„Da bekomme ich jetzt aber eine Gänsehaut“, sagt Georg Scheßl. Seine Frau Margit ist sprachlos. Gerade hat das Ehepaar aus dem niederbayerischen Deggendorf erfahren, daß es von der JUNGE FREIHEIT einen Scheck erhalten wird. Hier vor Ort. Jetzt.
„Daß es so schnell geht, haben wir nicht erwartet“, sagt Georg Scheßl vollkommen überrascht. Einige Tage zuvor hatte er per Telefon erfahren, daß er zu jenen vier Familien gehört, die im Rahmen einer Spendenaktion der JF zugunsten von flutgeschädigten Lesern eine finanzielle Unterstützung erhalten. „Wir dachten, das kann nicht wahr sein“, erzählt der 52jährige gerührt. Die Flut hatte ihm sein gesamtes Vermögen genommen. Die Entschädigungszahlungen des Staates lassen auf sich warten, die bürokratischen Hürden sind hoch. Banken wollen ihm aufgrund seiner nun prekären Situation keine Kredite mehr geben. Der Familienvater lebt nun hauptsächlich von seinen Kindern, muß mit wenigen hundert Euro im Monat auskommen.
Anderthalb Meter unter Wasser
Erst vor acht Jahren hatten die Scheßls in dem bei Deggendorf gelegenen Örtchen Fischerdorf ein Einfamilienhaus gebaut. Die dafür aufgenommenen Schulden sind noch nicht abbezahlt, als am 4. Juni dieses Jahres um die Mittagszeit der nahe gelegene Deich bricht und den Ort überschwemmt. Am Nachmittag steht das Haus 1,60 Meter unter Wasser. Graue Streifen an Mauern und Wänden sind zurückgeblieben. Zeugnisse vom damaligen Pegelstand, der den Niederbayern in finanzielle Nöte brachte.
Die 20.000 Euro teure Küche: hinüber. Scheßls 40.000 Euro teure Heilpraktikergeräte: futsch. Waschmaschine, Trockner, Herd, Geschirrspüler: alles hinüber. Sämtliche Kleidung ging der Familie verloren. „Kurz zuvor hatten wir einen begehbaren Kleiderschrank angeschafft“, erzählt der gelernte Küchenbaumeister. Jacken, Pullover, Anzüge. All das lagerte in dem neuen Mobiliar. Die Nässe sog sich ins Gemäuer, arbeitete sich ins Obergeschoß, Laminatböden begannen sich zu wölben.
Renovieren lohnt nicht mehr
„Keiner hatte damit gerechnet, daß es so schlimm wird. Auf einmal standen wir vor dem Nichts“, beschreibt der stämmige Mann die dramatische Lage. Vor allem er selbst habe die Kraft des Wassers unterschätzt, gibt er heute zu. Georg Scheßl steht an der Außenwand seines Domizils und zeigt auf ein handgroßes kreisrundes Loch im Gemäuer. „Das stammt von den Untersuchungen der Behörden“, erklärt der Küchenbaumeister, der zudem als Heilpraktiker und Hotelier arbeitet. Die Flut hatte in der Nachbarschaft einen Öltank unter Wasser gesetzt. Durch den Wasserdruck war er explodiert. Öl lief aus, gelangte in zahlreiche Häuser von Fischerdorf. Auch in seines, wie die Gutachter festgestellt haben. Ergebnis: renovieren lohnt nicht mehr. Der Familienvater muß sein Haus abreißen und komplett neu bauen. 250 von 750 beschädigten Häusern drohe das gleiche Schicksal.
Heute gleicht der Ort einer riesigen Baustelle. Betonmischwagen fahren unentwegt umher. Motorengeräusche von Baggern durchziehen die Gegend. Die Trümmerreste eines zerstörten Bauernhofs liegen zu kleinen Hügeln aufgetürmt im Gras. Möbelwagen und Kleintransporter von Handwerksfirmen kommen und gehen, stehen überall an den Wegen zu den Baustellen, von denen pausenlos Hämmer- und Sägegeräusche herüberdringen.
Drei Jobs und ein Herzinfarkt
16 Stunden am Tag hatte Georg Scheßl in seinen drei Jobs gearbeitet. Zuviel. Vor zwei Jahren erlitt er einen Herzinfarkt. „Mir war wohl alles etwas über den Kopf gewachsen“, sagt er heute. Ein Großteil seiner Arbeit steckt in seinem Hotel, dem im Nachbarort Altholz befindlichen Georgenhof. Allein hier beziffert sich der Schaden auf knapp zwei Millionen Euro. Der Hotelier hat sich in einem seiner oberen Gästezimmer ein Büro eingerichtet. Ein Generator sorgt für Strom. Die Heizung funktioniert noch immer nicht. Ein Heizlüfter hält den kleinen Raum warm. „Wenigstens das Internet funktioniert wieder“, macht sich der 52jährige Mut. „Als morgens die Feuerwehr alle aufforderte, die Gegend zu verlassen, saßen unsere Gäste noch im Frühstücksraum“, erinnert sich seine Frau Margit an den Beginn der Katastrophe. Keiner springt auf, keiner geht. Zu unwirklich ist alles, zu unvorstellbar. Gegen Mittag bricht der Deich auf einer Breite von knapp 300 Metern. Georg Scheßl zeigt die Stelle, an der der inzwischen erneuerte und erhöhte Deich den Wassermassen nicht standhalten konnte. „Böse Zungen sprechen von einer Sollbruchstelle“, erklärt er. Der Grund dafür wird schnell ersichtlich. Dünn besiedeltes Land. Würde der Deich hier nachgeben, wären nur wenige Menschenleben in Gefahr.
Am 4. Juni um die Mittagszeit ist es soweit. Deichbruch. Langsam schiebt sich das Naß in Richtung Altholz und Fischerdorf. Gegen 14 Uhr bricht Panik aus. Das Wasser flutet Fischerdorf. Erst jetzt wird das Ausmaß der Katastrophe klar. „Das waren Szenen, die können Sie kaum beschreiben“, erklärt Margit Scheßl. Schreie. Menschen, die verzweifelt versuchen, ihr Hab und Gut zu retten. Nachbarn, die dabei helfen, Vieh vor dem Ertrinken zu retten. Kühe, die nicht von der Weide zu bekommen sind, weil sie Angst haben.
In Altholz steht der Ziegenstall der Familie unter Wasser. Ihre fünf Ziegen können sie nicht mehr retten. Heim und Hotel sind von der Flut getroffen. Strom, Heizung und Wasser gibt es nicht mehr. Georg Scheßl zieht mit seiner Frau zu den Schwiegereltern, lebt dort vier Wochen lang zusammen mit drei seiner Kinder, zwei Hunden, fünf Katzen und einem verletzten Reh, das er vor dem Ertrinken gerettet hatte.
Inzwischen lebt das Paar in einem notdürftig wiederhergestellten Gästezimmer seines Hotels. Die Heizung funktioniert noch immer nicht, und die kalte Jahreszeit hat gerade erst angefangen. Entmutigen läßt sich der Selbständige nicht. Er will noch mal von vorn anfangen. Nicht für sich selbst. Er macht das für seine Kinder, denen er später einmal Sachwerte hinterlassen will.
Das Wasser kam mit Ansage
Auch in Passau kam das Wasser mit Ansage. „Jeder wußte, daß die Flut bevorsteht. So wie jedes Jahr. Aber keiner ahnte, daß es in der Stadt den höchsten Pegelstand seit 2.000 Jahren geben sollte“, beschreibt Günther Niedermaier (Name von der Redaktion geändert) die Gelassenheit unmittelbar zu Beginn der Flut. Er erinnert sich noch genau. Am Freitag sitzt der Familienvater im Wohnzimmer, schaut nach draußen auf den nicht enden wollenden Regen. Im Radio und im Fernsehen ist zunächst nur von einer normalen Flut die Rede. Erst Samstag kommt die Meldung, das Hochwasser könnte den Pegelstand von 2002 erreichen. Damals war das Wasser auf elf Meter gestiegen.
Als am Sonntag morgen das Telefon ausfällt, wird Niedermaiers Frau unruhig. „Das Wasser wird doch nicht höher steigen als 2002?“ fragt sie besorgt. Noch ahnt sie nicht, daß der Pegel auf historische 13 Meter steigen wird. Die Niedermaiers wohnen am Fuße der Ils, die keine 100 Meter von ihrem Haus entfernt fließt. „Im Radio kam die Meldung, daß der Regen aufhört und das Wasser zurückgehen wird“, erinnert sich Günther Niedermaier. Seine Vorkehrungen beschränken sich daher zunächst darauf, Möbel aus dem Keller nach oben zu räumen. Das Wasser hat bereits die Gartenmauer von Niedermaiers Anwesen erreicht. Der Regen hört nicht auf. Das Wasser steigt zum Kellereingang, dann darüber hinaus.
„Wir hatten Angst vor Plünderungen“
Längst hat die Feuerwehr die Einwohner zum Verlassen ihrer Häuser aufgefordert. Die Niedermaiers bleiben, wollen ihr Eigentum nicht aufgeben. „Wir hatten Angst vor Plünderungen“, erklärt Günther Niedermaier. Die Nacht verbringt er im Wohnzimmer. Der Strom ist ausgefallen. Stille herrscht. Dunkelheit. Das Wasser ist jetzt so hoch, daß es von außen gegen die Hauswand schlägt. Und es steigt weiter. Panik macht sich breit. Was ist, wenn die Flut auch ins Wohnzimmer gelangt? Niedermaiers Frau ist verzeifelt, bricht in Tränen aus, packt die Sachen zusammen.
Ein lautes Poltern läßt die Familie zusammenzucken. Es kommt aus dem Keller. Plünderer? Nein, es ist der große Wandschrank. Seine Kinder hatten die Katastrophe erst aufregend gefunden. „Keine Schule“, freuen sie sich. Aber als sie sehen, wie ihre Mutter schluchzend durch die Wohnung läuft und ihr Vater mit kreidebleichem Gesicht auf das stetig steigende Wasser blickt, versuchen sie ihre Eltern und wohl auch sich selbst zu beruhigen. „Es wird schon nicht schlimmer werden“, sagen sie.
Niedermaier rettete zwei alte Frauen
Dramatische Szenen spielen sich ab. Gemeinsam mit einem Bekannten rettet Günther Niedermaier zwei alte Frauen aus ihren Häusern. Sie hatten ebenfalls ihr Heim nicht verlassen, konnten nun nicht mehr aus eigener Kraft fliehen. In höher gelegenen Gegenden hat die Feuerwehr Zelte als Notunterkünfte errichtet. Niedermaier beobachtet Einsatzkräfte, wie sie die Zelte abbauen, um sie an noch höherer Stelle aufzustellen. „Steigt das Wasser denn noch weiter?“ fragt der Familienvater besorgt. „Wir wissen es nicht“, sagen die Männer ratlos. „Ein unglaublich resignierender Moment“, schildert Niedermaier. Erst am Mittwoch, den 4. Juni kann er aufatmen. In Deggendorf ist der Deich gebrochen, das Wasser in Passau geht zurück. Bei den Niedermaiers endet die Angst vor der Flut. Bei den Scheßls sollte sie jetzt erst beginnen.
„Der Schaden ist beträchtlich“, sagt Niedermaier. Erst vor wenigen Wochen hatte er schon wieder eine Reparaturrechnung über 8.000 Euro erhalten. Wenige Tage später klingelt bei den Niedermaiers das Telefon. Am Apparat ist JF-Pressesprecher Bastian Behrens. Niedermaier erhält einen Spendenscheck. Ausgerechnet über 8.000 Euro.
JF 52/13-01/14