Die aufgeregte Diskussion über Bildung in Deutschland ist nicht zu beruhigen. Sie geht von immer neu aufbrechenden Reizthemen aus, um schließlich doch erschrocken auf Prinzipielles zu stoßen. Die Verkürzung des Gymnasiums auf acht Jahre, die mit Ausnahme von Rheinland-Pfalz überall anläuft, wurde schon in der Ära Kohl angeregt und fand Beifall bei Modernisierern aller Parteien. Ebenso wie die Enteuropäisierung der Universität im Bologna-Prozeß folgt die Reduzierung gymnasialer Bildung dem Effizienzbedürfnis einer Gesellschaft, die sich nur mehr als Wirtschaftsstandort versteht. Die Schullandschaft wandelt sich weiter ins Unübersichtliche und erschwert damit die nationale Vergleichbarkeit. Während das klassische dreigliedrige System in Bayern und Baden-Württemberg nicht nur existiert, sondern auch funktioniert, bemühen sich die anderen Länder um Formen, die zur Resteschule degenerierte Hauptschule integrierend aufzuwerten. Die Tendenz geht immer noch in Richtung „Gemeinschaftsschule“. Neben der besseren Integration der Hauptschüler werden demographische Argumente benannt, das heißt praktischerweise sollen Schulen wegen Schülermangels zusammengelegt werden. Damit wäre nach Auffassung mancher Pädagogen gleichfalls der sogenannte „Sekundarschulschock“, also die Aufgliederung der Schüler in Zweige des dreigliedrigen Systems vermieden. In diesem Kontext entstehen verbundene Haupt- und Realschulen mit aufpolierten Bezeichnungen, etwa die brandenburgischen „Oberschulen“, „Regionale Schulen“ in Mecklenburg und Schleswig-Holstein, die „Regelschulen“ in Thüringen, die sächsische „Mittelschule“ sowie die sachsen-anhaltinischen und bremischen „Sekundarschulen“ . Daneben wurstelt die Gesamtschule weiter und funktioniert als klassisch sozialdemokratisches Modell leidlich, solange sie nicht in unmittelbarer Nähe mit einem Gymnasium – als Teil des dreigliedrigen Schulsystems – konkurrieren muß. Mit einem zunächst konservativ anmutenden Schritt versuchen die Gymnasien erstmalig seit der unseligen Oberstufenreform Substanzverluste aufzuhalten, indem statt des Etikettenschwindels von Grund- und Leistungskursen neuerdings Deutsch, Mathematik, die erste Fremdsprache und sogar Geschichte in den Rang von Hauptfächern erhoben werden. Auf diese Weise lernen die Gymnasiasten wieder in Klassenverbänden und müssen sich Hauptfachprüfungen stellen. Die Zahlenmystik der Notenabrechnung bleibt jedoch bestehen, damit die überhöhten Abiturientenzahlen gehalten werden können. Das System lädt weiterhin dazu ein, die Abwahl von Fächern Herausforderungen vorzuziehen, und ermöglicht es, Notenbilanzen schönzurechnen. Und dennoch ist die Bilanz fatal. So brechen von deutschen Schülern mehr als zehn Prozent die Schule vorzeitig ab, von ausländischen gar doppelt so viele. Dabei blieben Ausgaben für Bildung gering, die Lehrer zu alt, im Durchschnitt um die fünfzig, und die Defizite im Schreiben, Lesen und Rechnen immens. Unterdessen spielt die Begleitmusik pädagogischer Konzeptentwickler dissonant weiter. Aus dem Wortgeklingel extrahieren die Kultusministerien Phrasen und hoffen, daß beschriebenes Papier bereits für Veränderung sorgt. Die Professionalität, mit der andere Wissensbereiche zwar polemisch, aber doch semantisch klar diskutieren, fehlt im Bereich Bildung. Hier ist alles politisch besetzt und reizt unmittelbar Empfindlichkeiten. Dies schon deswegen, weil das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) von den Schulen nicht weniger erwartet, als „gesellschaftliche Ungleichheit und familiäre Defizite der Sozialisation zu kompensieren und soziale Kohäsion zu fördern“. Zu diesem Trugschluß im Prinzip tritt ein formaler: Die föderal streitenden Kultusministerien, deren behäbige Kultusministerkonferenz (KMK) und das von ihr eigens so hochdotiert wie teuer gegründete Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) folgen der Illusion, mit einem überbordenden Aufwand an Richtlinien, Kompetenzkatalogen und Regelungen Probleme kompensieren zu können, die nur grundsätzlich zu bewältigen wären, hielte man nicht den Bildungspartikularismus der Länder für ein derart hohes demokratisches Gut. So benennt eine Broschüre der KMK zu Bildungsstandards für das Fach Deutsch der gymnasialen Klasse 8 nicht weniger als 59 „Kernkompetenzen“ , deren Erwerb vom IQB ab jetzt kontrolliert werden soll, und zwar wörtlich so: „Kernelemente einer output- und evidenzbasierten Steuerung sind die Orientierung an einem erwarteten Output sowie die Organisation von ‚Feedback‘-Prozessen, die dazu beitragen, daß Informationen über den erreichten Output wiederum einfließen in den Input und die Prozesse der Leistungserstellung.“ Wer in den Veröffentlichungen der diversen Kultusbehörden sucht, findet statt problemorientierter Analyse nur politische Ansprüche. Dafür aber immer neue „Initiativen“ wie die hochaktuelle „Qualifizierungsinitiative für Deutschland“ des BMFB. Was als Befreiungsschlag angekündigt wurde, stellt sich als eine Art Power-Point-Stichwortsammlung heraus, die zum einen die Bildung dem Markt andienen möchte, indem immerfort von „wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit“ die Rede ist, zum anderen allen bessere „Aufstiegschancen“ verspricht. Diese Ambivalenz ist signifikant: Einerseits leidet die Schule an Verwirtschaftlichung und marktgerechten Normungen, zum anderen folgt sie einer Anthropologie, die allen alles zutraut. Die Kultusbürokraten sprechen von „Bildungsexpansion“. So wuchs von 1952 bis 1990 der Anteil der 13jährigen Schulkinder im Gymnasium von 12 auf 31 Prozent, womit sich die Chance, ins Gymnasium zu wechseln, etwa verdreifachte und sich bis heute hält. So weit, so gut, könnte man meinen. Nur ist bei dieser Entwicklung die bürgerliche Tradition von Gymnasium und Abitur jäh gebrochen worden: Denn der Anteil der studierwilligen Abiturienten fiel von 92 Prozent im Jahr 1970 auf jetzt 57 Prozent! Warum dann kein Realschulabschluß? Im Abitur wird nicht mehr die sozial exklusive Berechtigung zum Studium gesehen, sondern eine Art Patent, das alle Optionen für die Ausbildung beinhaltet – ein Abi eben. Die Überzahl von Hochschulberechtigungen wurde mit einer Inflation gymnasialer Bildung ermöglicht, die akademische Kompetenzen zwar noch benennt, aber immer weniger auszubilden vermag. Noch problematischer: „Etwa 20 Prozent der Studenten scheitern am Schreiben“, diagnostiziert der Hochschuldidakt Lutz von Werder das Dilemma. Das Fach Deutsch etwa kennt in der Abiturstufe weder Fehlerquoten noch Kanonisierungen und kommt nur so zu akzeptablen Resultaten. Die Fremdsprachen zogen darin nach. Die Kultusbürokraten verzichten auf verbindliche Forderungen, schreiben in die Rahmenrichtlinien statt dessen aber immer mehr Erwartungen hinein, die längst nicht mehr eingelöst oder verifiziert werden. Mecklenburg etwa verzichtet im Deutschabitur auf die „textgebundene Erörterung“, die Argumentation, Positionierung und Urteilskraft erforderte, und läßt nur noch Inhalt, Intention und Gestaltungsmittel nachweisen. Folge des Anspruches, idealerweise nicht nur die Hälfte, sondern drei Viertel aller Schüler als abiturabel zu deklarieren, ist zunächst eine latent überbewertende Benotung. Im unteren Leistungsdrittel dürfte sie noch fataler erfolgen, um ein Durchkommen zu ermöglichen, sofern überhaupt noch meßbare Ergebnisse vorliegen. Das Heraufbewerten der schwächeren Leistung bedingt indirekt ein Herabrechnen der stärkeren. Selbsteinschätzungen verzerren sich zunehmend. Das Personalmanagement der Firmen folgt jedoch gerade nicht dem pädagogischen Irrglauben, jeder wäre talentiert, sondern setzt vorsorglich sehr gute Abiturschnitte voraus, da Zweier- und Dreierbereiche, die früher noch fachliche Solidität verhießen, von mangelnder intellektueller Belastbarkeit zeugen. Ein Circulus vitiosus: Der Notendruck am Gymnasium wächst, da Unternehmen und Universitäten dort selektieren, wo die Schule nicht selektieren darf. Lehrer sind gezwungen, ausführliche Worturteile zu schreiben, weil sie Schülern, die per se das Beste fordern und benötigen, alles unterhalb der Zwei zu erklären haben. Zudem wird neuerdings schon bei Test- und Klausurnoten geklagt und „Transparenz der Bewertung“ eingefordert. Kein Wunder also, daß eine Sonderstudie der Pisa-Forscher feststellt, daß viele Neuntkläßler in den Naturwissenschaften und in Mathematik innerhalb eines Schuljahres gar keine Fortschritte machten und 40 Prozent der Schüler auf die Frage, was sie in einem Jahr Mathematik lernten, mit „Nichts“ antworteten. Sobald man angesichts dieser Tatsachen jedoch weniger über Regularien als über Prinzipien reden möchte, sobald man gar starken Inhalten den Vorzug vor disparaten Methoden zuweist oder im Gegensatz zur Ökonomisierung von Bildung humanistische oder Humboldtsche Traditionen anregt, steht man außerhalb politischer Grundvereinbarungen. Daß zum Erfolg Überwindung, Leistung und echtes Interesse gehören, klingt nicht innovativ und ist kaum mehr vermittelbar. Eine an der Praxis orientierte Lehrerausbildung und die Revision untauglicher Unterrichtsmethoden hat immerhin begonnen, leider allzu schwerfällig und inkonsequent, aufgehalten wiederum von föderalen Befindlichkeiten. Angesichts dieser Unübersichtlichkeiten und Fehlentwicklungen auf den staatlichen Schulen erklärt sich der Boom der Privatschulen (JF 28/06; der Anteil der Schüler an Privatschulen im Schuljahr 2006/07 lag bei 7,3 Prozent, Tendenz steigend) gerade darin, daß sich gegen mehr Geld Bedingungen einrichten lassen, die sich der Staat nicht leisten mag. Vor allem sind die Klassenstärken viel geringer; mehr als zwanzig Schüler lernen nicht gemeinsam, meist sind es weniger. Die besten Internate übersteigen nicht die Klassenfrequenz von zwölf. Über diese Parameter hinaus aber punkten die Privaten mit einem Freizeitbereich, der den Begriff Ganztagsschule erst rechtfertigt. Außerdem wird Lebenssinn vermittelt, der anderswo wieder als „ideologisch“ verunglimpft würde; und die besten Häuser stellen über die Lernerei hinaus eine authentische Nähe zur Natur, zur Arbeit und zum Handwerk her; sie sorgen für Sport und Bewegung und inspirieren die Interessen der solcherart Privilegierten. Im Unterricht jedoch wird auf Effizienz geachtet. Durchsetzungsfähigkeit, natürliches Charisma und straffer Frontalunterricht sind erwünscht – von Lehrerpersönlichkeiten, die das Zeug dazu haben und begeistern können. Echte Ganztagsschulen sind insofern die Internate, in denen die Lehrer noch Lehrende und erzieherische Mentoren sind. So führt der Staat Sachsen selbst Internate (St. Afra, Schulpforta, siehe den Artikel auf Seite 6), die an Herausforderungen interessiert sind, Talente wecken und Arbeitsethos kultivieren. Er könnte diesen Leistungsgedanken auf die Schulen verbreitern, wenn er sich von pädagogischen Erblasten und der Improvisation im föderal zersplitterten System verabschiedete. Foto: Nachdenklichkeit auch bei den Kleinsten: Gymnasium, Gesamtschule, Waldorf, Eliteinternat? Den richtigen Weg zu finden ist nicht immer leicht