Schwimmen strengstens verboten!“ heißt es am Kolka-Kap im Westen Lettlands. Eine Tafel erklärt die für jeden Menschen absolut tödlichen Strömungen. Diese entstehen, weil hier die Fluten des Rigaischen Meerbusens auf jene der offenen Ostsee treffen. Die Sowjets unterhielten eine Wache-Garnison, da sie Fluchtbewegungen per Boot nach Schweden befürchteten. Dieser Landvorsprung, der auch den nördlichsten Punkt Kurlands markiert, ist auf Landkarten dementsprechend augenfällig. Um so unscheinbarer wirkt das wenige Kilometer entfernte Dörfchen Mazirbe. Ist es mit Gästen von nah und fern überfüllt, so heißt das, man schreibt wieder einmal den ersten Sonnabend im August. Dann feiern die Liven nämlich ihr alljährliches Volksfest. Auf der Treppe vor der Schule haben sich zumeist ältere Damen und Herren in Tracht postiert. Sie lauschen diversen Ansprachen. Auf dem Gebäude flattert das lettische Rot-Weiß-Rot in der steifen Brise, zu ebener Erde weisen die Fahnen von Finnland, Estland und Ungarn auf die internationale Unterstützung des Fests hin. Dann kommt endlich der Chor zum Zug. Natürlich darf auch die livische Hymne „Min izāmō“ („Mein Vaterland“) nicht fehlen. Den Finnen und Esten ist die vom Hamburger Friedrich Pacius geschaffene Melodie von ihren eigenen Nationalhymnen her wohlbekannt, den Text jedoch verstehen nicht einmal die meisten Dorfbewohner. Denn nur mehr 200 Menschen bekennen sich als Liven, von diesen wiederum beherrschen je nach Erhebungskriterien maximal 20 die livische Sprache. Als der aus Bremen stammende Bischof Albert im Jahre 1201 die heutige lettische Hauptstadt Riga gründete, lebten dort an der Dünamündung neben baltischen Stämmen auch die finno-ugrischen Liven. Auch eine der Hauptattraktionen Lettlands, das wochenends von Brautpaaren gestürmte Treyden (lett. Turaida) mit seiner Burg, dem Skulpturenpark und dem Freilichtmuseum, war ein heiliger Ort der Liven. Heute gehört der idyllische Landflecken eine Autostunde nordöstlich von Riga zum Nationalpark Gauja. Die deutsche Bezeichnung für den namensspendenden Fluß lautet Livländische Aa. Livland als Verwaltungseinheit umfaßte in seiner größten Ausdehnung fast ganz Lettland und Estland. Das historische Livland ist die heutige Provinz Vidzeme im Nordosten Lettlands. In Livland waren die Liven schon im Mittelalter ausgestorben, und ihr Siedlungsgebiet zog sich immer weiter in den Westen nach Kurland zurück. Die Liven wurden im 17. Jahrhundert Zeugen eines Aufstiegs, der seinesgleichen suchte. Herzog Jakob von Kettler (1610—1682) konzentrierte sich auf den Aufbau einer Handelsflotte und zu deren Schutz einer Kriegsmarine, die Kurland aufblühen ließen. Es kam sogar zum Erwerb kurländischer Kolonien in Übersee. Auf der Karibikinsel Tobago gibt es noch heute eine Courland Bay und im westafrikanischen Gambia eine allmählich verfallende kurländische Festung. Heute ist Kurland die von den Sowjets nachhaltig heruntergewirtschaftete Provinz Kurzeme. Nirgendwo in Lettland sieht man so viele Häuserruinen, nirgendwo gibt es einen so hohen Anteil an schlechten Schotterwegen am Straßennetz, und die ehemaligen Hansestädte stimmen (bis auf Goldingen, lett. Kuldīga) den erwartungsvollen Besucher traurig. Den negativen Höhepunkt bildet am nördlichen Rand der einst zur Hanse gehörenden Hafenstadt Libau (lett. Liepāja) der Stadtteil Karosta. Hierher karrten die Sowjets russisches Landvolk, um in der Werft zu schuften. Die zu diesem Zweck aus dem Boden gestampften Plattenbauten sind mittlerweile halbe Ruinen, aber immer noch dicht bewohnt. Inmitten der verfallenen Satellitenstadt steht eine prächtige orthodoxe Kirche mit glänzenden Goldkuppeln. Darin beten alte Frauen mit theatralischer Inbrunst. Wohnt man als Ausländer diesem Ritual bei, so ist höchste Zurückhaltung angesagt, denn die abgrundtiefe Verbitterung der Menschen schlägt nur allzu leicht in Feindseligkeit um. Die meisten der kurländischen Russen gehören nicht mehr dem „Herrschaftsvolk“ an, sondern befinden sich im Status der Staatenlosen. Ihre sowjetischen Pässe taugen nichts mehr, und um einen lettischen zu bekommen, müßten sie eine schwierige Prüfung in Sachen Sprache und Landeskunde bestehen. Das etwas im Landesinneren gelegene Hasenpoth (lett. Aizpute) ist ganz anders als Libau und wirkt doch genauso bedrückend. Die ehemals bedeutende Hansestadt strahlt heute die Idylle eines vernachlässigten brandenburgischen Dorfes aus. Die einzige verbliebene Sehenswürdigkeit ist die Ruine einer Ordensburg. Am Ortsrand steht eine große Fabrik. Die riesigen Lettern „KURZEME“ am Bürotrakt sind längst vom Rost zerfressen. Die Situation des livischen Volkes ist noch trister. Davon merkt man an diesem wolkenlosen Hochsommertag in Mazirbe aber nichts. Die Stimmung ist ausgelassen. Aus PKW-Kofferräumen heraus wurden mit Tischchen einige Verkaufsstände aufgestellt, an denen Honig, Obst und handwerkliche Erzeugnisse feilgeboten werden. Man kann aber auch einige livische Devotionalien erstehen. Die prekäre Situation der Liven mutet manchmal makaber an, etwa wenn eine CD mit „lebenden Stimmen toter Menschen“ angeboten wird. Gemeint sind damit Grammophon-Aufnahmen hochbetagter Liven, die in ihrer Muttersprache erzählen. Der Renner schlechthin bei den jungen Festbesuchern ist ein T-Shirt mit der livischen grün-weiß-blauen Nationalflagge samt ironischem Schriftzug „Līvõ Republik“. Auch sonst sieht man immer wieder die livischen Farben. Die größte Trikolore kann man an der Spitze des Festzuges sehen. Ein älterer Herr in Uniform wartet, bis sich hinter ihm die örtliche Blasmusikkapelle eingefunden hat. Dann darf sich jeder dem Festzug anschließen. Auch das dauert seine Zeit, dann setzt man sich in lockerer Formation in Bewegung. Während in den Weltnachrichten über die blutigen Launen der Großmächte berichtet wird, fliegen in Mazirbe dem Zwergvolk die Herzen zu. Das Liven-Fest steht vor allem im Zeichen der Improvisation und Ungezwungenheit. Die Verköstigung der Gäste zur Mittagszeit übernehmen zwei Zeltstände, wo man Bratwürste und dergleichen erstehen kann. Überall sitzen Frauen und Männer in Trachten, wobei es sich meistens um auswärtige Gäste handelt. Sie kamen unter anderem auch in zwei Reisebussen. Bei genauerer Vergegenwärtigung erscheint es skurril, daß sich in jedem vollbesetzten Bus die mehrfache Menschenmenge des livischsprachigen Volkes befindet. Diese Tatsache und der Altersschnitt des Chors lassen für die livische Zukunft nichts Gutes erahnen. Die Liven wären aber nicht das erste Volk, dessen Aussterben durch die neuzeitliche Bürokratie genau festgehalten wird. Zumindest zwei prominente Fälle sind bekannt: Im Mittelalter hatten sich westslawische Wenden die Elbe entlang in Streusiedlung bis weit ins heutige Deutschland hinein verbreitet und bildeten die Völkerfamilie der Polaben (po Labe — bei der Elbe). Der niedersächsische Landkreis Lüchow-Dannenberg, 1949 bis 1990 Grenzgebiet zur DDR, wird heute noch „Hannoversches Wendland“ genannt. Die dort ansässigen Drawehnopolaben („Wald-Elbler“) hielten sich am längsten, und zwar genau bis 1756. In diesem Jahr verzeichnete eine amtliche Akte in Wustrow den Tod der 88jährigen, in Dolgow geborenen Emerentz Schultze geb. Drausmann. Mit ihrem Ableben war das Drawehnische erloschen. Mitte des 13. Jahrhunderts wurde Marco Polo geboren. Die Wissenschaft ist sich nicht sicher, ob das in Venedig oder auf der heute kroatischen Insel Korčula geschah, von der zumindest seine Eltern stammten. Dort war damals noch das Dalmatische gängig, eine eigene romanische Sprache. Es wurde immer weiter nach Norden gedrängt, bis es am 10. Juni 1898 mit seinem letzten Sprecher Tuone Udaina (ital. Antonio Udina) auf der Insel Vecla (ital. Veglia, kroat. Krk) starb. Gegenüber den bereits verblichenen Drawehnopolaben und den Dalmatiern genießen die Liven das Privileg behördlicher Aufmerksamkeit und Unterstützung. Am Kolka-Kap steht in Holz geschnitzt zweisprachig „Kolka — Kūolka“. Die Liven sind in Lettland eine anerkannte Minderheit und können sich ihr nationales Bekenntnis im Reisepaß eintragen lassen. Auch wird seit einigen Jahren das Livische an der Universität Riga gelehrt. Trotz dieser Maßnahmen und der steigenden Lebenserwartung der Menschen ist aber anzunehmen, daß irgendwann in den nächsten Jahrzehnten die baltischen und skandinavischen Zeitungen den Tod des letzten livischen Muttersprachlers vermelden werden. Fotos: Chor in livischer Tracht im Dörfchen Mazirbe: Natürlich darf auch die livische Hymne „Min izamo“ („Mein Vaterland“) nicht fehlen; Junge Festbesucher: „Livõ Republik“-T-Shirt