Die Journalistin Margret Boveri (1900-1975) kehrte im Frühjahr 1944 aus Madrid nach Berlin zurück. Ein halbes Jahr zuvor war die Frankfurter Zeitung, für die sie als Auslandskorrespondentin berichtet hatte, eingestellt worden, doch der tiefere Grund ihrer Heimreise war ein anderer. Am 8. März 1945 notierte sie: „(…) ich glaube, was sich in Berlin ereignen wird, wird symbolisch sein fürs Ganze, und dies mitzuerleben bin ich doch zurückgekommen.“ Sie wollte sehen, was geschieht, und zugleich das geschichtliche Prinzip erkennen, das sich in den Ereignissen manifestierte. Zuallererst aber zeigen ihre Aufzeichnungen vom Februar bis August 1945 die Innenseite des totalen Zusammenbruchs. Der Titel „Tage des Überlebens“ ist daher wörtlich zu nehmen. Der unmittelbare Erfahrungshorizont reichte kriegsbedingt oft nur bis zur nächsten Straßenecke. Die weltläufige Boveri war abgeschnitten von den modernen Kommunikationssystemen und angewiesen auf Gerüchte und das, was sie vom Balkon aus sah. Das packende Zeitbild, das sich daraus ergibt, verdankt sich ihrer Fähigkeit, die Realitätspartikel phänomenologisch zu erfassen, anstatt sie moralisch oder vordergründig politisch zu bewerten. Sie sieht die grausamen Umstände des russischen Einmarsches in Berlin und empfindet trotzdem Respekt vor Nikolai Bersarin, dem ersten russischen Stadtkommandanten, der das Wüten seiner Soldaten nicht eindämmen kann, sich aber bemüht, das Überleben der Berliner Bevölkerung zu sichern. Auffällig ist ihre Äquidistanz gegenüber Russen und Amerikanern. Sie vermerkt das schadenfrohe Behagen, mit dem amerikanische Rundfunksender den Deutschen für den Winter 1945/46 eine Hungersnot ankündigten. Die Amerikaner hätten „überhaupt keine Ahnung von Deutschland und den Deutschen“, sondern sich ein Bild konstruiert, „und auf dieses Bild hauen sie jetzt ein“. Schon in den dreißiger Jahren, als sie in arabischen Ländern tätig war, hatte die Tochter einer Amerikanerin festgestellt, daß die amerikanischen Ingenieure sich nicht für die Kulturen der Gastländer interessierten, sondern nur für Klimaanlagen und Hollywood-Filme. Während Margret Boveri heute wenigstens noch dem Namen nach bekannt ist, hat sich über Richard Tüngel (1893-1970) der Schleier des Vergessens gesenkt. Tüngel gehörte zu den Mitbegründern der Zeit und war einige Jahre ihr Chefredakteur. 1955 wurde er nach Auseinandersetzungen mit Marion Gräfin Dönhoff abgesetzt, die sich darüber echauffierte, daß die Zeitung Carl Schmitts Aufsatz „Im Vorhof der Macht“ publiziert hatte. 1958 veröffentlichte Tüngel gemeinsam mit dem Journalisten und Schriftsteller Hans Rudolf Berndorff (1985-1963) – Verfasser der Autobiographien von Hjalmar Schacht und Ferdinand Sauerbruch sowie eines spannenden Buches über Kurt von Schleicher („General zwischen Ost und West“) – unter dem Titel „Auf dem Bauche sollst Du kriechen“ seine Erinnerungen an die Nachkriegszeit. Jetzt liegt – unter dem weniger verfänglichen Namen „Stunde Null“ – eine Neuauflage vor. Tüngels erste Nachkriegsbegegnung war mit einem Engländer, ein junger Bilderbuch-Gentleman, der in Hamburg von Haus zu Haus ging und im feinsten Oxford-Englisch die Herausgabe von Uhren, Fotoapparaten und Ferngläsern forderte. Das Buch enthält auch Artikel, in denen Tüngel und Berndorff die Folterungen anprangerten, die die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse begleiteten. Viele Untersuchungsbeamte „waren sogenannte ‚1939‘, frischgebackene US-Staatsbürger, die bis 1939 aus Deutschland emigrierten und nach Kriegsende als Racheengel wiederkehrten“. Für Tüngel und Berndorff war klar, daß moralische und kriminelle Schuld hier willkürlich vermengt wurden, nach dem Motto: „Du warst kein Held, also bist Du ein Verbrecher!“ Es seien „Offiziere, Beamte, Industrielle mit Schwerverbrechern zusammengestellt und durcheinandergemischt (worden), um ein Bild nachzuschaffen“, das man sich draußen von Deutschland gemacht hatte. Mit welcher Absicht wohl? Das Buch ist eine Fundgrube voller Beobachtungen und Einblicke, die man anderswo nicht mehr erhält. Es zwingt dazu, über die ersten Nachkriegsjahre in den Westzonen neu nachzudenken. Bei aller berechtigen Empörung haben die Autoren sich die Fähigkeit zur Objektivität bewahrt. Sie schildern auch, daß britische Offiziersfrauen entsetzt über das Elend waren und karitativ tätig wurden. Trotz Fraternisierungsverbots winkte ein schottischer Feldkoch, sobald die Offiziere verschwunden waren, die hungrigen Kinder heran und speiste sie aus der Gulaschkanone, während seine Kameraden Posten standen. In Bremen lief ein Schiff mit 30.000 Care-Paketen und 5.000 Tonnen Winterweizen ein, gespendet von Farmern aus dem Nordwesten der USA. Das Erinnerungsbuch von Stefan Doernberg, Jahrgang 1924, ist völlig anders konzipiert. Doernberg war 1935 als Sohn jüdischer Kommunisten mit seinen Eltern in die Sowjetunion emigriert. 1945 kehrte er als sowjetischer Propagandaoffizier zurück. In der DDR stieg er zum Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, später des Instituts für Internationale Beziehungen auf. Vier Jahre lang vertrat er die DDR als Botschafter in Finnland. Am 1. Mai 1945 dolmetschte er die Verhandlungen zwischen dem russischen General Tschuikow und General Krebs, der im Auftrag von Goebbels vergeblich versuchte, einen Waffenstillstand zu vereinbaren. Stoff genug also für spannende Memoiren, doch Doernberg kann sein Versprechen einer „eigenen Sicht“ nicht einlösen. Der Vergleich mit Wolfgang Leonhards Klassiker „Die Revolution entläßt ihre Kinder“ fällt vernichtend aus. Doernberg bleibt völlig in der kommunistischen Dogmatik und Phraseologie befangen. Stalin habe zwar Fehler gemacht, doch der Sieg über Hitler rehabilitiert ihn. Und überhaupt: „Die sozialistische Gesellschaftsordnung, so unvollkommen sie war, bewies ihre Überlegenheit schon dadurch, daß sie sich fähig zeigte, alle Kräfte der Gesellschaft zu mobilisieren.“ Ihm fällt im Frühjahr 1945 die Servilität der Deutschen gegenüber den russischen Siegern auf. Vor den Vergewaltigungen und Übergriffen der Rotarmisten hat er offenbar die Augen verschlossen. Vergleicht man aber die drei Bücher unter dem Gesichtspunkt, welches an die aktuellen, offiziösen Geschichtsdiskurse – um das Modewort zu benutzen – „anschlußfähig“ ist, dann ist es ausgerechnet das des Altkommunisten, der treu zur Fahne steht. Woran das nur liegt? Eine Antwort findet sich in dem brillanten Essay des ungarischen Literaturwissenschaftlers László F. Földényi über die „Umerziehung“ und „systematische Maßregelung eines Volkes“, der als Anhang zum Buch von Tüngel und Berndorff abgedruckt ist. 1945 sei ein enthauptetes Deutschland in die Hände gänzlich unsentimentaler Sieger gefallen, die von den Traditionen, der Mentalität und dem Geschmack der Besiegten nur noch duldeten, was sie für nützlich befanden. Durch ihren Sieg sahen sie sich berechtigt, die eigenen politischen Interessen mit den höchsten Menschheitsgütern gleichzusetzen. „Die Freiheit bedeutete für die Deutschen, daß sie frei den Siegern gehorchen konnten – allesamt, nicht nur die Schuldigen.“ Der Essay heißt „Europa“ und ist inspiriert von Lars von Triers gleichnamigem Film, der die deutsche Tragödie ins Europäische weitete. In den Worten Hans Rudolf Berndorffs: „Als wir auf dem Bauche krochen und Staub fraßen, nun – da fraß das deutsche Publikum alles das, was die Besatzungsmächte ihm als geistige Nahrung erlaubten. Jegliche Drucklegung mußte mit Erlaubnis der Besatzungsmächte vor sich gehen. Die Literatur in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern wurde von den Besatzungsmächten gesteuert, und die Amerikaner überschwemmten den deutschen Markt schon während der Reichsmarkzeit mit amerikanischer Ware im Stile von Reader’s Digest und verkündeten jedem, der es wissen wollte – und vor allen Dingen uns, die wir es nicht wissen wollten -, daß sie das mindestens vierzig Jahre so halten wollten.“ Und Boveri schrieb rückblickend, der russische Siegesrausch hätte sich als ein „überwältigendes Naturereignis“ dargestellt. Inzwischen „hat sich das ungeheure traumatische Ereignis (…) zu einem historischen Faktum verselbständigt und übersteigernd verwandelt“. Kurzum: Die Roßkur hat angeschlagen. Mit vermutlich irreversiblen Folgen. Foto: Ein Panzer der US-Truppen rollt am 5. April durch eine deutsche Stadt auf dem Vormarsch zur Elbe Margret Boveri: Tage des Überlebens. Berlin 1945. Mit einem Vorwort von Egon Bahr. wjs-Verlag Berlin 2004, 316 Seiten, gebunden, 22 Euro Stefan Doernberg: Fronteinsatz. Erinnerungen eines Rotarmisten, Historikers und Botschafters. Edition Ost, Berlin 2004, 280 Seiten, broschiert, 14,90 Euro Richard Tüngel , Hans Rudolf Berndorff: Stunde Null. Deutschland unter den Besatzungsmächten. Mattthes & Seitz, Berlin 2004, 437 Seiten, gebunden, 24,90 Euro