Systeme vergehen, Probleme bestehen. So zog Nicolai Hartmann 1936 die Quintessenz aus lebenslanger Beschäftigung mit der Philosophiegeschichte. Auf den heutigen Forschungsalltag der Geisteswissenschaften trifft dies unverändert zu, daran hat auch die Umbenennung in „Kulturwissenschaften“ nichts geändert. Ein Dauerbrenner bleibt daher die Frage nach den Ursachen weltanschaulichen Wandels. Unter welchen Voraussetzungen entsteht eine revolutionäre Stimmung, was braucht es, um einen Resonanzboden für neue Ideen zu bereiten? Eine Variante dieses Problems ist in der Kunstgeschichte allgegenwärtig: Unter welchen Bedingungen verändert sich das ästhetische Empfinden einer Gesellschaft? Passen sich Künstler diesem Geschmackswandel nur an, oder initiieren sie ihn? In diesem Kontext ist die Frage nach den Determinanten moderner Naturwahrnehmung im Zeichen zunehmenden Interesses an „Umweltgeschichte“ in den letzten zwanzig Jahren gebieterisch in den Mittelpunkt kunsthistorischer Aufmerksamkeit gerückt. Mit seiner Studie über „Die Entstehung der modernen Landschaftswahrnehmung“ (Historische Zeitschrift, Band 287/08) kommt der junge Chemnitzer Historiker Manuel Schramm also modischen Erwartungen sehr entgegen. Leider schränkt Schramm das Problem der „Entstehung“ eines neuen Naturverständnisses im Gang seiner Untersuchung darauf ein, die Periodisierung präzisieren zu wollen. Beginnt die neuzeitliche Aufwertung der Natur in der italienischen Renaissance des 14./15. Jahrhunderts, wie noch Jakob Burckhardt und, ihm folgend und mächtig wirkend, Joachim Ritter glaubten? Oder ergab sich ein neues künstlerisches Verhältnis in Abhängigkeit von der „Mechanisierung des Weltbildes“ im 17. Jahrhundert? Oder sogar erst mit einer vorher unbekannten Faszination der „wilden Natur“ im Hochgebirge und an Meeresküsten, wie sie mit der Romantik um 1800 einsetzt? Schramm entscheidet sich für das zweite Deutungsmodell, glaubt aber, es von der Reduktion auf die mit Bacons, Descartes und Gali-leis Schaffen verknüpfte „wissenschaftliche Revolution“ befreien zu dürfen. Er verweist statt dessen auf neue Formen technisch-wissenschaftlichen Umgangs mit der Natur, wie sie sich etwa bei der Landgewinnung in Holland um 1600 abzeichneten. Nicht zuletzt hätten kartographische Methoden die Landschaftsmalerei beeinflußt, sie „exakter“ in der Wiedergabe, „realistischer“ werden lassen. Warum diese Sichtweise um 1600 stärker als noch 1560 plötzlich „auf ein rezeptionsbereites Publikum“ stieß, warum wegen großer Nachfrage nun eine Kunstproduktion für den anonymen Markt möglich wurde, was die „Wertschätzung des Sichtbaren“, den Bilderhunger anstachelte, der Teil eines nicht weiter untersuchten „größeren Wandlungsprozesses in der Wahrnehmung und Darstellung von Landschaft“ sein soll — zur Klärung dieser naheliegenden Fragen tragen Schramms Exkursionen in die Kulturgeschichte der Niederlande nichts bei. Der Chemnitzer Historiker ist freilich noch jung genug, um einen zweiten Anlauf zur Problemlösung mit seiner Lebensplanung vereinbaren zu können.