Etwa 22.000 offene Ingenieurstellen könnten derzeit in Deutschland nicht besetzt werden, klagte letzte Woche der Verein Deutscher Ingenieure (VDI). „Jede nicht-besetzte Ingenieurstelle zieht 2,3 nicht-realisierte Arbeitsplätze in Forschung und Handel nach sich“, erklärte VDI-Präsident Eike Lehmann in Berlin. „Demnach entgehen uns insgesamt über 70.000 Stellen und deren Wertschöpfung. Allein die aufgrund der entgangenen Einkommen verlorene Wertschöpfung summiert sich auf 3,7 Milliarden Euro.“ Am stärksten gefragt seien derzeit Maschinenbau-, Elektroingenieure sowie Architekten und Bauingenieure. Doch speziell der Mangel an Elektroingenieuren ist nicht allein der weitverbreiteten Technikscheu oder Mängeln im Bildungssystem geschuldet – er ist von den jetzt klagenden Unternehmen mitverursacht. Nach der Wiedervereinigung 1990 traten die deutschen Energieversorgungsunternehmen (EVU) in eine Phase ein, in der massive Überkapazitäten in der Stromproduktion auftraten. Die Modernisierung der bestehenden Kraftwerke und Netzverbunde sowie der stagnierende Stromverbrauch machten den Bau neuer Kraftwerke für die nächsten zehn bis 15 Jahre unrentabel. Die 1999 vorgenommene Liberalisierung des Strommarktes verschärfte die Situation ein weiteres Mal, weil die EVUs die Sicherheitsreserve nicht mehr vorhalten mußten und Strom preiswert aus dem Ausland zukaufen konnten. Gewinne erzielte man nur noch aus den Durchleitungsgebühren für Fremdstrom. Somit erfolgte der Abbau der Überkapazitäten in erster Linie durch Reduzierung der Produktion, also die Stillegung von Kraftwerken. „Überflüssige“ Mitarbeiter mit 51 nach Hause geschickt Doch mit den gestiegenen Strompreisen hat sich die Situation umgekehrt. Die Überkapazitäten sind inzwischen abgeschmolzen, und die Bundesnetz-agentur übt massiven Druck auf die EVUs aus, die Durchleitungsentgelte für Fremdstrom endlich zu senken. Die Stromproduktion im eigenen Haus führt zu einer kostengünstigen Verkürzung der Wege. Auch der Aspekt der nationalen Versorgungssicherheit nimmt eine immer größere Bedeutung an. „Selber Strom produzieren, ist wieder unheimlich sexy geworden“, bringt der Leiter eines hessischen Kraftwerks die neue Devise ironisch auf den Punkt. Erschwerend kommt hinzu, daß bald viele nach dem Zweiten Weltkrieg gebaute Kraftwerksanlagen sich aus Altersgründen nicht mehr rentieren und stillgelegt werden müssen. Auch müssen konventionelle Ersatzkapazitäten für den Atomausstieg geschaffen werden. 24 größere Kraftwerksprojekte mit einer Gesamtleistung von 18.000 Megawatt sind im Bau oder in Planung. Sie sollen bis 2011 in Betrieb gehen. Das ist ein Investitionsvolumen von 40 Milliarden Euro. Der Trend geht dabei weg vom Gas- hin zum Kohlekraftwerk, das sich wegen der gestiegenen Gaspreise wirtschaftlicher betreiben läßt. Zudem läuft 2010 die Subventionierung für den Erdgaseinsatz aus. Doch nun fehlen Ingenieure, die in der Lage sind, ein Kraftwerk zu planen und zu bauen. Denn die EVUs haben genau in diesen Bereichen Personal – und damit auch vorhandenes Fachwissen – durch Frühverrentung abgebaut. Bei RWE sind „überflüssige“ Mitarbeiter bereits mit 51 Jahren nach Hause geschickt worden. Auch freie Ingenieurbüros und Entwicklungsgesellschaften haben ihr Personal in diesem Bereich abgebaut. Diese kurzsichtige Personalpolitik rächt sich nun. Denn schon jetzt treten Störfälle auf, zu deren Behebung Pensionäre aus dem Ruhestand geholt werden müssen. Daher hat der Energiekonzern Eon im April die auf ein Jahr angelegte Werbekampagne „Eon sucht Ingenieure“ gestartet. Besonderen Wert legt das Unternehmen dabei auf „Frauenpower“, denn nur 18 Prozent der Ingenieurabsolventen in Deutschland sind Frauen – im EU-Schnitt sind es 22 Prozent. Die Aussichten für angehende Ingenieure sind besser denn je, wie die Arbeitsmarktexpertin Beate Raabe von der Bonner Zentralstelle für Arbeitsvermittlung im Deutschlandradio erklärte. Der „Schweinezyklus“, jenes periodische Auf und Ab von Angebot und Nachfrage in den Ingenieursberufen, werde ab 2010 bis 2015 gebrochen sein. Wegen der demographischen Entwicklung stehen dann deutlich weniger geburtenstarke Jahrgänge zur Verfügung, die die Nachfrage der Industrie decken können. „Die Ingenieurkarriere beginnt in der Schule“ Der aktuellen Studie „Young Professional 2006“ zufolge, die im Auftrag des Verbands der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik (VDE) erstellt wurde, befürchtet ein Drittel der VDE-Firmen, daß sie ihren Expertenbedarf nicht mehr decken können. Neben der steigenden Abwanderung von Spitzenkräften ins Ausland sind hierfür mit ausschlaggebend Qualifizierungsmängel der Abiturienten in den essentiellen Fächern wie Mathematik, Naturwissenschaften und sogar Deutsch. Der Nachwuchs wird in der Pisa-Falle gesehen, aus der ihn nach Auffassung vieler befragter Professoren die Hochschulen nur schwer befreien können. Warnend wird auf China verwiesen, daß jedes Jahr 400.000 Ingenieure ausbilde, während Deutschland zum „Land ohne Ingenieure“ zu verkommen droht. Folgerichtig fordert VDE-Präsident Michael Stadler eine Bildungsoffensive, die früh ansetzt, denn: „Die Ingenieurkarriere beginnt in der Schule.“
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