In die Diskussion um die Dienstleistungsrichtlinie der EU, über die derzeit im EU-Parlament und im EU-Ministerrat beraten wird, ist Bewegung gekommen. Kanzler Gerhard Schröder, der mit Arbeitsminister Wolfgang Clement diesen EU-Plan immer wieder unterstützt hat, hat nun erklärt, daß diese „so nicht umgesetzt wird“, und darauf verwiesen, daß auch das bürgerlich regierte Frankreich die Richtlinie in ihrer derzeitigen Form nicht akzeptieren werde. SPD-Chef Franz Müntefering pflichtete dem Kanzler bei, indem er deutlich machte, daß Europa „nicht in allen Bereichen bedingungslos zusammenwachsen“ könne. Der plötzliche Gesinnungswandel der rot-grünen Bundesregierung in dieser Frage kommt sehr spät. Deutschland erlebt derzeit einen Vorgeschmack auf die Auswirkungen einer EU-weiten „Dienstleistungsfreiheit“. Durch ein „unterschätztes EU-Gesetz“, wie der Spiegel (7/05) berichtete, gelte in Deutschland für die neuen EU-Beitrittsländer in Osteuropa in Deutschland bereits die Dienstleistungsfreiheit, „wenn auch mit Einschränkungen“. Firmen aus diesen Staaten dürften deshalb deutschen Unternehmen zu den dortigen Arbeitsbedingungen Dienstleistungen anbieten. Die Konsequenzen haben bisher vor allem die Beschäftigten in der fleischverarbeitenden Industrie zu spüren bekommen. Etwa 26.000 deutschen Fleischarbeitern wurde in den letzten Wochen gekündigt, die nun zuschauen dürfen, wie EU-Billigarbeiter ihren „Job“ machen. Diese kennen weder Lohn- noch Arbeitszeits- noch Arbeitsschutzregelungen. An Zynismus grenzt es, wenn laut FAZ vom 19. Februar die Arbeitgebervereinigung Nahrung und Genuß (ANG) „erkennen“ läßt, daß sie die Entwicklung eher positiv deutet, weil die „günstigeren Arbeitskräfte aus Osteuropa zum Erhalt der Fleischindustrie in Deutschland“ beitrügen. Manche Betriebe hätten „wegen der hohen Kosten sowieso das Land verlassen“. Das neue „Billiglohnparadies Deutschland“ motivierte auch den dänischen Fleischkonzern Danish Crown, 400 Arbeitsplätze nach Oldenburg zu verlagern. Von den hierdurch ausgelösten „direkten positiven Arbeitsplatzeffekten“ profitiere der „Wirtschaftsstandort Deutschland“ natürlich in keiner Weise. Kein Wunder, daß in Berlin die Alarmglocken schellen, denn die Entwicklung in der fleischverarbeitenden Industrie dürfte bereits allzubald auf andere Dienstleistungsbereiche übergreifen. Regierungssprecher Béla Anda raunt nun davon, daß die „berechtigten Schutzanliegen der Mitgliedstaaten ernster genommen werden“ sollten. Daß es hier um wesentlich mehr als um „bestimmte Schutzanliegen“ geht, ließ die grüne Bundesministerin Renate Künast in einem taz-Interview durchblicken: „Es geht nicht nur um die Freiheit, sich als Dienstleister in einem anderen Mitgliedsland niederzulassen … Mittelbar betroffen sind auch viele Politikbereiche, die bisher national geregelt sind. Die sind dann praktisch abgeschafft.“ Die neue Dienstleistungsfreiheit, die gemäß der umstrittenen Richtlinie auf die gesamte EU ausgedehnt werden soll, betrifft vom Baugewerbe bis hin zur Trinkwasserversorgung so gut wie alle Dienstleistungen und zeichnet sich durch eine Reihe von Verboten aus, denen sich die Mitgliedstaaten zu unterwerfen haben. Diese dürfen von niederlassungswilligen Dienstleistungsunternehmen in Zukunft weder die Eintragung ins Firmenregister noch die Eröffnung einer Filiale mehr verlangen, und auch die Nennung einer Vertretungsperson, die Hinterlegung finanzieller Sicherheiten oder die Anwesenheit in einem Land für eine Mindestdauer sind im Falle einer Umsetzung untersagt. „Niederlassungshindernisse“ wie die Rechtsform eines Unternehmens, eine Mindestkapitalausstattung, Berufsqualifikationen u.a.m. sollen die Mitgliedstaaten gegenseitig prüfen. Falls Mitgliedstaaten innerhalb von sechs Monaten zu dem Ergebnis kommen, daß bestimmte Regelungen in anderen Mitgliedstaaten nicht „objektiv, verhältnismäßig und zwingend erforderlich sind“, müssen diese fallen. Zu welch absurden Konsequenzen die neue „Dienstleistungsfreiheit“ führen kann, machte Künast am Beispiel Pflanzenschutz klar: Es müsse klargestellt werden, so die Ministerin, daß bei grenzüberschreitenden Arbeiten das Recht des Mitgliedslandes gelte, in dem die Dienstleistung erbracht werde. Sonst würden „rundum nicht mehr die hiesigen Regeln gelten, weil da jemand aus einem anderen EU-Land auf dem Trecker sitzt“. Das betreffe etwa die Frage der Spritzmittel und wie diese auszubringen seien. „Ähnliches gilt“, so fügte Künast hinzu, „für die großen Bereiche des Gesundheits- und Verbraucherschutzes“. Vieles, was in Deutschland verboten ist, könnte durch die Richtlinie wieder legal praktiziert werden. Künast konstatiert denn auch eine „schleichende Entmachtung nationaler Strukturen“. Die „Entmachtung nationaler Strukturen“ muß in der Tat als ein Hauptziel der derzeit stark diskutierten EU-Dienstleistungsrichtlinie begriffen werden. Der österreichische Publizist Christian Felber machte in einem Beitrag für den Wiener Falter klar, daß neue Regulierungsvorhaben, die die Dienstleistungswirtschaft betreffen, bei der Kommission angemeldet werden müßten, die diese dann auf „Sinnhaftigkeit“ und „Notwendigkeit“ zu überprüfen hat. Gemeinden, Bundesländer und nationale Regierungen könnten bei einer Umsetzung die Dienstleistungswirtschaft – die in Österreich etwa rund zwei Drittel der Wirtschaft umfaßt – „nicht mehr im Allgemeininteresse gestalten, sondern müßten die Entscheidung darüber dann der Kommission überlassen, was auf einem „ungeheuren Machtzuwachs für Brüssel“ hinauslaufe und einen „glatten Bruch des Subsidiaritätsprinzips“ darstelle. Da im EU-Ministerrat über das „Herkunftslandsprinzip“ (Dienstleister müssen die Gesetze des Landes, in dem sie tätig sind, nicht einhalten, sondern nur die des Landes ihrer Herkunft) laut Financial Times Deutschland grundsätzlich Einigkeit herrschen soll und Christdemokraten als Befürworter vor einer „Verwässerung der Richtlinie warnen“, steht zu befürchten, daß diese Richtlinie mit nur leichten Korrekturen Realität wird. Es steht dann eine Art „race to the bottom“ bei Qualitäts- und Umweltstandards, ja Standards aller Art ins Haus. Das Nachsehen haben u. a. diejenigen, die Dienstleistungen nachfragen. Wer wendet sich bei Pfusch schon an eine Behörde in Lettland, Spanien oder Polen? Die Lobbyverbände der Industrie in Brüssel, allen voran der European Round Table of Industrialists (ERT), dem nach Felber die Vorstandsvorsitzenden der 45 größten EU-Konzerne angehören, dürfen jubeln. Sie haben ganze Arbeit geleistet.