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Der garantierte Blankoscheck

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Ivan Maiskij lachte laut auf. Als sowjetischer Botschafter in London hatte er im April 1939 gerade im britischen Außenministerium nachgefragt, was denn nun wirklich dran sei an den neuen Londoner Zusagen gegenüber Polen. Treuherzig versicherte ihm dort Unterstaatssekretär Alexander Cadogan, man müsse den Wortlaut der polnisch-britischen Erklärung ernst nehmen: Zum ersten Mal in der Geschichte sei die Entscheidung über einen britischen Kriegs-eintritt einem anderen Land überlassen worden, nämlich der Republik Polen. An diesen revolutionären Schritt glaube er keine Sekunde, spöttelte Maiskij, das sei doch hier schließlich das Land, in dem man Revolutionen sonst so gar nicht leiden könne.

Was heutzutage meist als „britische Garantie für Polen“ in den Geschichtsbüchern auftaucht, stellte tatsächlich eher eine Offensivmaßnahme dar. Sie zielte weniger auf Bewahrung des Bestehenden als auf Veränderung der politischen Koordinaten zu Lasten Deutschlands. In den Folgemonaten vergiftete das die internationalen Beziehungen, besonders als Deutschland und Italien im Mai 1939 den Fehdehandschuh aufgriffen und zu ähnlichen Konditionen den berühmt gewordenen „Stahlpakt“ schlossen. Auch er wurde nach dem Vorbild des britisch-polnischen Abkommens ein Beistandspakt ohne jede Einschränkung. „Wenn es entgegen den Wünschen und Hoffnungen der vertragschließenden Teile dazu kommen sollte, daß einer von ihnen in kriegerische Verwicklungen gerät, wird ihm der andere Vertragsgenosse sofort als Bundesgenosse zur Seite treten und ihn mit allen seinen militärischen Kräften unterstützen“, hieß es zwischen Deutschland und Italien. Nichts anderes war zwischen Großbritannien und Polen vereinbart worden, denn es war auch diesen beiden Staaten formal gleichgültig, ob der Vertragspartner sich verteidigte oder selbst angegriffen hatte.

Für den Fall einer unmittelbaren oder mittelbaren Bedrohung der Unabhängigkeit jedes der beiden Länder, gegen die eine der Regierungen den Widerstand ihrer nationalen Wehrmacht als unerläßlich ansehen würde, galt die uneingeschränkte Beistandspflicht, so lautete die Erklärung des britischen Premiers Neville Chamberlain vor dem Unterhaus. Ein deutscher Angriff auf Polen war nicht nötig. Das Bündnis galt ebenso für den Fall, daß irgendeine Aktion einer europäischen Macht direkt oder indirekt die Unabhängigkeit einer der Vertragsparteien bedrohen würde.

Ein weiterer Zusatzartikel dehnte den Vertragsfall sogar noch auf Konflikte zwischen anderen Ländern aus, wenn dies eine offensichtliche Bedrohung der Sicherheit einer der Vertragsparteien bedeuten sollte. Der Bündnisfall konnte demnach eintreten, wenn zum Beispiel Polen sich wegen deutscher Interessenpolitik in Danzig oder Litauen für bedroht erklärte und in die militärische Offensive ging. Die Metapher vom „Freibrief“, wie sie in diesem Zusammenhang gelegentlich verwendet wurde, trifft formal durchaus zu. Josef Davies, bis 1938 der amerikanische Botschafter in Moskau und ab Herbst 1939 in Brüssel, sprach in seinem Tagebuch vom englischen „Blankoscheck“. Vergleichbares war bis zum Frühjahr 1939 in der Diplomatiegeschichte nur selten zu finden, schon gar nicht in der britischen, wo das Foreign Office bis zu diesem Zeitpunkt jedes verpflichtende Bündnis in Friedenszeiten vermieden hatte. Auch dem in London residierenden amerikanischen Botschafter Joseph Kennedy, Vater des späteren US-Präsidenten, war gleich der Gedanke gekommen, dies wäre so etwas wie ein Freibrief für jede polnische Aktion.

Die Republik Polen war demnach zum Richter über einen Krieg Großbritanniens gegen Deutschland geworden, den jede beliebige deutsche Maßnahme auslösen konnte. Das war in der Tat ein völliger Bruch mit den diplomatischen Traditionen Englands und nicht nur Englands. Aus Sicht der polnischen Politik und der Militärs unter Marschall Edward Rydz-Śmigły konnte dies mit Blick auf die in Warschau sowieso für unvermeidlich gehaltene deutsch-polnische Auseinandersetzung als ein „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ interpretiert werden. Das wurde es offenbar auch. Der britisch-polnische Stahlpakt ließ ein Blutbad wahrscheinlicher werden, und es gibt Indizien, daß er auch mit Boden bezahlt wurde. Polens Außenminister Józef Beck stellte in London offiziell „Kolonien und Danzig“ als territoriale Forderungen in den Raum.

Der frühere Reichskanzler Brüning sagte später, man habe ihm nach Kriegsausbruch im Londoner Exil ein Abkommen zur Kenntnis gegeben, in dem der Republik Polen bei dieser Gelegenheit hinter den Kulissen für den Kriegsfall der Erwerb von Teilen Ostdeutschlands zugesagt worden sei. Er habe es abgelehnt, auf dieser Basis in irgendwelche Verhandlungen einzutreten. Danzig und Litauen konnten jederzeit zur Kriegsursache werden, wenn die Regierung in Warschau dies wollte – was für sich allein genommen nicht beweist, daß sie es wollte. Allerdings drohte die Warschauer Regierung am 10. August 1939 exakt dieses offensive Vorgehen wegen ihrer Rechte in Danzig tatsächlich auch an. „Die Polnische Regierung wird jede künftige Einmischung der Deutschen Regierung zum Schaden dieser Rechte und Interessen als einen Angriffsakt betrachten“, erklärte sie in Berlin. Die nächste deutsche diplomatische Note zum Thema Danzig sollte also als kriegerischer Akt betrachtet werden und würde die britische Garantiezusage ebenso wirksam werden lassen wie das französisch-polnische Militärabkommen, in dem dieses Danziger Szenario im Mai 1939 exakt eingeplant worden war. Zunächst schienen Ivan Maiskij und seine Landsleute in der Tat den meisten Grund zum Lachen zu haben.

Europas Staatenwelt stürzte sich schließlich im September 1939 in einen Krieg, aus dem die Sowjetunion sich vorerst heraushalten und als Preis für ihre Neutralität auch noch halb Osteuropa einschließlich der Hälfte Polens einstreichen konnte. Im Kreml feierte man dies und gab die Parole aus, die Kriegsgegner bei nächster Gelegenheit weiter aufzuhetzen. Es schien Aussicht zu bestehen, den diplomatischen Revolutionen in Europa noch solche ganz anderer Art folgen zu lassen. Aber schließlich zeigte der weitere Kriegsverlauf, daß sich alle Beteiligten verrechnet hatten, jeder auf seine Weise.

Fotos: Der britische Außenminister Anthony Eden trifft 1935 seinen Warschauer Amtskollegen Józef Beck: Richter über einen Krieg, Der polnische Marschall Edward Rydz-Smigły mit Generalstabs-chef Wacław Stachiewicz: „Wenn nicht jetzt, wann dann?“

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