Derzeit werden die politischen Diskussionen über das strategische Verhältnis der Europäischen Union (EU) und Deutschlands zu Rußland äußerst emotional geführt. In keiner Frage sind der Westen und die EU so gespalten wie beim künftigen Verhältnis zu Rußland. Europa steht am Wendepunkt. Entweder wird eine strategische Partnerschaft mit Rußland weiter fortgesetzt und führt irgendwann zu einer Integration Rußlands mit Europa, wie es Charles de Gaulle vor 50 Jahren und Michail Gorbatschow vor 20 Jahren unter der Idee eines „gemeinsamen europäischen Hauses“ verstehen wollten. Oder der Westen kehrt zu einer Eindämmungspolitik gegenüber Rußland zurück. Im letzteren Fall würde Rußland, das gegenwärtig noch für ein Wettrüsten mit dem Westen zu schwach ist, nach Asien abgedrängt werden und taktische Allianzen mit China suchen. Die Debatte wird durch autoritäre Tendenzen in der russischen Innenpolitik genährt. Die russischen Eliten haben sich von den demokratischen Vorstellungen der neunziger Jahre verabschiedet und wollen nicht mehr Teil des Westens werden, sondern Rußland zu einem unabhängigen machtpolitischen Pol in der internationalen Politik etablieren. Mit den neuen Machtinstrumenten Öl und Gas wird fleißig Politik gemacht. Rußland droht dem Westen mit der Errichtung eines Gaskartells und einer Umorientierung der Gasallianz von Europa nach Asien. Andererseits wird die Rußlandpolitik der EU seit der EU-Osterweiterung 2004 zunehmend von den äußerst rußlandkritischen früheren Warschauer-Pakt-Staaten bestimmt. Einige der neuen EU-Mitgliedsstaaten, allen voran Polen, haben die von 1997 bis zum Irak-Krieg als Vermittler fungierende deutsch-französisch-russische Troika als „Achse des Bösen“ gebrandmarkt, Ansätze einer neuen konstruktiven Ostpolitik gegenüber Rußland, die unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft ausgearbeitet werden sollte, im Keim erstickt und versucht, die von Berlin unter Gerhard Schröder in die Wege geleitete Energieallianz EU – Rußland durch eine antirussische „Energie-Nato“ zu ersetzen. Gerade Polen wollte Berlin während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft durch seinen Boykott der Verhandlungen über die Fortsetzung des Partnerschaftsabkommens mit Rußland einen Denkzettel erteilen: Warschau würde keine vermeintlichen Sonderbeziehungen zwischen Berlin und Moskau mehr dulden. Innerhalb der europäischen Eliten entwickelt sich unter dem Einfluß der mittelosteuropäischen Staaten ein Mainstream hinsichtlich der Zementierung der transatlantischen Beziehungen. Das historische Bündnis Europas mit Amerika, das vor allem eine Sicherheits- und eine Wertegemeinschaft beinhaltet, soll aus der Sicht der europäischen Eliten niemals mehr so sträflich in Frage gestellt werden wie während der Auseinandersetzungen zwischen dem „alten“ und „neuen“ Europa zu Beginn des Irak-Krieges. Die neuen Anführer des Abendlandes – Angela Merkel, Nicolas Sarkozy, Gordon Brown – werden sich in Zukunft dem Projekt einer gemeinsamen Freihandelszone mit Amerika verschreiben, nicht dem Aufbau einer Freihandelszone mit Rußland. Versuche Rußlands, sich zum Architekten einer multipolaren Welt zu proklamieren, werden von den europäischen Eliten abgeschmettert. Für die Eliten der EU-Länder wäre, bei aller Kritik am Vorgehen der USA im Mittleren Osten, das Ende einer von den USA dominierten Weltordnung gleichzeitig ein Absturz ins Chaos. Von der Idee einer sicherheitspolitischen Partnerschaft EU – Rußland sind beide Seiten weit entfernt. Auch die Idee eines gemeinsamen Energiesicherheitsraumes, für den mit dem Baubeginn der Ostseepipeline vor zwei Jahren der Grundstein gelegt wurde, scheint heute aufgrund der divergierenden Vorstellungen von einer künftigen gemeinsamen Energiepolitik kaum realisierbar. Fast alle Ostsee-Anrainerstaaten, mit Ausnahme Deutschlands und Rußlands, versuchen, unter massiver Hilfestellung der USA, die Pipelineverlegung zu torpedieren. Die Energieallianz zwischen der EU und Rußland, die strategische Partnerschaft, aber auch der deutsch-französisch-russische Troika-Mechanismus waren in den letzten Jahren äußerst wichtig, um die Nato-Osterweiterung gegenüber Rußland mit positiven parallelen Projekten abzufedern. Die hitzige Debatte über die geplante US-Raketenabwehr in Mittelosteuropa hat angesichts der Verschärfung der Fronten auf der amerikanisch-polnischen auf der einen und Moskau auf der anderen Seite kaum Aussicht auf einen Kompromiß. Dieser könnte beispielsweise in der Einbindung russischer Militärs und Rüstungsfirmen auf gleichberechtigter Basis bestehen. Doch inzwischen ist für die Russen die Installierung neuer amerikanischer Militärtechnik an seiner Westgrenze eine „rote Linie“, die der Westen nicht überschreiten darf. Der Kreml interpretiert die Raketenabwehr als neue Abschreckungswaffe gegen Rußland. Sollte die Nato weiter nach Osten erweitert werden – Washington plädiert für eine Mitgliedschaft der Ukraine, Georgiens und Aserbaidschans -, könnte die nordatlantische Militärallianz über die Schwarzmeerregion und den Kaukasus direkt den russischen Süden erreichen. Aus heutiger Sicht wäre damit die strategische Partnerschaft des Westens mit Rußland wohl beendet. Der europäische Kontinent würde wieder in den Kalten Krieg oder in die Zeiten der friedlichen Koexistenz zurückfallen. Wie konnte sich das Rußlandbild im Westen so dramatisch verschlechtern? Erstens ist der Westen enttäuscht darüber, daß Rußland das ihm angebotene westliche Modell abgelehnt hat. Zweitens mißfällt dem Westen die Art und Weise, wie das wirtschaftlich erstarkte Rußland seine neue Energiedominanz gegenüber seinen Nachbarstaaten ausspielt. Drittens versteht der Westen die Gründe für Putins autoritären Kurs nicht, und ihm fehlen die analytischen Einblicke in das neue Rußland. Im Westen gilt es beispielsweise als Frevel zu behaupten, daß Putin den Tschetschenienkrieg erfolgreich gewonnen hat und sich die Republik wieder im wirtschaftlichen Wiederaufbau befindet. Viertens verspüren viele im Westen Neid und Furcht gegenüber russischen Neureichen. Inzwischen sagt man ihnen offen ins Gesicht, daß sie aufgrund der zwielichtigen Herkunft ihres Kapitals als Investoren unwillkommen seien. Im Westen herrscht die Wahrnehmung vor, Rußland habe den Kalten Krieg genauso verloren wie seinerzeit Deutschland den Zweiten Weltkrieg. Man vergißt, daß Gorbatschows Perestrojka und Boris Jelzins Widerstand gegen die Putschisten im August 1991 den Kommunismus beseitigt haben und nicht etwa die Solidarność-Bewegung in Polen oder gar Ronald Reagans Politik der Todrüstung der UdSSR. Doch bekanntlich schreibt der Sieger die Geschichte. In den neunziger Jahren begab sich Rußland freiwillig in die Rolle des gelehrigen Schülers. Die russischen Demokraten der ersten Stunde wollten Rußland im Westen verankern. Damit wären, nach der erfolgreichen Integration des wiedervereinigten Deutschlands im Nachkriegseuropa, auch Rußland und die postsowjetischen Staaten in einem friedlichen und prosperierenden Gesamteuropa integriert worden. Die historische Chance, die russische Frage im europäischen Kontext zu lösen, wurde vertan. Nato und EU wurden zu den einzigen beiden Hauptpfeilern, auf denen das neue Europa konstruiert wurde. Rußland blieb draußen. Putins Politik der „Diktatur des Gesetzes“ und der Wiederherstellung staatlicher Macht in Rußland – vom überwiegenden Teil der Bevölkerung nach dem Chaos der neunziger Jahre begrüßt und bejubelt – entfernte jedoch das Land immer mehr von westlichen Vorstellungen eines gemeinsamen demokratischen Wertesystems. Diejenigen im Westen, die sich für eine pragmatische Interessenspartnerschaft mit Rußland – auf einer ähnlichen Basis wie es die Europäer mit den Chinesen handhaben – einsetzten, zogen gegenüber denen, die auf den Prioritäten einer Wertepartnerschaft beharrten, den kürzeren. Heute scheint die EU gewillter denn je zu sein, ihr Verhältnis zu Rußland nur auf der Basis einer Wertepartnerschaft zu gestalten. Diese Politik kann man auch interpretieren als klares Ultimatum: Entweder bekennt sich Rußland zur Demokratie oder es wird in Europa abgelehnt. Fest steht, daß Rußland und der Westen sich heftig zerstritten haben. Es wird Jahre dauern, das Verhältnis wieder zu reparieren. Die von den Staaten des „alten“ Westens begonnene Aussöhnungs- und Partnerschaftspolitik mit Rußland wird eine Pause brauchen. Zunächst müssen die historischen Wunden, die im Verhältnis der ehemaligen Besatzungsländer mit Rußland entstanden sind, von neuem ausgeheilt werden. Deutschland und andere EU-Staaten, die in den letzten Jahren positive Erfahrungen im Umgang mit Moskau sammeln konnten, wären prädestiniert für eine Vermittlerrolle. Einen Konsens in der EU für eine gemeinsame Rußlandstrategie zu finden, wird im Europa der 27 jedoch immer schwieriger werden. Trotz der Emotionen, die heute das Verhältnis des Westens zu Moskau bestimmen, braucht Europa einen nüchternen Blick auf das neue starke Rußland. Über kurz oder lang wird Deutschland, egal unter welcher Bundesregierung, wieder die Vorreiterrolle für eine europäische Ostpolitik gegenüber Rußland übernehmen. Das gebieten deutsche nationale Interessen, die eigentlich mit den europäischen identisch sein sollten. Deutschland benötigt den russischen Wirtschaftsmarkt. Aus Rußland wird Deutschland in den nächsten 20 Jahren doppelt so viele Energieträger beziehen wie bisher. Das Pipelinesystem ist ausgebaut und modernisiert. Fest steht auch, daß Rußland für Deutschland ein beständigerer und sicherer Partner ist als andere Exportländer in Nordafrika oder am Persischen Golf. Ein Hochtechnologieland wie Deutschland kann in den nächsten Jahrzehnten vom wachsenden Absatzmarkt Rußland gewaltig profitieren und zu Hause Arbeitsplätze sichern. Deutschland wird nicht umhinkönnen, langfristig die Idee einer Sicherheitspartnerschaft mit Rußland wieder aufzuwärmen. Aus Gründen der europäischen Stabilität muß die zweite Atommacht der Erde an der Seite Europas und nicht Asiens stehen. Das bedeutet keineswegs, daß Europa zwischen USA und Rußland wählen müßte. Prorussisch denken heißt keineswegs antiamerikanisch handeln. Langfristig kann der Westen ohne Rußland den Krieg gegen den islamischen Extremismus und Terrorismus nicht gewinnen. Die amerikanisch-russische Allianz im Kampf für die Befreiung Afghanistans nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hat gezeigt, daß eine Kooperation möglich ist. Putins Angebot an die Amerikaner, die sowjetische Radarstation in Aserbaidschan gemeinsam als „Schutzschild“ gegen mögliche Raketenangriffe aus dem Iran und der arabischen Welt zu nutzen, sollte als wiederholtes Angebot der Errichtung eines gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungsraumes USA-EU-Rußland begriffen werden. Für die künftige Stabilisierung des „Greater Middle East“ wird der Westen schon in ein paar Jahren Rußland und China hinzuziehen müssen, weil er diese Aufgabe aus eigener Kraft nicht lösen kann. Die Debatte über eine gemeinsame Sicherheitspolitik mit Rußland muß offen, ehrlich und strategisch geführt werden. Der Westen sollte erkennen, daß das „Great Game“ im postsowjetischen Raum nicht zu gewinnen ist. Eine Stabilität auf dem ehemaligen Territorium der Sowjetunion kann ohne Rußland nicht funktionieren. Bei der Raketenabwehr muß Rußland ein Gefühl der Zugehörigkeit zum neuen exklusiven Verteidigungsclub suggeriert werden. Vor allem muß die westliche Seite klarmachen, daß die künftige Raketenabwehr auch Rußland vor Angriffen aus dem islamischen Raum schützen würde. Es ist westlicher Irrtum anzunehmen, Rußland würde bei einem Rückgang der Energiepreise auf dem Weltmarkt zusammenbrechen. Darauf zu hoffen wäre die falsche Strategie. Deutschland muß schon im Interesse einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik seine traditionellen historischen Beziehungen zu Rußland nutzen, um weiter an einer Stabilisierung des europäischen Kontinents zu arbeiten. Deutschland hat in Wirklichkeit durch sein zu kritisches Auftreten gegenüber Rußland die Chance verpaßt, unter dem deutschfreundlichen Politiker Putin die strategische Partnerschaft mit Rußland auszubauen. Gefangen in der allgemeinen Wertedebatte, die in Wirklichkeit nichts anderes als eine Schulmeisterei des Westens gegenüber Rußland darstellte, verlor Berlin die einstige Leidenschaftlichkeit für die Idee eines Großeuropas mit Rußland. Deutschland will heute wie das übrige Europa Länder wie die Ukraine oder Rußland als bloße strategische Nachbarn behandeln, ähnlich wie Ägypten oder Marokko. Putin wird in der ersten Jahreshälfte 2008 gehen. Die russischen Eliten sind über den Bruch mit Europa tief enttäuscht. Rußland war bereit gewesen, Europa die benötigten Rohstoffe und Bodenschätze zur Verfügung zu stellen sowie gleichzeitig europäische Technologie für die eigene Modernisierung zu erwerben. Falls die Kalte-Krieg-Rhetorik weiter eskaliert, werden diese Träume irreal. Deutschland müßte erkennen, daß es eine eigene europäische Rußlandstrategie konzipieren kann, die es gegenüber den rußlandkritischen mittelosteuropäischen Staaten durchsetzen würde. Über den direkten Dialog mit der russischen Elite beispielsweise durch den Petersburger Dialog sollte der Weg der Vertrauensbildung beschritten werden. Deutschland könnte sich für eine Visumserleichterung im Verhältnis zu Rußland einsetzen. Intensive Zusammenarbeit in sogenannten weichen Sicherheitsfeldern würde die Partnerschaft nach vorne bringen. Deutschland müßte die USA davon überzeugen, daß eine europäische Wiedervereinigung West- und Mittelosteuropas mit Rußland und den postsowjetischen Ländern den strategischen Interessen der USA keineswegs schaden würde. Die Deutschen sind nach allen Umfragen für die Russen auch weiterhin das zweitbeliebteste Volk. Deutschland wird in Rußland nicht als geopolitischer Rivale gesehen. Rußland hätte nichts dagegen, falls Deutschland auch weiterhin eine Art Anwaltsrolle für Rußland im Westen übernehmen könnte. Es wäre falsch, wenn Deutschland seine Osteuropapolitik nur auf die Interessen und historischen Befindlichkeiten der ehemaligen sowjetischen Satellitenstaaten abstellen würde. Im Gegenteil, Länder wie Polen oder Estland sollten davon überzeugt werden, daß ihre Stellung als Frontstaaten gegenüber Rußland sie finanziell teuer zu stehen kommen und sie politisch daraus kaum Nutzen ziehen könnten. Die heutige Strategie sollte nicht sein, mittel-osteuropäische Staaten vor Rußland in Schutz zu nehmen, sondern im Gegenteil, Rußland vor seiner Verdrängung aus Europa zu bewahren. Stichwort: Partnerschafts- und Kooperationsabkommen Grundlage der politischen Arbeit zwischen der EU und Rußland bilden seit 1993 die Gipfeltreffen der EU-Kommission und des russischen Präsidenten. Hauptorgan ist hier der Ständige Partnerschaftsrat, der auf Fachministerebene (Wirtschaft, innere und äußere Sicherheit, Forschung/Bildung) arbeitet. Parallel dazu besteht seit 1997 das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen, das die Wirtschaftsbeziehungen regelt und zehn Jahre nach seiner Inkraftsetzung Ende 2007 ausläuft. Doch wie auf allen Ebenen stockt auch hier der Annäherungsprozeß. Polen blockiert die Verhandlungen aufgrund des russischen Einfuhrverbotes für polnische Fleischerzeugnisse. Alexander Rahr ist Programmdirektor Rußland/Eurasien bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin. Foto: EU-Kommissionspräsident Barroso, Präsident Putin (vorn), Bundeskanzlerin Merkel beim EU-Rußland-Gipfel in Samara (18. Mai 2007): Eine Kooperation ist doch möglich
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