In Schleswig-Holstein spielt sich seit geraumer Zeit eine Auseinandersetzung ab, die ein großes Publikum verdient. Aber die sonst auf Streitigkeiten so erpichten Medien scheinen sich für das Duell im Norden nicht zu interessieren, in dem zwei prominente Juristen einander gegenüberstehen: Der eine ist Erhard Rex, Generalstaatsanwalt in Schleswig und als solcher Vorgesetzter des anderen, des Leitenden Oberstaatsanwalts Heinrich Wille aus Lübeck. Wer aber meint, der Sieger sollte schnell feststehen, kennt Heinrich Wille nicht. Der hat schon einmal, zehn Jahre ist es her, im Showdown mit einem Generalstaatsanwalt gestanden, der damals den kürzeren zog und aus dem Amt scheiden mußte. Wer diesmal als Verlierer vom Platz getragen wird, ist noch offen. Darüber wird auch die vorerst letzte Runde des Gefechts nicht entscheiden, in der sich Wille gegen eine Rex-Anweisung zur Wehr setzt, das sogenannte „Vorrangige Jugendstrafverfahren“ zur beschleunigten Aburteilung jugendlicher Intensivtäter umzusetzen. Inhaltlich ist die Frage eher nebensächlich, und als Erklärung für die Gegnerschaft der beiden Juristen ist sie gänzlich ohne Belang. Die Gründe liegen schon eher in der vorangegangenen Kontroverse, die mit der Mitteilung offenkundig wurde, der Lübecker Behördenchef plane die Veröffentlichung eines Buches. Nicht über irgendein Thema wollte Wille schreiben, sondern über das Thema seines Berufslebens schlechthin: die Ermittlungen im offiziell noch immer als ungeklärt geltenden Todesfall Uwe Barschel. Dem Buch des Chefermittlers käme eine Schlüsselrolle zu Wie manchen noch erinnerlich, war am 11. Oktober 1987 der kurz zuvor als schleswig-holsteinischer Ministerpräsident zurückgetretene CDU-Politiker in einem Genfer Hotel tot aufgefunden worden — einen Tag, bevor er seine Aussage vor einem Untersuchungsausschuß über dubiose Vorkommnisse im Landtagswahlkampf machen wollte. Zwanzig Jahre später wird nun Heinrich Wille kurz vor seiner Art der Aussage unvermittelt gestoppt: Generalstaatsanwalt Rex verweigert seine Zustimmung zur Veröffentlichung des fix und fertig lektorierten Manuskripts, dem Autor Wille den Arbeitstitel „Der Mord an Uwe Barschel“ gegeben hat. Es gehe nicht an, daß ein gut bezahlter Beamter sein dienstlich erworbenes Wissen vermarkte, heißt es zur Begründung, ganz so, als könne nur hemmungslose Gewinnsucht hinter dem Buchvorhaben stecken. Aber weil er keine Zensur ausüben wolle, beeilt sich Rex hinzuzufügen, biete er dem ausgebremsten Autor an, seinen Standpunkt zu dem Fall in der „Schriftenreihe des Generalstaatsanwalts“ über das Internet zu resümieren. Ein allzu schwacher Trost, wie Wille findet. Gegen das Buchverbot klagt sich der Lübecker vom Verwaltungsgericht hoch durch alle Instanzen und wird überall abgewiesen. Schließlich lehnt auch das Bundesverfassungsgericht seinen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung ab und stellt die definitive Entscheidung für den Monat Juli 2008 in Aussicht. Zunichte sind die Hoffnungen des Autors, aus Anlaß der 20. Wiederkehr des Todestages von Genf einen unübersehbaren publizistischen Beitrag zu leisten. In der Flut der „Jubiläumsbeiträge“ zur immer wieder sogenannten „größten politischen Affäre in der Geschichte der Bundesrepublik“ wäre dem Buch des Chefermittlers, in dessen Händen viele Jahre lang alle Fäden zusammenliefen, die Schlüsselrolle zugefallen. Die Wahrheitsfindung, die seit der Einstellung des Verfahrens im Sommer 1998 mit juristischen Mitteln unmöglich schien, war mit dem Buchverbot auch um ihre publizistische Chance gebracht — beinahe, aber doch nicht ganz! Eine Ermutigung hatte Wille immerhin aus dem im Herbst 2006 erschienenen Buch „Der Doppelmord an Uwe Barschel“ ziehen können (derzeit vergriffen, erscheint es in einer 4. erweiterten Auflage im September 2008 neu). In dieser nach Jahrzehnten überhaupt ersten Buchveröffentlichung zum Fall Barschel erfolgt mit einer Vielzahl unbekannt gebliebener Fakten und nach Auswertung bislang geheimgehaltener Dokumente eine komplette Neubewertung der Affäre; darunter finden sich die schlüssigen Beweise dafür, daß Uwe Barschel in Genf Opfer eines Mordanschlags wurde, der mit Hilfe anhaltender Rufmordkampagnen als Selbstmord vertuscht worden ist. Erstmals erfährt die Öffentlichkeit auch von den staunenswerten Erfolgen der deutschen Ermittler um den Lübecker Wille. Aber über solche Leistungen durfte aus der „Soko Genf“ kein Sterbenswörtchen nach außen dringen. Die politische Aufsicht bestand darauf, daß nur bekannt wurde, was die erwünschte These vom Selbstmord stützen konnte. In solcherart Manipulationen drückt sich ein schwerer Mangel an Rechtsstaatlichkeit aus. Die Bundesbürger halten für selbstverständlich, daß die Justiz als Dritte Gewalt unabhängig von den Regierenden nur dem Recht verpflichtet ihre Aufgaben versieht — ein großer Irrtum. Die Staatsanwaltschaft ist alles andere als unabhängig. Sie ist an Weisungen gebunden, was im Rahmen des „internen Weisungsrechts“ dem Laien unproblematisch erscheinen mag. Allerdings sollte ihn stutzig machen, daß der Generalstaatsanwalt (der als politischer Beamter jederzeit ohne Begründung abberufen werden kann) seine Order gegenüber den Staatsanwaltschaften gleichfalls im Rahmen des internen Weisungsrechts erteilt. Ganz und gar problematisch ist das „externe Weisungsrecht“, das den Landesjustizministern gegenüber ihren Generalstaatsanwälten und dem Bundesjustizminister gegenüber der Generalbundesanwältin zusteht. Einflußnahme aus politischen Gründen ist geübte Praxis, mit der regelmäßig gegen den Grundsatz verstoßen wird, daß die Staatsanwaltschaft nur den Rechtswillen, nicht den Willen des Staates zu vertreten hat. So kommentierte vor Jahren ein nordrhein-westfälischer Justizminister das Ergebnis einer von ihm in Auftrag gegebenen Untersuchung zur Frage der staatsanwaltlichen Unabhängigkeit in den 16 Bundesländern mit den Worten: „In der Hälfte der Länder gibt es gar keine Regelung, die machen, was sie wollen. Sie greifen lustig rein in die Staatsanwaltschaft.“ Alles andere als lustig ist es für den Staatsanwalt, wenn er von seinem Minister zusammengedonnert wird oder eine Strafversetzung ohnmächtig hinnehmen muß. Denn eine Verpflichtung zu unbedingtem Gehorsam läßt ihm keine andere Wahl, als jede Anweisung zu befolgen. Parieren muß er selbst dann, wenn er eine Anweisung als rechtswidrig einstuft; denn das Risiko des Ungehorsams bleibt dem Angewiesenen. Er hat nicht das Recht der gerichtlichen Anfechtung. Von elementaren Individualrechten, die jedem Arbeitnehmer zustehen, ist der Staatsanwalt in seiner Berufsausübung ausgeschlossen. Er kann gegen Vorgesetztenwillkür, und sei sie noch so offenkundig, nicht gerichtlich vorgehen und erfährt immer wieder, wie vollständig wehrlos er im Zweifel ist. Er kennt nämlich die überall geübte Methode, wonach die Weisungen und Einflußnahmen der Vorgesetzten nicht Bestandteil der Ermittlungsakten werden, sondern in den „Handakten“ verschwinden, die durchweg als Dienstgeheimnisse eingestuft werden. Die Folge: Macht ein Staatsanwalt darüber Mitteilung an Dritte, muß er strafrechtliche Konsequenzen gewärtigen. Mit dem Grundgesetz ist das unvereinbar; aber noch nie hat es einer gewagt, deswegen Klage beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe einzureichen. Er könnte dabei auch nicht auf die Unterstützung durch die Medien rechnen, wo das obrigkeitsstaatliche Relikt der staatsanwaltlichen Unmündigkeit kein Geheimnis ist, ohne daß die „Vierte Gewalt“ den Mißstand jemals an die große Glocke gehängt hätte. Die Presse berichtet auch nicht darüber, daß der blinde Fleck der Justiz eine unrühmliche bundesdeutsche Besonderheit darstellt. In der Schweiz, in Frankreich, Spanien oder Italien sind solche Zustände unbekannt. Die Vereinten Nationen und das Straßburger Parlament haben den deutschen Mißstand schon mehrmals gerügt. Seit Jahren ohne Widerhall bleibt der Deutsche Richterbund mit dem Versuch, das Thema auf die Tagesordnung des Deutschen Juristentags zu bringen. Keine Chance, sich in der Presse wiederzufinden, hatte die Neue Richtervereinigung, als sie sich im August 2007 mit einem „Plädoyer für den unabhängigen Staatsanwalt“ an die Öffentlichkeit wenden wollte. Offenkundig soll über die fortbestehende Abhängigkeit der illegitime Durchgriff der Politik in den Raum des Rechts bei Bedarf stets möglich sein. Hauptsache, die politische Einmischung bleibt in der Bevölkerung unbemerkt. Je brisanter ein Fall, um so wahrscheinlicher, daß die Politik mitmischt. Der Fall Barschel übertrifft an politischer Sprengkraft alles, was sich im Nachkriegsdeutschland an Affären zugetragen hat. Seit dem Frühjahr 1988 ist die SPD in Kiel Regierungspartei, was sie der sogenannten Barschel-Affäre verdankt, die richtigerweise aber nach dem Hauptschuldigen Björn Engholm benannt sein müßte. Seit 1988 stellt die SPD den Justizminister im Land und kontrolliert über den Generalstaatsanwalt die Ermittlungen. Erst sieben Jahre nach dem Tod von Genf durfte die Lübecker Staatsanwaltschaft eigene Ermittlungen aufnehmen. Die Erfolge waren freilich politisch unerwünscht, und so bekam Amtschef Wille in der ministernahen Lokalpresse zu lesen, er habe sich „in wilde Mordtheorien verrannt“ oder erinnere „in seinem wahnhaft anmutenden Widerstand gegen die Obrigkeit“ an den „rechthaberischen Michael Kohlhaas“. Um alles oder nichts ging es vor zehn Jahren, als aus dem Umfeld des Vorgesetzten vertrauliche Details zu Namen von Zeugen bekanntwurden und Leib und Leben auch der Ermittler in Gefahr brachten. Gegen die mit der Drohung seiner Ablösung versehene Weisung, die Ermittlungen einzustellen, ging Wille an, und als ihm das Ministerium noch eine zusätzliche Ermittlungsfrist gewährte, nahm der gedemütigte Generalstaatsanwalt seinen Hut. Zufrieden konnte aber auch Wille mit der Galgenfrist nicht sein; denn im Schlußdokument mußte die politisch erwünschte Version vom Selbstmord immer noch als eine Möglichkeit bezeichnet werden. Für die Wahrheit ist es nie zu spät Das Buchverbot muß Wille vorerst hinnehmen, den Mund läßt er sich nicht verbieten. „Wir haben innerhalb der ganzen Ermittlungen nicht einen Hinweis bekommen, der auch nur in Richtung Selbstmord deuten würde, während die Hinweise, daß es Mord gewesen ist, bei vorurteilsloser Betrachtung des Tatortes unübersehbar waren“, gab er in einer Report-Sendung der ARD zu Protokoll. Für journalistische Spanndienste hat er nur Geringschätzung übrig. Dem NDR, der mit einem fehlerstrotzenden Propagandastreifen das ARD-Publikum aus Anlaß des Todestages zur besten Sendezeit gleich sechsmal desinformieren durfte, wirft Wille öffentlich „Nachrichtenfälschung“ vor (ohne daß die Öffentlich-Rechtlichen dagegen vorzugehen wagten). Und auch der Text, den Wille in der Schriftenreihe des Generalstaatsanwalts veröffentlicht, läßt an Deutlichkeit keine Wünsche offen. Der nur über das Internet zugängliche Text ( www.gsta-sh.de ) verdient viele Leser. Die politische Abhängigkeit der Staatsanwälte ist ein dunkles Kapitel. Doch solange es Staatsanwälte gibt, die sich gegen ihre Entmündigung wehren, ist die Hoffnung auf eine rechtsstaatliche Justiz nicht verloren. Sogar in den künstlich vernebelten Todesfall Barschel könnte schließlich Licht fallen. Der früher als Generalstaatsanwalt für den Todesfall zuständige Bernard Bertossa, heute Bundesrichter im Tessin, bekennt, daß er nie an einen Selbstmord Barschels geglaubt hat. Und er ermuntert die deutschen Kollegen, ihre Ermittlungen wieder aufzunehmen, mit den Worten: „Für die Wahrheit ist es nie zu spät.“ Wolfgang Baentsch arbeitete als Redakteur beim Spiegel. Später war er Chefredakteur der Wirtschaftswoche. 2006 veröffentlichte er das Buch „Der Doppelmord an Uwe Barschel“ (Herbig Verlag, München) Stichwort: Uwe Barschel (1944 — 1987) 1987 war das Schicksalsjahr des CDU-Politikers und Ministerpräsidenten Schleswig-Holsteins (1982—1987). Am 31. Mai, just vor Beginn des Landtagswahlkampfs, überlebte er einen Flugzeugabsturz. Im September mußte er sich gegen Vorwürfe erwehren, er habe Oppositionsführer Björn Engholm (SPD) bespitzeln lassen. Barschel gab sein Ehrenwort, daß er von den Aktionen nichts gewußt habe. Die CDU verlor die absolute Mehrheit (13. September). Am 2. Oktober 1987 beugte sich Barschel dem Druck und trat als Ministerpräsident zurück. Am 11. Oktober wurde Barschel tot in der Badewanne seines Zimmers im Genfer Hotel Beau-Rivage aufgefunden.