Befaßt man sich mit der Tradition der deutschen Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, so stößt man immer wieder auf enge Verflechtungen dieser Disziplin mit dem gesellschaftlich-politischen Wandel in Deutschland. In den Gründungsjahren hatten noch vorwiegend konservativ eingestellte Historiker wie Hermann Aubin, Hans Herzfeld, Karl Gottfried Hugelmann, Gerhard Ritter oder Hans Rothfels das Wort, deren Ziel es war, politische und historische Traditionen und Wertbegriffe ins Gedächtnis zurückzurufen, um so zu einem psychisch-moralischen Wiederaufbau der geschlagenen Nation beizutragen. Dabei wurde an die Staatstraditionen der Bismarckzeit erinnert mit der Intention, diese von der vergangenen Gewaltherrschaft abzuheben. So hatte die Geschichtsschreibung im westdeutschen Teilstaat zwar noch eine nationalgeschichtliche Perspektive, diese war aber bestimmt von einer apologetischen Grundhaltung, die den Despotismus des Dritten Reiches als Anomalie ausklammerte. Geschichtsschreibung war hier ein Bestreben zur Vergewisserung über den allgemeinen Grund in Geschichte, Kultur und Bildung. Indes hatte die Niederlage von 1945 offensichtlich gemacht, daß die deutsche Geschichte keinem sinnerfüllten Prozeß folgt und auch keine orientierungstiftende Kontinuität hat. Deprimiert klagte Hermann Heipel 1953, Deutschland sei „jener Sicherheit über seine Tradition beraubt, die ein wollendes Volk braucht, um zu einer Übereinkunft über die eigene Geschichte zu gelangen.“ Die retrospektive Traditionsbewahrung, um die sich die ältere Historikergeneration bemühte, war angesichts des tiefen Bruchs mit vertrauten Denktraditionen schwierig geworden. So wurde die herkömmliche Nationalgeschichtsschreibung mit ihrer oft ästhetisierenden Kausalnarration der großen Ereignisse und Gestalten immer mehr in Frage gestellt, und das entmutigte Bürgertum identifizierte sich alsbald mit dem schnell prosperierenden Industriestaat Bundesrepublik. Desillusioniert schrieb Theodor Schieder 1959 in der Historischen Zeitschrift: „Tiefe Geschichtsmüdigkeit hatte die meisten ergriffen, und das Band zwischen Nationalpolitik und Geschichte war zerrissen, seitdem die hohen Begriffe der klassischen Historie: Nation, Staat und Vaterland ausgeplündert und ausgebrannt auf dem allgemeinen Trümmerfeld des Krieges lagen.“ Unter diesen Umständen wurden die Weichen für eine geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit neu gestellt. An Bedeutung gewann nun eine Historiographie, die sozialgeschichtliche Faktoren stärker in den Vordergrund stellte. Federführend war Werner Conze, der von Max Weber und dessen Studien zum Parteien- und Verbändewesen und zu wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Fragen inspiriert war. Für den beabsichtigten Aufbau einer demokratischen Gesellschaft war die historisch-existentialistische Soziologie der Schule Webers freilich wenig geeignet. Seit Beginn der fünfziger Jahre konnte sich so die „Kritische Theorie“ Max Horkheimers und Theodor Adornos Geltung verschaffen. Sozialwissenschaft stand hier in unmittelbarem Zusammenhang mit der sogenannten Vergangenheitsbewältigung und der geplanten Demokratisierung Deutschlands und stellte auch die Frage nach dem Fehlverhalten, dem Versagen, der Verantwortlichkeit und totalitären Anfälligkeit einzelner Gruppen. Mit der Reduktion der Politischen Wissenschaften auf komparatistische Systemfragen wird gerade das ausgeblendet und tabuisiert, was man als die unverwechselbare historische Identität einer Nation bezeichnen könnte. Parallel dazu verlief der Aufbau der Politikwissenschaften, die unter der Ägide der US-Administration als Universitätsdisziplin im Westen Deutschlands neu eingerichtet wurden. Die damit verbundene Intention war, die geistigen Fundamente für eine dauerhafte demokratische Ordnung zu schaffen und so in Deutschland einen Zivilisationsprozeß nach westlichem Vorbild einzuleiten. Die Politikwissenschaften nun richten ihr Augenmerk auf den verfaßten Staat, was sich schon daran zeigt, daß Begriffe wie „freiheitlich-demokratische Grundordnung“, „westliche Demokratie“, „freiheitlicher Rechtsstaat“, „Verfassungspatriotismus“ usw. Zustände und Funktionsweisen beschreiben, aber nichts aussagen über die Nation als Subjekt, ihren ontologischen und geschichtlichen Grund und Bestand. Politologischen Formeln fehlt es somit an Anschaulichkeit, geschichtlicher Tiefendimension, an historisch-emotionalem Bezug und an sinnlichem Reiz. Die Dürre solcher Ansatzpunkte läßt offensichtlich werden, daß unsere Zeit keine geschichtliche Imagination hat. Schon José Ortega y Gasset hat solche Erfahrungen gemacht und enttäuscht geschrieben, Epochen ohne Sinn fürs Historische seien die „Zeitalter der Agora, des Marktplatzes, der Akademien und Parlamente, in welchen der Mensch von den unbestimmten Vorstellungen ausgeht, daß die Gesetze seines Kirchensprengels die Welt beherrschen und sein kleiner Verstand alles entscheidet, ohne irgendwo Nebel und Geheimnisse übrigzulassen. Zweifellos sind es Epochen der Klarheit, aber sie sind ärmlich und saftlos“. Mit der Reduktion der Politischen Wissenschaften auf komparatistische Systemfragen wird aber gerade das ausgeblendet und tabuisiert, was man als die unverwechselbare historische Identität einer Nation bezeichnen könnte. Ausgegangen wird von dem abstrakten Begriff der „Menschheit“. Hans-Joachim Arndt schrieb 1978: „Innerhalb dieser Menschheit verfassen sich Sub-Gruppen zu jeweiligen Einheiten, zwischen denen dann aber keine ’substantiellen‘ Unterschiede bestehen, sondern eben nur konstitutionelle. Hier wird tatsächlich die Konstitution zum alleinigen politischen Unterscheidungskriterium, aber solche Lehren vermögen dann nicht mehr anzugeben, warum Konflikte zwischen derart nur durch Verfassung definierten Einheiten letal werden können!“ Wo die Menschheit als in konstitutionelle Gruppen zergliedert und die Geschichte als ein zivilisatorischer Gesellschaftsprozeß wahrgenommen wird, vollzieht sich ein Nivellierungsprozeß, der alle ideellen und historischen, also substantiellen Gehalte unter Nichtachtung der konkreten geschichtlichen Identität liquidiert. Wo der geschichtliche Prozeß einer moralisierenden Beurteilung durch die Gegenwart unterworfen wird, kann die Nationalgeschichte der Deutschen – aber auch die jedes anderen Landes oder Volkes – nur als reaktionär oder entwicklungshemmend beschrieben werden. Zum Beispiel dann, wenn man meint feststellen zu müssen, daß die deutsche Geschichte erst mit Verspätung in der Moderne angekommen ist und ihr eine bürgerliche Revolution nach englischem oder französischem Vorbild fehlt – gerade so, als ob es historische Sollzustände gäbe und nicht jedes Land seine eigene, originäre Geschichte hat. Eine solche ideologische Fixierung übersieht, daß sich Geschichte nicht in geradlinigen Fortsetzungen und simplen Parallelitäten erschöpft und daß es keine abstrakten Regularien gibt. Das Bestreben, Geschichte nach Regelmechanismen und mit Hilfe von Strukturen zu beschreiben, ist in der Soziologie und in der Sozialgeschichtsschreibung besonders stark ausgeprägt, zumal diese mit der Verortung des Menschen in der Arbeits- und Konsumwelt nur die funktionale Bedeutung des Individuums in den jeweiligen Netzwerken in den Blick nimmt. Der wissenschaftliche Zugriff richtet sich auf den Systemcharakter sozialer Verhältnisse und auf die sich laufend vollziehenden Umgruppierungen, auf eine funktionale Deutung der sich ständig wandelnden Routinen. Die Sozialwissenschaften haben, wie Panajotis Kondylis feststellt hat, die nationalgeschichtliche Denkfigur durch eine willkürlich-kombinatorische ersetzt. Max Weber hatte einst den großen Unterschied zwischen Soziologie und Geschichtswissenschaft darin gesehen, daß jene mit Hilfe von Abstraktionen und Generalisierungen zu Typisierungen, Begriffsbildungen und Regelmäßigkeiten gelangt und so das Prozedurenwerk des Gesellschaftlichen sichtbar werden läßt, während Geschichtswissenschaft das Besondere, Individuelle, die ingeniösen Energien, die gewachsenen Lebensverhältnisse mit ihren inneren Welten, ursprünglichen Kräften und Anlagen, die seelisch-geistigen Ausdrucksformen und ästhetischen Gestaltungen einer Lebensgemeinschaft oder Nation, ihre emotionale Sphäre, ihren Schatz von Ideen und den Symbolgehalt der Dinge beschreibt und schildert. Insofern schafft die Geschichtswissenschaft in einfühlender Betrachtung überhaupt erst ein Bewußtsein dafür, daß Geschichte ein komplexer, tief verwurzelter kultureller Prozeß ist, aus dem sich erst in langer Kontinuität ein sinnvolles Lebensganzes ergibt, das seine Begründung letztlich in sich selbst hat und daß der Fortbestand einer Nation und ihrer Kultur gerade von seltenen Leistungen, Qualitäten und Tugenden abhängt. In der Bundesrepublik wurde die Nationalgeschichtsschreibung im Meer der Vergessenheit ertränkt. Unter diesen Umständen macht sich hierzulande ein erschreckendes historisches Vakuum breit, bei dem große Bereiche der deutschen Geschichte gar nicht mehr wahrgenommen oder als irrelevant empfunden werden, oder man begegnet ihnen als einer „fremden“ Vergangenheit mit Desinteresse und Gleichgültigkeit. Das verwahrloste Geschichtsbewußtsein, das keine „Wir-Geschichte“ kennt, beklagte 1984 der Historiker Alfred Heuss: „Der heutige Deutsche ist dadurch charakterisiert, daß sich an dieser Stelle ein Vakuum befindet. Er kennt weder Überlieferung noch eine integrierende Kraft. Das ist die Situation seit 1945, genauer eine der Ungeheuerlichkeiten, welche sie charakterisieren.“ Generalisierende Systemtheorien abstrahieren von Ereignissen, Urquellen und Substanzen einer Kultur, von Dichtung, Kunst, Musik und Mythos, von all dem, was in der Synthese Identität begründet und eine Wertwelt schafft, die ergreift und motiviert. In jüngster Zeit hat Karl Heinz Bohrer den „vollkommenen Verlust jeder Erinnerung an eine national-orientierte kollektive Vergangenheit“ beklagt. Und Manfred Osten hat unlängst in der Beilage der Wochenzeitschrift Das Parlament von der „Liquidation der bürgerlichen Gedächtniskultur in der Folge der 68er Revolte“ gesprochen. Und so trifft auch das Wort von Botho Strauß in „Paare und Passanten“ zu: „Es gibt kein gemeinsames Erinnern.“ Geschichte ist hier nicht mehr kollektive Erinnerung, Begegnung und Dialog mit Gestalten, Landschaft, Kultur, mit Erfahrungen und Kenntnissen, mit Mentalitäten und einer reichen geistigen Welt. Für das, was den eigentlichen Umgang mit Geschichte ausmacht, nämlich an Lebenszusammenhängen teilzuhaben, ist man blind und empfindungslos. Zu solchen historischen Verfehlungen paßt die unbegreifliche Äußerung des emeritierten Heidelberger Politologen Klaus von Beyme, die Deutschen hätten sich nach dem Krieg „gesundgeschrumpft“. Zu den bündigen Formeln, die unbekümmert, aber konsequent von der Nationalgeschichte Abschied nehmen, gehört auch die am Ende der achtziger Jahre gemachte höhnische Bemerkung eines namhaften deutschen Politikers von der Wiedervereinigung als einer „Lebenslüge“ der Deutschen. Solches Versagen wiegt bei den Repräsentanten der politischen Klasse, die die besondere moralische und nationale Kompetenz zu eigenem Anspruch erhoben hat, um so schwerer, als sie nicht nur den gänzlichen Mangel an politischer Tapferkeit und die selbstgenügsame Befangenheit in den Irrtümern der vergangenen Jahre, sondern auch das völlige Vergessen nationaler Geschichte und Identität demonstrieren. Für den Denkenden hingegen ist die nationale Selbstaufgabe, die ja den Zustand der geschichtlichen Beliebigkeit sanktioniert, einigermaßen unbegreiflich. Der Altphilologe Wolfgang Schuler hat in den achtziger Jahren – im Hinblick auf die deutsche Teilung und die verlorenen Ostgebiete – sein Erstaunen über den Verlust von Identitätsbewußtsein ausgedrückt: „Wir sind anscheinend wirklich fähig, ganze Gliedmaßen unseres geschichtlichen Körpers von einem auf den anderen Tag abzustoßen und keinen Gedanken darauf mehr zu verschwenden.“ Zu diesem erstaunlichen Dispens gehört auch, daß die Vertreibung als Katastrophe der deutschen Geschichte keine nennenswerte Aufarbeitung in Literatur oder Kunst, in Theater oder Film gefunden hat. Die Politischen Wissenschaften richteten ihre Aufmerksamkeit auf ahistorische theoretische Konstruktionen, die Sozialgeschichtsschreibung auf die strukturellen Merkmale von wandelbaren Vergesellschaftungen, die bis in die Details analysiert und erfaßt werden. Aber all dies erklärt keine historische Verwurzelung, die erst die Ungleichartigkeit der Nationen verstehen ließe. Generalisierende Systemtheorien abstrahieren von Ereignissen, Urquellen und Substanzen einer Kultur, von Dichtung, Kunst, Musik und Mythos, von Geschichte als kollektiver Kontinuität und von gemeinschaftlicher historischer Erfahrung, von all dem, was in der Synthese Identität begründet und eine Wertwelt schafft, die ergreift und motiviert. Durch Sozialgeschichte und Politologie, die hierzulande zu Orthodoxie und Scholastik erstarrt sind, wurde Geschichte zergliedert und fragmentiert. Aber funktionale Abstraktion schafft keine Sinn- und Zukunftsperspektive. Man läßt die Nation vielmehr in Funktionen aufgehen. Die Realerfahrung ist nicht mehr am Erkenntnisprozeß beteiligt und die Selbstwahrnehmung einer nationalen Gemeinschaft verstellt. Die hilflos abgebrochene Debatte um die „Leitkultur“ hat das gezeigt. Hans-Georg Meier-Stein ist Verfasser eines Buches über „Die Reichsidee 1918-1945“ (San Casciano 1998). In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über Hans Carossa (JF 37/06). Foto: Peter Paul Rubens, Rückkehr der Bauern vom Feld, um 1637: Sozialgeschichte vermag die Urquellen einer Kultur nicht zu erfassen
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