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Das Verhängnis des Liberalismus

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Seine 1852 veröffentlichte Schrift „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ läßt Karl Marx mit den Worten beginnen: „Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ Ein Trauerspiel ganz besonderer Art, das bis heute andauert, ging im 20. Jahrhundert in Deutschland über die Bühne: Sowohl nach der Niederlage von 1918 als auch nach der Katastrophe von 1945 schickte sich der westliche Liberalismus an, die Deutschen – besonders Intellektuelle und Politiker – für sich einzunehmen. Während der erste Anlauf am NS-Regime scheiterte, das sich indes bald als verbrecherisches System entpuppte, gelang dem Liberalismus beim zweiten Versuch ein derart durchschlagender Erfolg, daß manche Historiker im zweimal besiegten Land glauben, nunmehr sei das Endziel, das telos der deutschen Geschichte erreicht – so der SPD-nahe Heinrich August Winkler in seinem im Jahr 2000 erschienenen Hauptwerk „Der lange Weg nach Westen“. Schon Ende des 19. Jahrhunderts war den Deutschen, freilich nicht ohne Hintersinn, eingeredet worden, politisch befänden sie sich auf einem „Sonderweg“, den sie um des Fortschritts willen verlassen müßten. Intellektuelle wie Heinrich Mann betätigten sich damals als Lautverstärker der vornehmlich aus Großbritannien und Frankreich herüberdringenden Parolen des so demokratisch und so menschheitsfreundlich anmutenden Liberalismus. Tatsächlich jedoch stand das wilhelminische Deutschland seinerzeit unter allen Staaten an der Spitze des Fortschritts – und das nicht nur im Militärischen, sondern auch in Wirtschaft und Technik, in Wissenschaft und Kultur. Noch 1981 geriet selbst Sebastian Haffner ins Schwärmen: „Es muß damals Spaß gemacht haben, ein Deutscher zu sein. Noch heute, gerade heute, hat die Erinnerung an die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, als das deutsche Leben immer weiter und breiter zu werden schien, etwas Hinreißendes, etwas von Poesie.“ Daß es bei den Einreden aus dem Westen in Wahrheit um die Zerschlagung dieser Machtstellung des erst 1871 gegründeten Reiches ging und keineswegs um Fürsorge wegen eines angeblich fortschrittfeindlichen „Sonderwegs“ – schließlich ist noch jedes Volk in der Geschichte seinen eigenen Weg gegangen -, sollten die Deutschen bald nach ihrer Niederlage erfahren, als ihnen die Entente-Mächte die Rechnung präsentierten: Statt des von US-Präsident Wilson versprochenen Friedens „ohne Annexionen und Kontributionen“, statt Völkerverständigung und nationaler Selbstbestimmung wurde ihnen ein moralisch und materiell demütigendes Diktat auferlegt, das einhellig von rechts bis links abgelehnt wurde – als „Schandvertrag von Versailles“, der wie eine verkappte Kriegserklärung bereits den Keim zum nächsten Weltkrieg in sich trug. Da das Denken der Deutschen ganz offensichtlich nicht so wendig und flexibel wie das der Franzosen und nicht so pragmatisch und utilitaristisch wie das der Angelsachsen ist, hatten sie damals für bare Münze genommen, was nur als Rauchvorhang für den je eigenen Vorteil diente. Diese Gutgläubigkeit und Treuherzigkeit charakterisiert die Deutschen bis heute: Politische Angelegenheiten geraten bei ihnen daher sehr rasch ins Grundsätzliche, ins rigoros Moralische, ja ins Wahrhaftige – obwohl es in der Politik nicht um Wahrheit geht, sondern um die Kriterien von richtig und falsch bezüglich der nationalen Interessen. Ein Trauerspiel ging im 20. Jahrhundert über die Bühne: Sowohl nach der Niederlage von 1918 als auch nach der Katastrophe von 1945 schickte sich der westliche Liberalismus an, die Deutschen – besonders Intellektuelle und Politiker – für sich einzunehmen. Nach dem Ersten Weltkrieg waren es vornehmlich Konservative, die die liberale Rhetorik durchschauten. Einer ihrer klügsten Köpfe war Arthur Moeller van den Bruck (1876-1925). In seinem 1923 erschienenen Buch „Das dritte Reich“ (Nachdruck 2006) schrieb er: „Im Westen überall in den Ländern, wo eine abgefeimte Vernunft mit politischen Begriffen ihre Geschäfte macht, kam man sehr bald dahinter, daß es vorteilhaft sein mag, von Menschenrechten, von Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit zu sprechen, aber gefährlich, nach ihnen zu handeln. Man ging eilends dazu über, einen doppelten Gebrauch der Vernunft einzuführen, der sich in der Anwendung je nachdem änderte, ob es um einen eigenen Vorteil ging oder um einen fremden. In Deutschland fiel man auf diesen Trick gründlich herein. So haben wir vor dem Krieg die Dummheit begangen, die wir für eine höchste Klugheit hielten, ernsthaft an eine ‚Weltpolitik ohne Krieg‘ zu glauben.“ Nach dem „zweiten Dreißigjährigen Krieg“ gegen Deutschland, wie Winston S. Churchill die Jahre von 1914 bis 1945 genannt hat, wiederholte sich die politische Naivität der Deutschen. Jetzt glaubten (und glauben) ihre Repräsentanten an die europäische Idee einer postnationalen, multireligiösen und multiethnischen Willensgemeinschaft. Am liebsten wäre es ihnen, Deutschland könnte – aus Gründen historischer Schuld, die unbestritten, mittlerweile aber zu einer Art Zivilreligion überhöht worden ist – gemeinsam mit seinen Nachbarn in „Europa“ aufgehen und damit als mißratene Nation aus der Geschichte verschwinden. Für diese Vision haben sie sogar die eigene Währungshoheit geopfert. Doch immer wieder müssen sie zur Kenntnis nehmen, daß selbstbewußte Nationen wie Frankreich und Großbritannien, Dänemark und Polen nicht im Traum daran denken, ihre Souveränität für unpolitische Schwärmereien aufzugeben. Im übrigen zielten bisher sowohl Frankreichs anarchisierende Interventionspolitik (Ludwig XIV., Napoleon) als auch die ebenfalls anarchisierende Gleichgewichtspolitik Großbritanniens stets darauf ab, zu verhindern, daß sich Deutschland in Mitteleuropa zu einer dominierenden, also zentralistischen Macht entwickelt; an dieser Interessenlage hat sich bis heute nichts geändert. Wie sehr der westliche Liberalismus mit moralischen Doppelstandards mißt, hätte der deutschen Politikerklasse freilich schon in den fünfziger und sechziger Jahren auffallen müssen. Bis dahin nämlich waren Frankreich und Großbritannien ungeachtet aller Menschenrechts-Rhetorik Kolonialmächte gewesen, die nun nach Jahrzehnten der Ausbeutung und Unterdrückung notgedrungen von ihren Reichen Abschied nahmen. Und auch die USA schickten sich erst zu jener Zeit an, zumindest formal die Rassendiskriminierung im eigenen Land zu beseitigen. Doch damals war Deutschland-West ein Vasallenstaat, der sich nur zu willig und kritiklos in seine Unmündigkeit fügte. Und heute? Heute spielen deutsche Politiker das doppelzüngige Spiel mit, indem sie auf der Weltbühne als Teil der „internationalen Staatengemeinschaft“ (in Wahrheit kaum mehr als zwei Dutzend westlicher Länder) agieren und glauben, andere Völker Moral lehren zu müssen. Besonders im Nahost-Konflikt kann man sehen, wie gänzlich ungeniert mit gezinkten Karten operiert wird: Palästinensischer Terror wird verurteilt, israelischer Staatsterror verharmlost oder verschwiegen; als im Januar 2006 die islamistische Hamas die von internationalen Beobachtern überwachten Wahlen mit absoluter Mehrheit gewann, erteilten ihr USA und EU eine Lektion in Sachen Demokratie – sie boykottierten die demokratisch gewählte Regierung, weil sie nicht ihren politischen Vorstellungen entsprach. Dieses Messen mit zweierlei Maß, das sich auch in anderen Weltgegenden beobachten läßt – so im Verhältnis zu Rußland, China und Iran -, hat den Westen mit seinen hehren Idealen längst unglaubwürdig gemacht. Wäre es nicht so ernst, könnte man es tragikomisch nennen, wie sich deutsche Politiker – im Glauben, endlich auf der „richtigen Seite“ zu stehen – immer tiefer in äußerst fragwürdige Aktionen verstricken lassen. So nahmen sie 1999 aus blindem Bündnisgehorsam an einem Krieg gegen Serbien teil, der der Uno-Charta, dem Nato-Vertrag und dem eigenen Grundgesetz widersprach. Auch die Ausweitung des Krieges in Afghanistan ist längst nicht mehr durch das Völkerrecht gedeckt. Daß der Hauptbündnispartner in seiner Sicherheitsdoktrin inzwischen sogar Angriffs- und Präventivkriege als sein gutes nationales Recht reklamiert, müßte gerade in Deutschland als Hohn auf die Nürnberger Prozesse empfunden werden. Ließe sich den deutschen Politikern noch zugute halten, auf globaler Bühne fielen sie hinsichtlich der Absichten ihrer westlichen Partner nur zu oft der eigenen Gutgläubigkeit und Treuherzigkeit, also der Schwäche ihres Nationalcharakters, zum Opfer, so kann dies auf keinen Fall für die Innenpolitik gelten. Hier zeichnen sich seit langem, verstärkt durch die 68er-Revolution, die verheerenden Konsequenzen eines Liberalismus ab, der durchaus absichtsvoll ins Werk gesetzt worden ist. Bereits vor 85 Jahren hatte Moeller van den Bruck darauf aufmerksam gemacht, daß Liberalismus keineswegs an jene Partei gebunden ist, die ihn im Namen führt, sondern längst in allen Parteien und Organisationen, ja selbst in Gewerkschaften und Kirchen Einzug gehalten hat. „An Liberalismus“, so Moellers Diktum, „gehen die Völker zugrunde. Der Liberalismus behauptet, daß er alles, was er tut, für das Volk tut. Aber gerade er schaltet das Volk aus und setzt ein Ich an die Stelle. Der Liberalismus ist der Ausdruck einer Gesellschaft, die nicht mehr Gemeinschaft ist.“ Durch liberales Denken sei das Individuum aus allen Bindungen gelöst worden; aus dem Staat habe es die Interessengemeinschaft eines Regierungsklüngels gemacht, der sich opportunistisch nur noch nach der „Auguren-Weisheit“ (sprich: nach demoskopischen Vorgaben) richte. Wer will es Ex-Kanzler Gerhard Schröder verübeln, wenn er der Meinung ist, in einer derart verfaßten Massendemokratie benötige man für die Außendarstellung der Politik lediglich „Bild, BamS und Glotze“? Die Utopie des Liberalismus ist das selbstbestimmte, autonome Individuum, das sich – losgelöst von jedweder Bindung an Volk, Nation oder Staat – in einer Welt ohne Grenzen bewegt. Als Kosmopolit, aufgeklärt und vorurteilslos, genießt dieses Individuum sein Leben gemäß der hedonistischen Trias: „Ich – alles – sofort!“ Wirtschaftlich konkurriert der liberale Kosmopolit in freiem Handel mit seinesgleichen, wobei die „unsichtbare Hand“ des Marktes gegensätzliche Interessen ausbalanciert. Soweit, wenn auch überzeichnend, die Utopie. Die Utopie des Liberalismus ist das selbstbestimmte, autonome Individuum, das sich in einer Welt ohne Grenzen bewegt. Als Kosmopolit, aufgeklärt und vorurteilslos, genießt dieses Individuum sein Leben gemäß der hedonistischen Trias: „Ich – alles – sofort!“ Die Wirklichkeit sieht anders aus: So wie es „die Menschheit“ nur als abstrakten Gattungsbegriff gibt, der sich erst durch die in Staaten organisierte Vielzahl der Völker und Nationen konkretisiert, so gibt es „die Weltwirtschaft“ nur als Konzert verschieden starker, miteinander im Wettbewerb stehender Volkswirtschaften. Ein autonomes, freies Individuum existiert somit nur in der Vorstellungswelt des Liberalismus; vielmehr ist jenes Individuum, wie jeder Mensch, eingebunden in Volk, Nation und Staat. Moeller van den Bruck konnte daher 1923 mit Gültigkeit bis heute konstatieren: „Stets sucht der liberale Mensch durch Allgemeinbegriffe den Blick von seinem Ich abzulenken, das sich den Liberalismus geschaffen hat, um auch eine Philosophie zu haben. Der konservative Mensch durchschaut diesen Schwindel. Der liberale Mensch muß sich von ihm sagen lassen, daß er in allem, was er individuell unternimmt, von den Lebensbedingungen einer Gemeinschaft abhängig ist, die er vorfindet. Er muß sich von ihm sagen lassen, daß er, der sich über alle Bindungen hinwegsetzen möchte, immer nur genießt, was andere ihm zubereitet haben. Er muß sich sagen lassen, daß der Liberalismus das Nutznießertum eines Konservatismus ist, der vorherging.“ Daß die Säure des Liberalismus ihre zersetzende Wirkung längst auch bei den ehemaligen Siegermächten zeigt, ist kein Trost. Der rapide Kultur- und Werteverfall hat die Völker des Westens zu einem Zeitpunkt erfaßt, da die islamische Herausforderung immer bedrohlicher wird. Doch ausgerechnet der Staat, jene Institution, die im Wandel der Zeit eine verläßliche Bastion sein sollte, muß sich in Europa eines Zangengriffs erwehren: Einerseits machen die EU-Institutionen dem Nationalstaat immer mehr Hoheitsrechte streitig; andererseits sieht er sich ständigen Attacken des Liberalismus ausgesetzt, für dessen Vertreter der Staat als organisierter Macht- und Allgemeinwille den größten natürlichen Feind darstellt, der daher auch durch Privatisierungen im Infrastruktur-Bereich geschwächt werden soll. Ferner haben sich Nichtregierungsorganisationen wie Greenpeace und die linksliberale Presse, die ihr „demokratisches Wächteramt“ oft genug überstrapaziert, in einer Art Selbstlegitimierung quasi-staatliche Rollen angemaßt. Ob für die Konservativen der Kampf schon verloren ist, bleibt einstweilen offen. Hoffnung könnte aus Frankreich kommen: Im Wahlkampf hatte der jetzige Präsident Nicolas Sarkozy zum Entsetzen aller Linken und Liberalen für den Fall seines Sieges die Einrichtung eines Ministeriums für Immigration und nationale Identität angekündigt und mit den „Erben des Mai 1968“ abgerechnet. Ihnen sei es darum gegangen, alle Werte sowie jede Autorität und Hierarchie zu zerstören: „Sie wollten glauben machen, daß Schüler und Lehrer gleichwertig seien, daß es keine Noten geben dürfte, um schlechte Schüler nicht zu traumatisieren“; im Strafrecht würden für sie die Opfer weniger zahlen als die Täter. Vielleicht gelingt ja Sarkozy jene „geistig-moralische Wende“, die Helmut Kohls CDU 1982 versprochen, aber nie verwirklicht hat und die Merkels CDU nicht einmal mehr in Erwägung zieht, da in ihr der Liberalismus auch die letzten Reste konservativen Denkens beseitigt hat. Peter Kuntze war von 1968 bis 1997 Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt „Den Konservatismus erneuern“ (JF 19/07).

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