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Völkermord im weißen Winkel Europas

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Vom Völkermord in Ruanda berichteten anläßlich des zehnten Jahrestages alle Medien umfangreich. Als auf der Leipziger Buchmesse die ehemalige lettische Außenministerin Sandra Kalniete vom Völkermord im Baltikum zu sprechen wagte, verließ der stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Salomon Korn, unter Protest den Saal (JF 15/04). Das gibt Anlaß, an das zu erinnern, was sich nach der sowjetischen Besetzung Estlands, Lettlands und Litauens nach 1940 dort abgespielt hat. Denn die westliche Öffentlichkeit hat bisher kaum davon Kenntnis genommen. Die Odyssee der Balten unter Stalin begann bereits 1940 Es war der spätere estnische Premierminister Mart Laar, der 1988 noch während der sowjetischen Besatzung sein Volk und die Weltöffentlichkeit aufrüttelte. Im Namen der Estnischen Denkmalschutzgesellschaft (Eesti Muinsuskaitse Selts) rief er die Überlebenden der sowjetischen Greuel dazu auf, ihre Erinnerungen aufzuschreiben und damit vor dem Vergessen zu bewahren. „Wir müssen uns bewußt machen“, schrieb er in der Zeitschrift Vikerkaar, „daß es in Estland nicht eine einzige Familie gibt, in der nicht jemand in Sibirien gesessen hat, in der es keine Ermordeten, Verschleppten oder Geflüchteten gibt. Innerhalb von zehn Jahren verlor das estnische Volk 25 Prozent seiner Angehörigen, darunter vor allem die Tüchtigsten und Gebildetsten.“ Schon kurz nach dem Einmarsch der Roten Armee im Juni 1940 bildeten sich im ganzen Land Widerstandsgruppen, darunter vor allem die „Waldbrüder“ (Metsavennad), die über die deutsche Besatzung im Weltkrieg hinaus bis in die späten vierziger Jahre einen erbitterten Partisanenkrieg gegen die sowjetischen Okkupatoren führten. Gegen jede oppositionelle Regung gingen die Sowjetbehörden mit unvorstellbarer Grausamkeit vor. Sogenannte Vernichtungsbataillone (Hävituspataljonid), an denen sich auch einheimische Kommunisten beteiligten, rotteten im Peipusgebiet ganze Dörfer mit all ihren Einwohnern aus. Laar schrieb von zu Tode gequälten Frauen und Kindern, von ausgepeitschten Schwangeren, von Kindern, die man an Bäume nagelte, Jugendlichen, die mit Säure übergossen wurden. Hier wurde Nemmersdorf vorweggenommen. Und als 1941 die deutschen Truppen die Sowjets vertrieben hatten, fand man in den Folterkellern des stalinistischen Geheimdienstes GPU grausam verstümmelte Leichen. Der schlimmste Schlag gegen die baltischen Völker war aber die organisierte Massenverschleppung der Jahre 1941 und 1949. In der Nacht zum 14. Juni 1941 (also eine Woche vor Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges) wurden in Estland und Lettland ganze Familien aus ihren Betten gerissen und in bereitstehende Güterzüge gepfercht, die man den ganzen Tag über in glühender Sonne auf den Bahnhöfen stehen ließ. Der Verfasser dieser Zeilen sprach mit Augenzeugen, die damals versuchten, den Unglücklichen Wasser und Lebensmittel zu bringen. Sie wurden von den sowjetischen Bewachern mit aufgepflanztem Bajonett vertrieben. Noch ehe die Züge sich schließlich nach Sibirien in Bewegung setzten, waren zahlreiche Kleinkinder sowie alte und gebrechliche Leute gestorben. Nach der Ankunft in den Verbannungsgebieten fällten und vollstreckten sowjetische Gerichte zahllose Todesurteile gegen Menschen, deren einziges Verbrechen darin bestand, daß sie zur bürgerlichen Intelligenz gehörten. Teilweise erfuhren die Angehörigen davon erst, nachdem Gorbatschows Perestrojka in Kraft getreten war. Schlimmes spielte sich auch ab, als die baltischen Staaten 1944/45 von der Roten Armee zurückerobert wurden. Da viele Letten und Esten den Kampf der Wehrmacht gegen die Sowjets unterstützten und teilweise sogar in deren Reihen kämpften, mußten sie ebenso wie die Deutschen das Los der Verlierer tragen. Die Zahl der damals Ermordeten, Verhafteten und Verschleppten wird sich laut Laar nie mehr genau beziffern lassen. Die „Waldbrüder“ aber setzten ihren Kampf gegen die Besatzer noch lange fort. Wie Hermann Behr, ein deutscher Kriegsgefangener, der sich nach der Flucht aus dem Lager den Waldbrüdern anschloß, in seinem Buch „Der Wolf von Laekvere“ schildert, wurden die estnischen Partisanen noch lange nach Kriegsende von geheimnisvollen Flugzeugen aus mit Waffen und Munition versorgt. Als diese Quelle versiegte und ein besonders grimmiger Winter den Widerstandswillen der „Waldbrüder“ zermürbte, verkündeten die sowjetischen Behörden eine Amnestie für alle, die sich freiwillig stellten. Tatsächlich geschah den ersten Männern, die den Widerstand einstellten, zunächst nichts. So gaben schließlich immer mehr von ihnen den Kampf auf und kehrten zu ihren Familien zurück. Monatelang blieben sie unbehelligt – bis dann 1949 die zweite, noch furchtbarere Verschleppungswelle einsetzte. Diesmal wurde in den „Sozialistischen Sowjetrepubliken“ an der Ostsee im Zuge der 1940/41 noch nicht vollzogenen Kollektivierung auch die Enteignung und Verfolgung der selbständigen Bauernschaft „nachgeholt“, die in Rußland und der Ukraine im Zuge des „Kampfes gegen die Kulaken“ knapp zwanzig Jahre zuvor bereits Millionen von Opfern forderten. Da die Archive über diese Aktion (ähnlich wie bei der Stasi) zum Teil vernichtet worden sind, wird sich die genaue Zahl der nach Sibirien Deportierten wohl nie mehr genau feststellen lassen. Brüssel verordnet Nachsicht mit den Besatzern von einst Fest steht, daß der von Stalin und seinen Helfershelfern geplante Genozid durch eine gelenkte Masseneinwanderung von Russen, Weißrussen und Ukrainern in die baltischen Staaten vollendet werden sollte. Die angestrebte Vermischung zwischen Einheimischen und Zuwanderern fand aber praktisch nicht statt. Die Fremden igelten sich in ghettoähnlichen Plattenbausiedlungen ein, und die Esten und Letten leisteten überall, wo dies möglich war, hinhaltenden passiven Widerstand. Noch heute kann es passieren, daß russischsprechende Touristen in einem Rigaer Kaufhaus nicht bedient werden oder in einem estnischen Hotel kein Zimmer bekommen, auch wenn es keineswegs voll belegt ist. Nach wie vor gibt es in der Bevölkerung der baltischen Staaten erhebliche Vorbehalte gegen die Europäische Union. Diese gründeten sich nicht zuletzt auf den von Brüssel ausgeübten Druck zur Privilegierung der eingewanderten Minderheiten. „Als wir von den Russen unterdrückt wurden und man uns zwang; deren Sprache zu lernen, ihr System zu akzeptieren, hat der Westen keinen Finger gerührt“, hört man immer wieder. „Aber wenn wir heute verlangen, daß die Russen wenigstens einen minimalen Wortschatz in der Landessprache lernen, ehe wir ihnen die Staatsbürgerschaft geben, wird uns das als ‚Verletzung der Menschenrechte‘ ausgelegt.“ Es wird wohl noch Jahrzehnte dauern, bis die Hypothek des – nie gesühnten – stalinistischen Völkermordes getilgt ist. Letten protestieren in Riga im Januar 1991 gegen die brutale sowjetische Unterdrückung baltischer Unabhängigkeitsbestrebungen: „Als wir unterdrückt wurden, hat der Westen keinen Finger gerührt“

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