Die Übernahme des Kommandos über die internationalen Truppen (Isaf) in Nord-Afghanistan durch die Bundeswehr fällt in eine Zeit, die durch eine deutliche Verschlechterung der Lage des Landes am Hindukusch gekennzeichnet ist. So warnte der US-Botschafter in Kabul vor den Gefahren der dortigen Mission und davor, daß nach dem Wiedererstarken der Taliban ein „blutiger Sommer“ zu erwarten sei. Wie viele Sommer dieser Art in Afghanistan noch ins Haus stehen, bis sich das Land wie erhofft „stabilisiert“ haben wird, steht in den Sternen. Geht es nach dem afghanischen Wirtschaftsminister Amin Farhang, dann bedarf es noch „mindestens 20 Jahren“. Mit anderen Worten: So lange könnte es bei der Präsenz internationaler Truppen in Afghanistan bleiben – und so lange könnten deutsche Bundeswehrsoldaten für eine verfehlte Politik möglicherweise ihren Kopf hinhalten. Ähnlich unberechenbar entwickelt sich die Dauer der internationalen Truppenpräsenz im Kosovo, zu deren Kfor-Kontingent 3.200 Bundeswehrsoldaten gehören. Und als wenn das alles nicht genug wäre, hat Berlin gerade entschieden, 780 deutsche Soldaten als Mitglieder einer EU-Truppe in den Kongo zu schicken. Bernhard Gertz, Vorsitzender des Bundeswehrverbandes, bezeichnete diesen Einsatz aufgrund seiner Fragwürdigkeit als „politisches Showbusiness auf Kosten der Soldaten“. Dergleichen „Showbusiness“ wächst sich in Afghanistan mehr und mehr zu einer „Mission impossible“ aus. Seit etwa Herbst 2005 deuten vermehrte Selbstmordanschläge in Afghanistan auf eine neue Taktik der Taliban hin. Erst letzte Woche kam es zu einem Selbstmordanschlag im Westen Afghanistans, wenige hundert Meter von einem Truppenlager von US-Soldaten, bei dem wohl mehr zufällig nur der Attentäter ums Leben kam. Gleichzeitig gab es die schwersten antiamerikanischen Demonstrationen in Kabul seit dem Sturz der Taliban Ende 2001. Auch wenn es noch zu früh ist, von einer „Irakisierung Afghanistans“ zu sprechen, ist die Gefahr groß, daß die Entwicklung in eine Richtung gehen könnte, wie sie im Irak Tagesordnung ist. In den ländlichen Gebieten des paschtunischen Südens haben die Taliban bereits die Oberhand gewonnen. Trotz internationaler Truppenpräsenz ist es ihnen gelungen, sich wiederzubewaffnen. Sie wissen, daß sie in einer offenen Feldschlacht chancenlos sind. Also arbeiten sie mit einer langfristigen Destabilisierungsstrategie, deren Ziel es ist, die Ent- und Geschlossenheit der Koalitionstruppen sukzessive zu erschüttern und irgendwann die Macht im Land an sich zu reißen. Den Taliban kommt dabei entgegen, daß die durch den Westen unterstützte Regierung Karsai, der Korruption und Günstlingswirtschaft vorgeworfen wird, inzwischen viel Kredit bei den Afghanen verspielt hat. Ein nicht geringer Teil der Afghanen hat sich längst abgewendet von Hamid Karsai, der als „Marionette“ der Amerikaner sowieso von Anfang an einen schweren Stand hatte. Und es gibt nicht wenige, die die Taliban mittlerweile für das kleinere Übel halten, weil diese wenigstens die Korruption gestoppt und für Recht und Ordnung gesorgt haben. Mit der relativen Ruhe, die derzeit noch im afghanischen Norden herrscht, wo etwa 2.850 Bundeswehrsoldaten stationiert sind, könnte es also bald vorbei sein. Aber nicht nur deshalb sehen die dortigen Bundeswehrangehörigen ungewissen Zeiten entgegen: Der Bundestag hat am 28. September 2005 nämlich nicht nur einer Verlängerung der Mission in Afghanistan um ein weiteres Jahr zugestimmt, sondern auch beschlossen, daß die Bundeswehrsoldaten ohne räumliche Beschränkung in Afghanistan eingesetzt werden können, also möglicherweise auch in Gebieten, in denen es zu direkten Kampfhandlungen mit den Taliban kommen könnte. Das bedeutet „nebenbei“ eine signifikante Veränderung des Mandats der Isaf, das einst auf „Friedenssicherung“ abzielte, nun aber auch – unausgesprochen – Kampfeinsätze nicht mehr ausschließt. Daß bei derartigen Einsätzen dann deutlich mehr deutsche Soldaten umkommen könnten als jene 18 Bundeswehrsoldaten, die bisher für die „deutschen Interessen am Hindukusch“ (Ex-Verteidigungsminister Peter Struck) ihr Leben lassen mußten, liegt auf der Hand. Sie wären Opfer eines Konflikts, dessen Ursachen bis in den Kalten Krieg zurückreichen. Zu erinnern ist daran, daß der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter im Juli 1979 eine Direktive zur Unterstützung der Gegner der prosowjetischen Regierung in Kabul unterzeichnete. Mit dieser Direktive sollte eine Intervention der Sowjets provoziert werden, denen man in Afghanistan eine Art „Vietnam“ bereiten wollte. In dem dann folgenden Kleinkrieg gegen die sowjetischen Besatzer wurden diejenigen, die heute von den Amerikanern als „Feinde Afghanistans“ oder „Terroristen“ bezeichnet werden, sprich: islamistische Fundamentalisten, von den Amerikanern zu „Freiheitskämpfern“ hochgeredet. Es waren also zuvorderst die Amerikaner, die dem Fundamentalismus in Gestalt der Taliban den Weg bereiteten und damit für die bis heute anhaltende Destabilisierung der Verhältnisse mitverantwortlich sind. Zbigniew Brzezinski, der als ehemaliger Sicherheitsberater der Regierung Carter maßgeblich an den damaligen Entscheidungen beteiligt war, verteidigt diese Politik auch heute noch: „Was ist für die Weltgeschichte wichtiger?“ fragte er kürzlich. „Die Taliban oder der Zusammenbruch des Sowjetimperiums?“ In Afghanistan gibt es also weder deutsche Interessen zu verteidigen, noch ist deutscherseits „Verantwortung“ zu übernehmen. Dies gilt erst recht, wenn man an die fehlende völkerrechtliche Legitimation der von den USA angeführten Kriege gegen Afghanistan und den Irak denkt. Diese Kriege wurden mit Berufung auf ein fragwürdiges Selbstverteidigungsrecht initiiert, das als strategische Option in der „National Security Strategy“ vom 17. September 2002 verankert ist. Hier wurde faktisch neues Recht gesetzt. Der Verteidigungsfall für die Bundeswehr ist im Grundgesetz eindeutig geregelt. Er ist dann gegeben, wenn ein Angriff auf das Bundesgebiet erfolgt. Im Rahmen der Nato-Verpflichtungen tritt der Verteidigungsfall dann ein, wenn ein Angriff auf einen Nato-Mitgliedstaat in Europa oder Nordamerika erfolgt. Von alledem kann mit Blick auf Afghanistan keine Rede sein. Die Bundesregierung ist daher aufgefordert, die Bundeswehrsoldaten in Afghanistan endlich nach Hause zu holen. Unsere Soldaten dürfen nicht länger als Ausputzer für die Kollateralschäden des amerikanischen Paninterventionismus mißbraucht werden.
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