und es hat wiederum keinen Zweck, sie mit der Freude über die Einheit überdecken zu wollen. 

Sie zählen sich zu den Enttäuschten?

Ortleb: Leider ja. Und inzwischen ist mir auch klar, welchen Geburtsfehler die Wiedervereinigung hat. Sie ist bekanntlich nicht so abgelaufen wie im Grundgesetz vorgesehen, nämlich als Beendigung des Interimszustands nach 1945 durch das Schaffen eines neuen Deutschland gemäß Artikel 146 des Grundgesetzes.

Statt dessen kam es nur zu einem Beitritt gemäß Artikel 23, der eigentlich dafür gar nicht vorgesehen war, sondern geschaffen wurde, um 1957 den Anschluß des Saarlandes zu ermöglichen. Das aber hat dazu geführt, daß erstens der eine Teil Deutschlands bei der Wiedervereinigung quasi „hinten runtergefallen“ ist und daß zweitens die Deutschen heute nicht wie andere Völker auch in einem selbstbewußten Nationalstaat leben, sondern quasi immer noch in einem verlängerten Nachkriegsprovisorium.

„Heute würde ich manches anders machen, wenn ich könnte“

Sie waren damals als aktiver Politiker selbst am Prozeß der Wiedervereinigung beteiligt. 

Ortleb: Das stimmt, als Fraktionsvorsitzender der Liberalen in der letzten, freigewählten DDR-Volkskammer, die in einer Koalition mit der CDU-geführten Allianz für Deutschland und der SPD die Regierung unter Lothar de Maizière stellten, war ich sogar maßgeblich für die Ausarbeitung des Einigungsvertrags verantwortlich.

Heute muß ich einräumen, daß dabei nicht alles geglückt ist, so manches würde ich heute anders machen, wenn ich könnte. Allerdings standen wir damals auch unter erheblichem Druck, und zudem ist man hinterher immer klüger. Heute empfinde ich es allerdings – als jemand, der damals Verantwortung getragen hat – als Verpflichtung, in diesen Fragen auch mir selbst gegenüber Rechenschaft abzulegen.

Sie waren bereits vor 1989 Funktionär der DDR-Blockpartei LDPD. Als solcher haben Sie alles andere als die Wiedervereinigung im Sinn gehabt, sondern die SED-Herrschaft aktiv unterstützt, die DDR-Diktatur gar als „verteidigungswürdige Gesellschaftsordnung“ und „gerechte Sache“ bezeichnet.

Ortleb: In die LDPD bin ich eingetreten, weil mir als Student eine SED-Mitgliedschaft nahegelegt wurde. Da mein Vater schon in der LDPD war, war plausibel, daß auch ich den Liberaldemokraten beitrete. Und natürlich wurde erwartet, nicht einfach nur als Karteileiche dahinzuvegetieren, sondern auch Verantwortung zu übernehmen.

Ich habe diese Rede, aus der Sie eben zitiert haben, nicht selbst geschrieben, aber es stimmt, daß ich sie gehalten habe. Das war 1977, ich wurde damals dafür ausgewählt, sie wurde mir quasi „aufs Auge gedrückt“. Weitere solcher Reden gab es folglich nicht. Aber richtig ist, ich habe in der Tat, das muß ich einräumen, diesem Staat gedient.

Ich bin von Beruf Mathematiker und Programmierer, und mein Interesse galt Technik und Wissenschaft und nicht der Politik, ich habe mich deshalb nicht so sehr mit dem Staatswesen der DDR beschäftigt. Aber ich habe nach der Wende feststellen müssen, wie weit weg wir damals von aller Realität im Lande waren. Später habe ich allerdings eine ähnliche Tendenz auch im Politikbetrieb der Bundesrepublik bemerkt. >> 

Inwiefern? 

Ortleb: Ich glaube, daß eben wie gesagt die Enttäuschung über die Wiedervereinigung so vieler Bürger daraus resultiert. Auch habe ich feststellen müssen, daß das Versprechen der Demokratie nicht gehalten wird. Wie in der DDR geht es auch heute um Macht und nicht um Freiheit. Statt von einer Demokratie sollten wir ehrlicher von einer Mediokratie sprechen:

Ich meine damit, daß nicht Volk und Freiheit herrschen, sondern die sogenannten „Meinungsmacher“. Als Bundesminister war ich einmal zu Besuch beim ZDF in Mainz und habe dort mit Ernüchterung erlebt, wie auf einer Sitzung der „Heute“-Nachrichtenredaktion unter den tausend Meldungen, die dort damals täglich eingingen, ganz offen diejenigen ausgewählt wurden, die der Redaktion am besten paßten, um einen bestimmten Tenor zu erzeugen.

Das heißt, das grundgesetzliche Recht auf Meinungsfreiheit ist zwar de jure in Kraft, fällt aber de facto Meinungsmonopolisten zum Opfer.

Können Sie dafür Beispiele nennen?

Ortleb: Ich bin sicher, jedem kritischen Mediennutzer werden selbst etliche Beispiele dafür einfallen. Nehmen Sie jüngst natürlich den Fall Sarrazin. Egal, wie man zu seinen Aussagen steht, war es doch absolut erschreckend zu sehen, wie mit ihm umgegangen worden ist.

Zwar war es auch nicht schlimmer als das, was zuvor etwa die TV-Moderatorin und Publizistin Eva Herman oder mein ehemaliger Parteifreund Alexander von Stahl erleiden mußten, aber die neue Qualität bestand darin, daß dies nun selbst einem so mächtigen Mann wie Thilo Sarrazin passieren kann. Und das ist doch der springende Punkt – die Botschaft ist:

Wenn selbst eine so etablierte Persönlichkeit wie er nicht mehr sicher ist, dann wissen alle einfachen Bürger, daß sie erst recht lieber den Mund halten. Oder ein weiteres Beispiel aus eigenem Erleben: Glauben Sie, es wäre zu meiner Zeit als aktiver Politiker möglich gewesen, mit einem Mann wie Jörg Haider offen Kontakt aufzunehmen? Haider war doch als „Rechtspopulist“ quasi unberührbar.

„Den Mut haben, den 3. Oktober auf den 9. November zu verlegen“

Sie hätten sich also eine stärker nationalliberale Ausrichtung der FDP gewünscht?  

Ortleb: Ja, allerdings gebe ich zu, daß ich es zu meiner aktiven Zeit eben nicht gewagt habe, etwas in dieser Richtung zu unternehmen. Tatsächlich habe ich erst 2008 mit Jörg Haider Kontakt aufgenommen: Schließlich waren wir zu einem privaten Treffen verabredet, da verunglückte er am 11. Oktober überraschend tödlich.

Zu meinen politischen Vorbildern zählt eben zweifellos der große Nationalliberale Friedrich Naumann, Vorsitzender der liberalen Partei zu Beginn der Weimarer Republik und geistiger Ziehvater des späteren FDP-Mitgründers und ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss. Heute allerdings bin ich mit der Partei fertig.

Warum?

Ortleb: Allgemein hat mich enttäuscht, daß die Partei das, was sie inhaltlich verspricht, regelmäßig nicht hält. Der Koalitionsvertrag ist ja nun ein neuer Beweis dafür: Für alle, die die FDP aus Überzeugung gewählt haben, ist der Vertrag doch eine Riesenenttäuschung. Und nicht zuletzt legt die FDP heute definitiv keinen Wert mehr auf ihr nationalliberales Erbe. Dabei wäre das nach meiner Ansicht sogar ein politisches Zukunftsmodell für Deutschland.

Allgemein gilt er als ausrangiert.

Ortleb: Zu Unrecht, denn der Nationalliberalismus ist ein Mittelweg zwischen der nationalistischen Zwangsgemeinschaft wie im Dritten Reich, bei der der Einzelne und der Fremde gar nichts gelten, und dem Internationalismus bzw. Multikulturalismus der Gegenwart, bei dem die soziale Gemeinschaft der Eigenen zugunsten des Einzelnen und des Fremden nichts mehr gilt. Beides sind verhängnisvolle Extreme, die sich irgendwann rächen. >>

Ihre Bilanz zum Jahrestag des 9. November 1989 fällt also rein negativ aus?

Ortleb: Nein, nach meinem Rückzug aus der Politik 2001 habe ich mich dem Vereinswesen gewidmet, um wieder in Kontakt mit den Menschen zu kommen. Die dadurch gemachten Erfahrungen machen mir Hoffnung. Und obwohl ich keine politischen Ambitionen mehr habe, möchte ich dennoch einen Vorschlag machen:

1990 haben wir am Ende des deutsch-deutschen Einigungsvertrages extra eine Klausel eingefügt, die es erlaubt, den Vertrag mit Zweidrittel-Mehrheit zu ändern. Nachbesserungen sind also grundsätzlich möglich! Es muß sich nur die politische Stimmung im Land ändern.

Einen ersten Verbesserungsvorschlag hätte ich schon: Vielleicht sollten wir den Mut haben, den Nationalfeiertag der Deutschen vom 3. Oktober, für den ich damals leider mitverantwortlich war, der sich aber nicht bewährt hat, auf den 9. November zu verlegen, den Tag, an dem unsere Herzen höher schlagen!

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Prof. Dr. Rainer Ortleb, Bundesminister a.D.  Im Frühjahr 1990 wurde der 1944 in Gera geborene Informatik-Professor Partei- und Fraktionschef der ehemaligen SED-Blockpartei LDP – vormals LDPD (Liberal-Demokratische Partei Deutschlands).

Er organisierte die Fusion mit der FDP, deren Bundes-Vize er bis 1995 war, und nahm an den Verhandlungen zur deutschen Einheit teil. 1990 wurde er Bundesminister für besondere Aufgaben, 1991 für Bildung und Wissenschaft und im gleichen Jahr FDP-Chef in Mecklenburg-Vorpommern.

1994 zog er sich von beiden Posten zurück, blieb jedoch bis 1998 Bundestagsabgeordneter. 1997 übernahm er den Vorsitz der FDP in Sachsen, trat aber 1999 auch hier zurück. 2001 verließ er enttäuscht seine Partei.  

JF 46/09

   

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