Die von Bergen ausgehende Faszination ist ungebrochen, auch wenn sie meistens nur noch sportlich herausfordert. Einen Berg erklimmen Alpinisten und Wanderer, „weil er da ist“. Doch in prä-säkularen Zeiten kam den Bergen noch eine religiöse Qualität zu, die sie zu heiligen Orten aufwertete, an denen sich das Göttliche den Menschen offenbarte – so wie Gott gegenüber Moses, als er sich für vierzig Tage und Nächte auf den Sinai zurückzog, wo er die Zehn Gebote empfing. Zu den religiösen Gestalten, die nach Moses‘ Vorbild den Rückzug in die Einsamkeit des Berges als mystisches Erlebnis erlebten, gehört auch der Heilige Patrick, der Apostel der Iren. 441 nach Christus stieg er in einer Phase religiöser Zweifel über seine Mission auf den Cruachan Aigli, betend und fastend, 40 Tage lang. Um seinen Aufenthalt dort ranken sich viele Legenden. So soll er mit Rabenvögeln gekämpft, mit einem Boten Gottes um die Seelen der Iren gefeilscht und Irland von den Schlangen befreit haben. Letzteres ist zweifellos eine Allegorie auf die Druiden, die sich mit Schlangensymbolen tätowierten. Nach Patricks Abstieg adaptierte die irisch-katholische Kirche das bis dahin dem Keltengott Lugh geweihte Naturheiligtum für ihre eigenen Zwecke, und im Laufe der Zeit bekam der Berg seinen heutigen Namen: Croagh Patrick. Nur wenige Kilometer westlich von Westport ragt der 765 Meter hohe Croagh Patrick direkt an der Clew Bay empor. Die Landschaft, über die der graue kegelförmige Berg mit dem abgeplatteten Gipfel wacht, gehört zur Grafschaft Mayo in der irischen Provinz Connacht. Hier im „wilden Westen“ der Insel, so sagt man, sei Irland am irischsten, auch weil sich dort einige der wenigen gälischen Sprachinseln erhalten haben. Es ist eine dünnbesiedelte Region, die in ihrem rauhen Charakter einen wildromantischen Reiz auf die Touristen ausübt, aber in der Geschichte der Iren mit unsäglichem Leid verbunden ist: „Mayo – Gott hilf uns!“ riefen sie früher bei der Erwähnung der Grafschaft aus, als gelte es sich den Fluch, der auf einem ganzen Land liegt, vom Leib zu halten. Menschlicher Raubbau und ein Klima mit ergiebigen Niederschlägen und teilweise starken Atlantikwinden haben Connacht zur unwirtlichsten Gegend der grünen Insel verkommen lassen. Ein großer Teil der Provinz ist durchzogen von Hochmooren und kargen, steinigen Böden. Weiterhin dominieren kahle Mittelgebirge, in deren Tälern wie Flickenmuster moderne Fichten- und Kiefernpflanzungen angelegt sind. „Nach Connacht oder zur Hölle“, rief die englische Kolonialmacht, bevor sie im 17. Jahrhundert nach einem niedergeschlagenen Aufstand irische Grundbesitzer aus den fruchtbaren Regionen ausgerechnet hierher vertrieb. Es ist der letzte Sonntag im Juli, der Tag, der im religiösen Kalender Irlands traditionell für den „Reek Day“, die Wallfahrt auf den Croagh Patrick, reserviert ist. Diese älteste und bedeutendste Wallfahrt des Landes gilt den katholischen Iren wegen ihrer ununterbrochenen Durchführung über die Jahrhunderte hinweg als Ausdruck ihres unerschütterlichen Glaubens und ihres nationalen Selbstbehauptungswillens, selbst durch die Zeiten kolonialer Besatzung und anti-katholischer Strafgesetze. Seit den frühen Morgenstunden treffen Pilger aus dem ganzen Land ein. Für irische Verhältnisse herrscht gutes Wetter. Die Sicht zum Gipfel ist frei von Nebel und Wolken, was nicht oft der Fall ist. Gelegentlich taucht die Sonne durch die dichte Wolkendecke den Berg in ein helles Licht. Erst zum Nachmittag wird kurzzeitig Regen aufkommen. Gegenüber dem Parkplatz, auf der anderen Seite der an dem Berg vorbeiführenden Straße, erinnert seit 1997 ein Monument an die Opfer der Großen Hungersnot (1845-1849). Es stellt die Nachbildung eines „Sargschiffes“ dar, in dessen Takelage und Rumpf Skelette eingearbeitet sind. Viele der geschwächten Passagiere, die auf diesen Schiffen nach Übersee fliehen wollten, überlebten aufgrund der unzumutbaren Bedingungen an Bord nicht die Fahrt. Zwangsläufig forderte diese Hungersnot, an der eine Millionen Iren zugrunde gingen, im damals überbesiedelten Connacht die meisten Todesopfer. In der naß-feuchten Witterung fand die Braunfäule, die über Jahre hinweg die Kartoffelernten vernichtete, ideale Wachstumsbedingungen. Die Frage, ob die Londoner Regierung einer vergleichbaren Katastrophe in ihren englischen Kernlanden ähnlich tatenlos zugesehen hätte wie sie es in Irland tat, beantwortet der britische Publizist Terry Eagleton knapp: „Wahrscheinlich nicht.“ Die Statue des heiligen Patrick ist die erste Anlaufstelle der Pilger, nachdem sie einige Devotionalienhändler und religiöse Aktivisten passiert haben. Von hier aus führt über ein Gebirgsmassiv ein fünf Kilometer langer Pfad zum Gipfel, der etwa zwei Stunden in Anspruch nimmt. Das Bett des unebenen Pfades besteht aus hartem, dicken Geröll von Quarzit. Fast jeder stützt sich auf diesem strapaziösen Weg mit einem Stock ab. Vom Berg herab kommen einem die ersten Rückkehrer entgegen, die bereits in der Nacht aufgebrochen sind. Unter den Pilgern sind erstaunlich viele junge Menschen, sogar Kleinkinder werden wie zu einem Familienfest mitgenommen. Ein Familienvater schafft gar die Leistung, das eine Kind auf dem Rücken hinauf zu tragen, während er das andere an der Hand hält. Die Stimmung ist heiter und locker, keineswegs meditativ und selbstversunken. Man hält auch gerne an für einen Plausch oder führt Gespräche übers Mobiltelefon. In Patricks Fußstapfen tretend, gehen die Pilger regelrecht über Gold: Prospektoren entdeckten Ende der 1980er Jahre ergiebige Goldadern im Berg und beantragten damals ihren Abbau. Nur der vereinte Widerstand von Kirche und Umweltschützern konnte den heiligen Berg vor derartiger Ausbeutung schützen. Im seltsamen Kontrast zu diesen enormen materiellen und ideellen Werten des Croagh Patrick steht leider das auffallend respektlose Verhalten mancher Pilger, die ihn trotz Hinweisschildern mit ihren Abfällen verschandeln. Nach der Hälfte des Weges steht Leacht Benain an, die erste traditionelle Station, an der die Pilger unter Verwendung des Rosenkranzes ihre rituellen Bußübungen praktizieren. Sieben Runden sind im Uhrzeigersinn in Richtung der Sonne um den Steinhaufen abzulaufen, in denen sieben Vaterunser, sieben Ave Maria und ein Glaubensbekenntnis zu beten sind. Doch nur die gewissenhaften unter den Pilgern vollziehen diese Übungen, während die meisten anderen daran vorbeigehen. Der ersten Station schließen sich später auf dem Gipfel zwei weitere mit ähnlichem Ritus an – The Summit und Roilig Mhuire. In allen drei Stationen sind uralte Elemente keltischer Spiritualität integriert, in denen sich das Leben als ewiger Kreislauf symbolisiert. Das letzte Drittel des Weges ist das schwerste Teilstück. Die Steigung nimmt deutlich zu, so daß das Geröll unter den Füßen wegzurutschen droht. Doch dann endlich ist der Gipfel mit der kleinen weißen Kapelle erreicht. Wie zur Belohnung eröffnet sich den Pilgern der imposante Ausblick auf die Clew Bay mit ihren rund dreihundert Inseln, bei dem selbst hartgesottene Agnostiker die Ehrfurcht der Gläubigen vor Gottes Schöpfung nachempfinden müßten. Zur Buße gehört auch Leiden. Je größer der Schmerz, um so gewisser sind dem Pilger die Aussichten auf Sündenvergebung. Dementsprechend vollziehen einige die Wallfahrt sogar barfuß. So wie Gerry (35) und Brian Diver (28): Die beiden Brüder aus dem nordirischen Derry haben sich bei ihrer insgesamt siebten Teilnahme aus religiösen Gründen erstmals dazu entschlossen, diese besondere Form der Buße zu praktizieren. Sie sehen diese quälende Prozedur als ein Gebot Gottes an, wie sie erklären. Dichte Menschenmassen sammeln sich um den Platz vor der Kapelle, an dem Erzbischof Michael Neary die Heilige Messe zelebriert. „Wir erinnern uns der Worte Christi über den Glauben, der Berge versetzen würde; heute beten wir, daß dieser heilige Berg den Glauben bewegen wird“, ruft Neary in seiner Predigt der Menge zu. „Hail Glorious St. Patrick“ stimmt der Chor zum Abschluß an. Mit dem melodischen Refrain dieser Hymne – „In Erin’s green valleys…“ – wird die Ergriffenheit der Gläubigen deutlich spürbar. Der Zuspruch zum „Reek Day“ war dieses Jahr außergewöhnlich groß. Statt der üblichen 20.000 Pilger nahmen diesmal rund 35 bis 40.000 an der Wallfahrt teil – ein neuer Rekord. Es ist, als hätte sich ein ganzes Volk auf diesen Berg in Bewegung gesetzt, um die positive Wirkung gemeinschaftlich erlebter Religiosität zu erfahren. „Sagen Sie“, fragt eine Pilgerin stolz, „gibt es etwas Vergleichbares auch in Deutschland?“ Foto: Statue des heiligen Patrick und Croagh Patrick Foto: Geröllweg am Gipfel: Zur Buße gehört das Leiden Foto: Beschwerlicher Weg mit faszinierender Aussicht: Nicht enden wollender Pilgerstrom / Blick auf die Clew Bay