In Waterloo unweit Brüssel zerbrach vor 192 Jahren die Vision eines von Frankreich beherrschten Europa. In Brüssel unweit Waterloo wurde auf dem EU- Gipfel vom 20./21. Juni 2007 die Idee eines von den Gründerstaaten der EU (Frankreich, Deutschland, Benelux, Italien) beherrschten Europa begraben. Wie endgültig, wird zwar erst die anlaufende Ratifizierungsprozedur des noch auszuarbeitenden Grundlagenvertrages (er soll den abgeschmetterten Verfassungsvertrag ersetzen) erweisen. Wenig spricht jedoch dafür, daß Europas durch die Verfassungsdebatte genervte Bevölkerung den zweiten, verwässerten Aufguß des ungenießbaren Tees höher goutieren wird als den ersten, zumal in den schon bisher ablehnenden Staaten (Frankreich, Niederlande). Auch der in Deutschland erprobte Trick, staatspolitische Grundentscheidungen vom Volke weg in das Parlament zu verlagern, verspricht diesmal nicht allzuviel Erfolg. Zu viele Parlamentarier wissen inzwischen, was sie riskieren, wenn sie ein weiteres Mal versuchen sollten, gegen das erkennbare Votum ihrer Wähler zu regieren – die Pfründe und die Karriere. Waterloo II hat wie ein Blitz in der Nacht die Lebenslüge der europäischen Integrationisten, zumal der deutschen, enthüllt: Europas demokratische Strukturen lassen sich nicht auf die supranationale Ebene anheben und von oben praktizieren. Weder kann man die europäischen Völker dem Diktat eines Brüsseler Politbüros ausliefern und gleichzeitig behaupten, zu Hause in den nationalen Parlamenten herrsche nach wie vor Demokratie. Noch kann man Europa wirtschafts- und währungspolitisch globalisieren (denn was anderes sind gemeinsamer Markt und gemeinsame Währung als eine Globalisierung nach innen?) und gleichzeitig vorgeben, der nationale Sozialstaat bliebe davon unberührt und wie bisher intakt. Letzteres ist der besondere Selbstbetrug der europäischen und insonderheit deutschen Linken, die zwar ständig das Soziale in und an der Marktwirtschaft einfordert, aber nicht begreift, wodurch es abhanden kommt: den durch keine Wettbewerbsaufsicht, Niederlassungskontrollen, Währungsmechanismen oder soziale Schutzvorschriften kontrollierten, buchstäblich grenzenlosen Markt zwischen Atlantik und russisch-ukrainischer Grenze. Frankreichs neuer Staatspräsident Nicolas Sarkozy hat es mit erfrischender Klarheit auf den Punkt gebracht: Wettbewerb ja, aber ohne soziales Attribut, hart und, wo nicht vermeidbar, unfair. Er dürfte sich noch wundern, was er damit zu Hause erntet. Polens vielbelächelte Regierungszwillinge und Großbritanniens inzwischen ausgeschiedener Premier Tony Blair teilen sich das Verdienst, diesem Europa die Grenzen und das Ende der Machbarkeit aufgezeigt zu haben. Die Zwillinge aus Polen waren eben doch die besseren Rechner. Sie addierten 2 plus 2 und zeigten, daß das Europa der neuen Mehrheitsentscheidungsformel (55 Prozent der Staaten, 65 Prozent der Bevölkerung) nichts weiter ist als die Herrschaft der Gründungsmitglieder der EU über den Rest Europas. Deutschland, Frankreich, Benelux, Italien plus des einen oder anderen käuflichen Satelliten könnten mit ihrer Bevölkerungszahl jeden ihnen nicht genehmen Beschluß blockieren und jeden eigenen durchsetzen. Alle deutschen Regierungen von Kohl bis Merkel haben in geradezu staatsverräterischem Eifer Deutschlands vitale Interessen auf Europa übertragen, das deutsche Regierungsinstrumentarium systematisch demoliert und handlungsunfähig gemacht. Blair wiederum hat die unverrückbare Position seines Landes noch einmal festgeschrieben: Großbritannien, ob von Labour oder den Konservativen regiert, akzeptiert ein wirtschaftlich, aber kein politisch geeintes Europa, auf keinen Fall den allen deutschen Regierungen seit Konrad Adenauer vorschwebenden Superstaat Europa. Manövriert sich Großbritannien damit ins weltpolitische Aus, zwischen die alten Blöcke USA und Kontinentaleuropa und die neuen, die sich im Osten Europas und im fernen Asien abzeichnen, wie ein sich zur Kassandra aufplusternder deutscher Ex-Außenminister dazu meinte? Mitnichten. Gerade die mit der Globalisierung heraufziehenden Gefahren für den inneren Wohlstand und die soziale Stabilität der Nationen verstärken die Aufgaben und Verantwortung der Staaten. Sie sind es, die gegen die weltweiten Exzesse einer entfesselten und instabilen Marktgesellschaft neu aktiviert und zur Zusammenarbeit formiert werden müssen. Die Zukunft der Weltgesellschaft gehört nicht den freien und selbstzerstörerischen Marktkräften, sondern der Kooperation von Nationen, die die Gesetze ihrer inneren Entwicklung mit dem Ausmaß der damit einhergehenden Öffnung nach außen sorgfältig abwägen und austarieren müssen – nach der Formel: soviel Weltmarkt wie mit ihrem innerem Fortschritt und ihrer inneren Stabilität vereinbar. Als Konrad Adenauer zusammen mit den Paneuropäern aus Frankreich, Benelux und Italien die europäische Idee zur Staatsräson erhob, waren beide Seiten alles andere als blauäugig. Deutschlands Nachbarn ging es um die Eingrenzung einer abermals drohenden deutschen Supermacht, ein Argwohn, zu dem das unvermutete Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit allen Anlaß bot. Für Adenauer war die Einbindung Deutschlands der Preis für die Rückgewinnung der Souveränität. Als Ludwig Erhard die von Adenauer und de Gaulle aus der Taufe gehobene Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), den Nukleus der heutigen EU, unverhohlen als Fremdkörper seiner weltoffenen sozialen Marktwirtschaft kritisierte und offen bekämpfte, sorgte Adenauer dafür, daß ihm die CDU und die deutsche Wirtschaft die Gefolgschaft versagten. Um so unverständlicher muß es im Rückblick erscheinen, daß die nach einem Vierteljahrhundert CDU-Herrschaft an die Regierung gelangten Linken trotz FDP-Beteiligung nicht den Kurs Erhards fortsetzten, sondern zur alten Adenauer-Linie zurückkehrten, obwohl deren Geschäftsgrundlage längst entfallen war. Inzwischen war die Bundesrepublik souverän geworden und die EWG nach Kräften bemüht, von einer europäischen Nebenregierung zur Superregierung aufzusteigen. Seitdem haben alle deutschen Regierungen von Kohl bis Merkel – gleichviel wie zusammengesetzt: schwarz-gelb, rot-grün oder schwarz-rot – in geradezu staatsverräterischem Eifer Deutschlands vitale Interessen auf Europa übertragen und das deutsche Regierungsinstrumentarium systematisch demoliert. Sie haben den eigenen Staat handlungsunfähig gemacht, ohne daß er durch Brüssel ersetzt werden konnte. Und das Ausland, einschließlich des europäischen? Es fragt sich irritiert: Wo liegt das Motiv für diesen Staatsabbau zugunsten eines Europa, das ihn nicht kompensieren kann? Mittlerweile argwöhnen gebildete Europäer, Deutschlands politische Klasse wolle sein vor 200 Jahren definitiv untergegangenes Heiliges Römisches Reich über Europa neu errichten, den alten Kaiser Rotbart aus dem Dunkel seines Verlieses im Kyffhäuser heim ins Europäische Reich Deutscher Nation zurückholen, so etwa – bar jeder Ironie – der britische Konservative und Parlamentarier Bill Cash von der European Foundation, einem der angesehensten think tanks Großbritanniens. Wäre dem doch so. Doch die Antwort ist trivialer und deprimierender. Deutschlands Linke sieht ihren Antifaschismus darin begründet, Deutschland als potentiellen Machtstaat im Friedensreich der EU aufzulösen, wie „ein Stück Zucker im Glas Tee“ (Karl Schiller). Was ein Denker wie Jürgen Habermas seit Jahrzehnten vorschwadroniert, versuchte sein Schüler Joschka Fischer in Realpolitik umzusetzen. Wäre Fischers Vorgänger Hans-Dietrich Genscher auch nur annähernd so redegewandt gewesen wie sein Nachfolger ohne akademischen Grad und gute Manieren, er hätte dessen Europa-Laudatio vor der Humboldt-Universität ebenfalls halten können. Und die deutsche Wirtschaft? Sie begriff schon zur Adenauer-Zeit, daß sich mit devoter Europa-Politik die besten Geschäfte machen lassen. Nicht die Welt, wie Erhard unterstellte, ist ihr attraktivster Markt, sondern der vor der europäischen Haustür. Inzwischen absorbiert die EU zwei Drittel aller deutschen Exporte und finanziert sie durch jene Euro-Überschüsse, die die Europäische Zentralbank über ihr Euro-Clearing den Defizitländern der Währungsunion permanent rückerstattet, damit sie in Deutschland einkaufen können. Es ist das perfekte Recycling, das die deutschen Überschüsse hoch hält und die Schulden der Abnehmerländer in immer lichtere Höhen treibt – es fragt sich nur, wie lange das gutgeht! Es ist die linke Europa-Demut, die bis heute dem rechten Kommerz die besten Geschäfte in und mit Europa erlaubt. Sie ist es, die den „Neoliberalismus“ züchtet, den die Linke dann mit billiger Polemik rhetorisch bekämpft. Die Neoliberalen nehmen dankbar an, was ihnen ihre Gegner frei Haus liefern. Kein Sozialstaat läßt sich am Leben erhalten und finanzieren, wenn europa-offene Güter, Kapital und Arbeitsmärkte laufend für genügend Kapitalverlagerung, Lohndruck und neue Arbeitslose sorgen. Entweder sind Lafontaine, Gysi und Co. ökonomische Ignoranten oder politische Scharlatane, wenn sie diese Ursache der deutschen Sozialmisere permanent verdrängen und mit den Genossen rechts von ihnen in das gleiche Europa-Horn blasen. Sarkozys Vision einer EU des ökonomischen Faustrechts wird, wenn erst wieder die Autos in den banlieues brennen, auch dem Uneinsichtigsten die Augen öffnen: Europa braucht nicht den Superstaat, sondern eine Allianz von sozial befriedeten
Demokratien. Mit Europa im Rücken und als hehres Ziel vor Augen kann die Arbeitgeberseite jeden Arbeitskampf gewinnen, selbst wenn es – ein Novum in der Geschichte der Arbeiterbewegung! – darum geht, eine Lohnkürzung festzuschreiben, wie es kürzlich bei der Telekom geschah. Waterloo II könnte das Ende dieses Europa bringen. Großbritannien ist mit Sicherheit nicht mit von der Partie, Polen nicht bereit, die Herrschaftsformel der westlichen EU-Staaten einschließlich Deutschlands zu akzeptieren – denn ein Wiederaufleben der Mehrheitsbeschluß-Formel in sieben bis zehn Jahren kann man getrost als vom Winde verweht betrachten. Den größten, wenn auch unfreiwilligen Beitrag zur unumgänglichen EU-Umwandlung dürfte jedoch Frankreichs neuer und reaktionärer Staatspräsident leisten. Seine Vision einer EU des ökonomischen Faustrechts wird, wenn erst wieder die Autos in den banlieues brennen, auch dem uneinsichtigsten Rechten wie Linken die Augen öffnen: Europa braucht nicht den Superstaat, sondern eine Allianz seiner im Inneren sozial befriedeten und stabilen Demokratien, seiner konstitutionellen Rechts- und Sozialstaaten. Es wäre ein Treppenwitz der Weltgeschichte, ein miserabler, wenn ausgerechnet in der Wiege der Demokratie, nämlich Europa, deren größte Errungenschaft des Rechts- und Sozialstaats wieder zu Grabe getragen würde. Um in der Welt mit einer Stimme zu sprechen, braucht Europa keinen überstaatlichen Außenminister, sondern effiziente Diplomatie; sie hat es im IT-Zeitalter leichter, geräuschlos zu arbeiten als zur Zeit der Postpferde und reitenden Boten. Mammut-Konferenzen mit Theatereffekten sind das Überflüssigste von der Welt. Um im wirtschaftlichen Wettbewerb der Nationen mitzuhalten, sind Kreativität, Innovation, Produktivität und offene, aber regulierbare Märkte gefragt, nicht sterile wirtschaftliche Machtblöcke. Ihr Einfluß verliert sich, wenn ihre innere Ordnung zerbricht. World players, gleichviel ob aus den USA oder China, lassen sich nur dann zügeln, wenn ihre Geschäftssitz- und Vermarktungsstaaten auf direktem Wege zusammenarbeiten; die Übertragung originär staatlicher Befugnisse auf überstaatliche Mediatoren ist nur geeignet, die Dinge intransparenter zu machen und neue Schlupflöcher zu öffnen. Und jeder Staat stellt das Vertrauen in die Stabilität seiner Währung dauerhafter und nachhaltiger her, wenn er sie selber am Markt testen läßt und nicht mit anderen Inflationssündern zusammenwirft, wie es laufend beim Euro geschieht. Je eher sich Europa nach den Verirrungen in falsches Blockdenken und machiavellistisches Übervorteilen von Staat zu Staat auf seine bewährten Staatstraditionen besinnt, desto schneller kann aus der EU werden, was sie von Beginn an hätte sein sollen: ein Commonwealth nachbarschaftlich und traditionell verbundener Nationen mit gemeinsamen Zielen, deren dafür geschaffene gemeinsame Apparate jedoch kein Eigenleben für sich beanspruchen, ein Europa, das keinen Befehlen eines übergeordneten und undemokratischen Politbüros gehorcht. Der Offenbarungseid des Brüsseler Gipfels vom 20./21. Juni 2007 könnte der Auftakt zu diesem Europäischen Völkerbund gewesen sein. Prof. Dr. Wilhelm Hankel war Direktor der Kreditanstalt für Wiederaufbau und Ministerialdirektor unter Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD). Seit 1967 lehrt er Währungspolitik an der Universität Frankfurt am Main. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt „Wirtschaft ist immer politisch“ (JF 7/07).