Daß die weltweite Finanzkrise Wasser auf die Mühlen aller Linken ist, kann niemanden verwundern. Wie sehr sich auch die Sozialdemokraten im Aufwind wähnen, hat erst kürzlich der SPD-Parteitag in Berlin gezeigt, auf dem die Genossen erneut Franz Müntefering zu ihrem Vorsitzenden gekürt haben. Doch für den Auftrieb der Linken hätte es des Debakels an der Wall Street gar nicht bedurft, denn mit der Idee des Sozialismus ist es wie mit der Sonne in Heines Gedicht „Das Fräulein stand am Meere“: „Mein Fräulein! sein Sie munter, / das ist ein altes Stück; / hier vorne geht sie unter / und kehrt von hinten zurück.“ Noch nicht einmal zwei Jahrzehnte ist es her, daß das marxistisch-leninistische Menschenexperiment sogar in einem Teil des eigenen Landes nur Schrott und Ruinen hinterlassen hat, da machen sich Deutschlands Schwarmgeister schon wieder auf nach Utopia. So warnte Friedrich Schorlemmer, ehemaliger DDR-Bürgerrechtler und SPD-Mitglied, im September vor einer Dämonisierung der SED-Nachfolger: „Ich habe keine Angst vor einer Wiederkehr des Kommunismus, wenn wir vernünftig mit der Linken reden.“ Und sein Parteigenosse, der Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, erklärte: „SPD und Linke eint das gleiche noble Ziel: ein gerechter Staat.“ Gerechtigkeit — das ist das Schlüsselwort, das die kommenden ideologischen Schlachten beherrschen wird, und es ist nicht zuviel gesagt, daß von deren Ausgang das künftige Schicksal Deutschlands abhängt. Bei der Frage der sozialen Gerechtigkeit geht es nämlich nur vordergründig um das Verhältnis zwischen Sozialdemokraten und den Parteigängern Lafontaines, in Wahrheit aber darum, ob ein Dammbruch nach links verhindert werden kann, oder ob Deutschland als Neuauflage einer mit Floskeln aufgehübschten DDR in den ökonomischen Abgrund stürzt. Im Kern handelt es sich um die ewige Dialektik von Freiheit und Gleichheit, hinter der zwei gegensätzliche Welt- und Menschenbilder stehen. In seinem Roman „Der Zauberberg“ hat Thomas Mann den Konflikt bündig dargestellt, indem er den Jesuiten Naphta sagen läßt: „Gerechtigkeit ist selbstverständlich eine leere Worthülse der Bürgerrhetorik; um zum Handeln zu kommen, muß man vor allen Dingen wissen, welche Gerechtigkeit man meint: diejenige, die jedem das Seine, oder diejenige, die allen das Gleiche geben will.“ Die Antwort auf diese Frage hat die SPD seit ihrer Gründung gespalten und führt bis heute zu erbitterten Flügelkämpfen. Kein Wunder: Im Rahmen einer „Volkspartei“, die beiden Positionen gleichermaßen gerecht werden will, ist das Problem auch nicht lösbar, denn es stellt die Quadratur des Kreises dar. Freiheit (Eigenverantwortung, Leistung, Wettbewerb) und Gleichheit (Solidarität, staatliche Wohlfahrt durch Verteilung von oben nach unten) lassen sich nur temporär in ein Gleichgewicht bringen; in der Regel überwiegt das eine oder das andere Prinzip. Das auf den älteren Cato zurückgehende suum cuique („Jedem das Seine“), das als Wahlspruch Friedrichs I. auch den preußischen Schwarzen Adlerorden zierte, beinhaltet die Erkenntnis, daß Freiheit auf der natürlichen Ungleichheit der Menschen, auf der Differenz hinsichtlich Begabung, Talent, Leistung und damit auch auf den daraus resultierenden Unterschieden des gesellschaftlichen Ranges und des Verdienstes gründet. Mit diesem Realitätsprinzip liegt die schon im Urchristentum angelegte sozialistisch-kommunistische Utopie im Widerstreit, die im Zeichen brüderlicher Nächstenliebe bereits im Diesseits das Himmelreich für jedermann und weltweit den ewigen Frieden verwirklichen will. Mit Begriffen und Konzepten wie „soziale Marktwirtschaft“, „Volkskapitalismus“, „solidarische Leistungsgesellschaft“, „Volksgemeinschaft“ oder „demokratischer Sozialismus“ haben Parteien unterschiedlichster Couleur versucht, den in jeder privatwirtschaftlich organisierten Gesellschaft bestehenden Grundwiderspruch zu lösen. Vergeblich, es blieb bei bloßer Semantik: Im NS-Staat und in den Ländern des Realsozialismus wurde die Freiheit stranguliert, und die proklamierte Gleichheit war in Wirklichkeit die Diktatur einer neuen Klasse von Parteibonzen. Andererseits hat sich der sowohl von Sozial- als auch von Christdemokraten immer wieder propagierte „dritte Weg“ zwischen Kapitalismus (Ordnung der Freiheit) und Sozialismus (Ordnung der Gleichheit) stets als der erste, nämlich der kapitalistische, herausgestellt. Als Ergebnis dieser in Westdeutschland jahrzehntelang betriebenen Politik sind zwar die Reichen immer reicher, die Armen aber zumindest nicht ärmer geworden, ja, viele brachten es sogar zu ansehnlichem Wohlstand. Doch um welchen Preis? Seit den sechziger Jahren ist das Pendel zwischen Freiheit und Gleichheit immer weiter nach links ausgeschlagen. Um alle klassenkämpferischen Regungen im Keim zu ersticken, wurde der Sozialstaat so stark aufgebläht, daß die Schuldenlast erdrückend ist. Gedacht als ein Instrument der Solidarität für jene, die unverschuldet in Not geraten sind, hat er sich längst zu einem Sozialhilfestaat entwickelt, dessen Kosten von rund 130 Milliarden Euro nahezu die Hälfte des jährlichen Gesamtetats verschlingen. Finanziert wird dieser Moloch durch eine Umverteilung, die entgegen den propagandistischen Behauptungen von Linken und Gewerkschaften stets von oben nach unten verläuft. Zwar ist es richtig, daß in Deutschland die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung fast zwei Drittel des gesamten Volksvermögens besitzen, die ärmsten fünfzig Prozent dagegen fast nichts. Gleichzeitig aber, und das wird gern verschwiegen, zahlen die zehn Prozent der Steuerpflichtigen mit dem höchsten Einkommen — also die vielbeschworenen „starken Schultern“ — rund die Hälfte des gesamten Steueraufkommens, während auf die untere Hälfte gerade einmal vier Prozent entfallen. Insgesamt kommt ein Viertel der Steuerpflichtigen für achtzig Prozent der Lohn- und Einkommensteuer auf, die übrigen drei Viertel für bloß ein Fünftel (alle Zahlen von 2006). Daß an dieser Steuerschraube nicht endlos gedreht werden kann, ist ein Gebot ökonomischer Vernunft. Schon jetzt aber ist die Belastungsgrenze vielfach überschritten, denn zu jenem Viertel der Wohlhabendsten (9,4 Millionen Steuerpflichtige) gehören mittlerweile bereits Bürger, die 37.500 Euro im Jahr verdienen. Bei diesen „Leistungsträgern“ handelt es sich um Facharbeiter, Angestellte, Freiberufler und viele andere, die man heutzutage „Besserverdienende“ nennt. Ihre Existenz ist jedoch vielfach gefährdet: durch Steuern und Sozialabgaben, durch inflationäre Tendenzen, durch zunehmende berufliche Unsicherheit. Zum erstenmal seit 1945 gibt es in Deutschland wieder Generationen, die schlechter leben als die vorherigen. Um das nicht zuletzt auch durch verfehlte Masseneinwanderung aufgeblähte Sozialsystem von heute zu sichern, wurden und werden diesen und den nachfolgenden Generationen Schulden aufgebürdet, ohne daß sich eine Besserung abzeichnet. Im Gegenteil: Die prekäre Situation wird durch die Globalisierung weiter verschärft. Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks agiert der siegreiche Kapitalismus, angetrieben durch revolutionierte Kommunikationstechniken, mit nie gekannter Dynamik auf weltweiter Bühne. Dabei hat er sich mancher sozialer Fesseln entledigt, die ihm im Westen die Nationalstaaten einst aus Gründen der Systemkonkurrenz angelegt hatten. Die Leidtragenden sind die Arbeitnehmer. Angesichts begründeter Abstiegsängste glaubt kaum noch jemand den Versprechen politischer Parteien, daß sich Leistung lohne, gar daß sich bald wieder „Wohlstand für alle“ einstellen werde. Die vielzitierten „Leistungsträger“ wissen nur zu gut, daß die fetten Jahre längst vorbei sind. Derweil wird die Unterschicht ständig größer. In der Mehrheit handelt es sich um Menschen, die als unqualifizierte Arbeitskräfte für die modernen Produktionstechniken nicht mehr tauglich sind. Mittlerweile leben in Deutschland bereits acht Millionen Menschen, also zehn Prozent der Bevölkerung, von Hartz IV und anderen sozialen Leistungen, die den Staat jährlich 45,6 Milliarden Euro kosten. Aus diesem Reservoir rekrutiert sich die Wählerklientel der Linkspartei. Da die Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel im Gegensatz zur Regierung Schröder nicht eine einzige Großreform zustande gebracht hat, werden sich die sozialen Probleme weiter zuspitzen. Auch von der neuen SPD-Führung ist nichts zu erwarten; sie will sich lediglich in eine Neuauflage des Bündnisses mit der ebenso kraft- und ideenlosen Union retten. Lachender Dritter wird somit die Truppe Lafontaines und Gysis sein, die vom linken Flügel der Sozialdemokraten weiteren Zulauf erhalten wird. Im Zeichen des „demokratischen Sozialismus“ können die vereinten Genossen hoffen, bald einen weiteren Versuch zur Schaffung des „Neuen Menschen“ zu starten, um endlich das Postulat der Gleichheit zu erfüllen. Daß ihr Scheitern programmiert ist, unterliegt keinem Zweifel. Doch die Linken, die noch immer glauben, jenseits der Gleichheit vor dem Gesetz und an der Wahlurne lasse sich auch eine soziale Gleichheit herstellen, wollen keine Lehren aus der Geschichte ziehen. Nach wie vor denunzieren sie die natürliche, weil angeborene und damit schicksalhafte Ungleichheit der Menschen als soziale Ungerechtigkeit, die sich durch Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse aufheben lasse. Mit einem Aperçu hat Winston Churchill das ewige Dilemma, an dem sich Generationen utopischer Träumer vergebens abgearbeitet haben, auf den Punkt gebracht: „Das Problem des Kapitalismus ist, daß er das Glück ungleich verteilt, das Problem des Sozialismus ist, daß er das Unglück gleich verteilt.“ Daß sich manche Menschen im Gegensatz zu anderen Trüffel und Austern, teure Autos und eine Luxusvilla leisten können, ist nun einmal kein Skandalon, sondern in der Regel das Resultat entsprechender Leistungen; die immer wieder inszenierten Neidkampagnen sind nichts als demagogische Hetze sozialromantischer Salonproleten. Ihr Ziel ist es, durch Aufblähung des öffentlichen Sektors und Ausweitung sozialer Wohltaten ihre Klientel zu vergrößern; gleichzeitig setzen sie alles daran, die Leistungseliten durch Drehen an der Steuerschraube zu schwächen, damit die Gesellschaft immer weiter nivelliert wird. Hierbei ist die Bildungspolitik eines ihrer zusätzlichen Instrumente, wenn nicht sogar ihr wichtigstes. „Eine Schule für alle“, lautet die so sympathisch klingende Parole, mit der zuerst das dreigliedrige Schulsystem und letztlich das Gymnasium als Bollwerk vermeintlich reaktionärer Elitenbildung abgeschafft werden soll. So heißt es im Programm der hessischen Linken: „Wir fordern ein gemeinsames Lernen aller SchülerInnen in einer Gemeinschaftsschule bis zur Klassenstufe 10. Unser Ziel ist eine Pädagogik, die auf Noten als Selektionsinstrumente verzichtet. Wir fordern das Ende von normierenden Abschlußprüfungen wie dem Zentralabitur.“ Dies sind seit der Revolution von 1968ff. die Forderungen auch vieler gutmeinender Liberaler, die ebenfalls der Ansicht sind, das Intelligenzpotential eines Volkes sei beliebig vermehrbar. In Wahrheit werden auf diese Weise aber keine aufgrund ihrer sozialen Herkunft angeblich übersehenen Begabungsreserven entdeckt; vielmehr wird ein geistiges Mittelmaß befördert, mit dem kein hochindustrialisiertes Land im globalen Wettbewerb bestehen kann. Daß unter Merkels Kanzlerschaft mittlerweile selbst die CDU das Projekt der Gemeinschaftsschulen mitträgt, ist eine Katastrophe mit unabsehbaren Folgen. Bürgerliche Politik müßte darauf abzielen, soviel Freiheit wie möglich und soviel Gleichheit wie nötig zu gewährleisten. Seit 2005 hat die Union jedoch das Gegenteil bewirkt. Sollte die nächste Legislaturperiode noch einmal von den beiden immer schmalbrüstiger werdenden „Volksparteien“ dominiert werden, dürfte daher keine grundlegende Änderung der bundesrepublikanischen Verhältnisse zu erwarten sein. Es bedarf somit keiner großen Prophetengabe, um vorauszusagen, daß Bundeskanzlerin Merkel spätestens im Jahr 2013 ihr Amt an Andrea Nahles wird abtreten müssen. Diese würde dann eine rot-rote oder rot-rot-grüne Koalition leiten, die Deutschland endgültig auf die abschüssige Bahn führen wird. Im Verlauf dieser Entwicklung könnte eines Tages, in Abwandlung des berühmten Satzes von Clausewitz, ein Bürgerkrieg die Fortsetzung der Innenpolitik mit anderen Mitteln sein. Dann wird sich einmal mehr bewahrheiten, was Linke und Liberale in ihrem unverdrossenen Fortschrittsoptimismus nicht zur Kenntnis nehmen wollen und Louis Vicomte de Bonald, der einflußreiche Denker der französischen Gegenaufklärung, vor rund 200 Jahren in die Worte kleidete: „Alle Menschen sind Brüder — wie Kain und Abel.“ Peter Kuntze war von 1968 bis 1997 Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über das Konzept der „One world“: „Die jüngste Neuauflage von 1789“ (JF 22/08). Foto: Wahlplakate deutscher Parteien: Mit Begriffen und Konzepten wie „soziale Marktwirtschaft“, „solidarische Leistungsgesellschaft“, „Volksgemeinschaft“ oder „demokratischer Sozialismus“ haben Parteien unterschiedlichster Couleur versucht, den in jeder privatwirtschaftlich organisierten Gesellschaft bestehenden Grundwiderspruch zu lösen. Doch welche Gerechtigkeit ist gemeint: diejenige, die jedem das Seine, oder diejenige, die allen das Gleiche geben will?