Ist der „Fall Herman“, der gerade noch Gemüter und Gazetten erregt hatte, abgelöst worden durch einen „Fall Meisner“? Wird nach der kollektiven Verbannung der einst zur beliebtesten Fernsehmoderatorin Gewählten aus ihrem vertrauten Medium jetzt die sprichwörtlich „neue Sau durchs Dorf getrieben“, weil „die Herman“ nichts mehr hergibt, erledigt ist? Oder ist es in Wirklichkeit ein Fall, in welchem lediglich die eine durch die nächste Zielperson ersetzt wurde? Auf den ersten Blick scheint es nur die zufällige zeitliche Nähe zwischen beiden „Fällen“ zu geben, da die betroffenen Personen zu unterschiedlich sind, um als ein „Phänomen“ wahrgenommen zu werden; gemeinsam scheint eben nur die „verbale Entgleisung“, der Fehltritt „ins Braune“ zu sein. Joachim Kardinal Meisner, geboren 1933 in Breslau, wurde 1962 in Erfurt zum Priester geweiht. Genauso homogen katholisch wie das familiäre Umfeld, in welchem Meisner aufwuchs, ist auch seine erste Wirkungsstätte als Seelsorger, das thüringische Eichsfeld. Als Meisner 1988 von Papst Johannes Paul II. zum Erzbischof von Köln ernannt wurde, brach über die Grenzen des Erzbistums hinaus ein Aufschrei los, da der Kardinal aus dem anderen deutschen Teilstaat bereits damals als Mann der kirchlichen Rechten galt – und bis heute gilt. Meisner ist zudem ein streitbarer Prediger, was freilich medial meist wenig enthusiastisch aufgenommen wird. So widmete etwa der Stern dem polarisierenden Gottesmann eine eigene Reihe unter dem Titel „Verbale Entgleisungen“. Dazu gehörten nach Ansicht der Stern-Journalisten Meisner-Äußerungen wie etwa die, wonach Christen und Muslime „nicht in einer Feier gemeinsam beten“ könnten; oder: „Toleranz predigt der Islam nur, wo er in der Minderheit ist“. Und immer wieder der Vorwurf, Meisner verletze das NS-Tabu: etwa als er am Dreikönigstag die Massentötungen durch totalitäre Herrscher wie Hitler und Stalin in einem Atemzug mit heutiger millionenfacher Kindstötung im Mutterleib nannte. Oder als er die „Abtreibungspille“ als ein weiteres chemisches Mittel geißelte, das in Deutschland zum Zwecke der Menschenvernichtung ersonnen worden sei – und damit auf Zyklon B und die Ermordung der Juden in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern anspielte. Stets folgt die fast einhellige Verdammung solcher Thesen als erstens geschmacklos, zweitens als Hitler bzw. den Holocaust relativierend und drittens vollkommen unzeitgemäß. In jedem dieser Fälle aber konnte der gescholtene Kardinal gewiß sein, daß seine Predigten – zumindest ausschnittweise – weit über die Grenzen des Erzbistums Köln hinaus bekannt wurden. Und immer wieder seine Warnung vor einer Verabsolutierung des Menschen zum Maß aller Dinge. Dahingestellt bleiben muß, ob Meisner zu diesem Zweck bewußt provozierte oder nur arglos war. Die Verwendung des Begriffs „entartet“, für die er jetzt so heftig gescholten wurde, geschah offenbar durchaus überlegt, wenn auch ohne den Blick auf mögliche Folgen. Er habe den „von den Nationalsozialisten mißbrauchten Begriff“, so Meisner in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine, gebraucht, um „diese und alle Formen totalitärer Kulturen … mit ihrem eigenen Vokabular zu kennzeichnen und zu entlarven: Kultus und Kultur – im Sinne von Gottesverehrung und Gesellschaft – nehmen Schaden, wenn Gott nicht mehr in der Mitte steht.“ Im Gegensatz zu Meisner gilt Eva Herman nicht schon seit eh und je als reaktionär, sie ist eher eine Renegatin. Denn als berufstätige Medienfrau, dreifach Geschiedene und spätberufene Mutter eines Sohnes verkörperte sie lange Zeit selbst eher ein feministisches Frauenbild als ein traditionelles Rollenverständnis, zu dem sie sich aufgrund eigener Erfahrungen und der Einsicht in familienpolitische Notwendigkeiten mittlerweile bekehrt hat. Die 1958 in Emden geborene Journalistin machte Karriere beim NDR als langjährige Nachrichtensprecherin und Fernsehmoderatorin. Sie wuchs in einem konfessionslosen Elternhaus auf, ist auch heute nicht Mitglied einer Kirche, nach eigener Einschätzung aber fromm. Ganz so überraschend ist ihr Gesinnungswandel allerdings auch nicht. Bereits 1999 äußerte Herman in der NDR-Sendung „Talk vor Mitternacht“ Thesen, die die ebenfalls anwesende Rita Süssmuth laut aufstöhnen ließ, Herman werfe die Frauenbewegung um 100 Jahre zurück. Hermans auf der Pressekonferenz vertretene Meinung zur „Vergangenheitsbewältigung“ durch die „68er“ war auch bei weitem nicht so ausformuliert wie Kardinal Meisners Thesen zur Kunst, sondern brach aus einem etwas fehlkonstruierten Satz hervor. Gibt es dennoch Argumente für die „Ein-Fall-These“? Durchaus. Denn wenn sowohl Meisners als auch Hermans Thesen in Zeitungen und anderen Medien fast einhellig auf Ablehnung stoßen, dann nicht, weil sie nachweislich falsch oder einfach nur illusionär wären; sie werden vielmehr als unwahr – in einem emphatisch-politischen Sinne – bezeichnet. Denn offensichtlich droht im Falle ihrer praktischen Umsetzung die Aufkündigung eines gesellschaftlichen Konsenses über das, was erstens als fortschrittlich und zweitens als wünschenswert zu gelten habe. Dazu gehört zuallererst die Emanzipation: die – um bei den Beispielen zu bleiben – der Kultur von der Kirche, die des Menschen von der dogmatischen Religion, die der Frau von ihrer „Rolle“ als Mutter usw. Weil diese Entwicklung so verlief, wie sie verlief, ist sie gut; anders gesagt: weil sie für folgerichtig gehalten wird, gilt sie auch als unumkehrbar. Alles andere wäre ein Schritt „zurück“. Daher können Argumente, die diesem Verständnis von Moderne widersprechen, getrost ignoriert werden. Über Hermans Buch müsse im 21. Jahrhundert überhaupt nicht mehr diskutiert werden, meinte etwa die feministische Publizistin Alice Schwarzer. Eine CDU-Politikerin und eine evangelische Landesbischöfin stießen ins gleiche Horn. Auch die Äußerungen der eiligst nach ihrer Meinung zum Kunstverständnis des Kölner Oberhirten befragten Politiker und Kulturschaffenden unterschieden sich nur in Nuancen: wenn entweder bloß das entsprechende Diktum für „unmöglich“ befunden wurde (so Kulturstaatsminister Neumann, CDU) oder aber gleich die ganze Person, so die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth. Der Berliner Akademiepräsident Klaus Staeck befand den Kirchenmann schlicht für unzuständig hinsichtlich einer Definition von Kunst. Meisner hingegen nahm für seine Argumentation Anleihen bei der berühmten Kulturkritik des Kunsthistorikers Hans Sedlmayr (1896-1984), der darin unter anderem festgestellt hatte: „Gestört ist das Verhältnis des Menschen zu Gott. Das wird im Gebiete der Kunst so deutlich wie nirgend sonst sichtbar an den neuen Aufgaben, denen man die Kraft zuwendet, die früher dem Tempel und der Kirche und dem Götterbild galt. Die neuen Götter des Menschen sind die Natur, die Kunst, die Maschine; das All, das Chaos, das Nichts.“ Sedlmayr mußte sich bereits Mitte der fünfziger Jahre in einer Verteidigung seiner Thesen gegen einen einseitigen Fortschrittsbegriff zur Wehr setzen. Und in noch einem Punkt wird deutlich, wie sehr Herman und Meisner zu einem „Fall“ verwoben sind: da, wo es um die vermeintlich positive Bezugnahme auf den Nationalsozialismus geht. Selbst wenn man die Klarstellung in der FAZ ignoriert und unterstellt, daß Meisner den Begriff „entartet“ ohne weitere Distanzierung übernommen hätte, wäre ein solcher – hypothetischer – Bezug doch allenfalls zu einem unwesentlichen Bereich der NS-Ideologie konstruierbar; keineswegs hätte sich aus dem Text als solchem eine Wertschätzung für die Verbrechen des Hitler-Regimes ableiten lassen. Genauso hätte auch Eva Herman selbst bei einem Fortlassen ihres ausdrücklichen Hinweises auf den „hochgefährlichen Politiker“ (Adolf Hitler), der das „deutsche Volk ins Verderben geführt hat“, niemand etwas Verwerflicheres unterstellen können als – schlimmstenfalls – einen positiven Bezug zur Wertschätzung der Mutter im Dritten Reich. Keinesfalls aber eine Relativierung zum Beispiel der Ermordung der Juden oder anderer nationalsozialistischer Verbrechen. Warum solche möglicherweise entlastenden Hinweise ausbleiben müssen, ergibt sich aus einem geschichtspolitischen Spezifikum der Deutschen. In einem Aufsatz über die „Metamorphosen der Vergangenheitsbewältigung“ stellte der Soziologe und Kriminologe Michael Bock „eine folgenreiche Verknüpfung“ fest, die unter dem Einfluß der Frankfurter Schule in den sechziger Jahren entstanden sei, nämlich die absolute Ineinssetzung von „Faschismus“ und „Auschwitz“ bzw. „Holocaust“. Erst durch die damit einhergehende „apokalyptische Dimension“ erhalte, so Bock, die „Analyse von latent oder manifest ‚faschistischen‘ Phänomenen gleichzeitig eine bedingungslose Dringlichkeit und eine einzigartige moralische Dignität“.