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Der Mythos lebt

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Es ist phänomenal und erschütternd, welche Macht die Geschichtsmystik der radikalen Linken, im Kern der Kommunisten, nach wie vor hat. Es ist ein Irrtum, daß mit dem Mauerfall 1989 und dem Zusammenbruch des Ostblocks sich die Grabplatte über der dahingeschiedenen sozialistisch-kommunistischen Idee irreversibel geschlossen hätte. Wie quicklebendig diese Mythen sind, wird deutlich bei der Berichterstattung über die alljährliche Gedenkkundgebung der SED-PDS, heute Linkspartei, zur Erinnerung an die 1919 von Freikorpssoldaten ermordeten KPD-Führer Luxemburg und Liebknecht. Keine Zeitung sieht sich in der Lage, darauf hinzuweisen, daß es sich bei den KPD-Führern nicht um die Petra Kelly und Gert Bastian der Weimarer Republik gehandelt hat, sondern um Verfechter eines totalitären Umsturzes, die den an vorderster Front von Sozialdemokraten erkämpften demokratischen Verfassungsstaat durch eine Revolution beseitigen wollten. Anstatt dies alljährlich klarzustellen, ergehen sich bürgerliche Blätter in launig-neckischen Reportagen über „Gregor mit Oskar gemeinsam bei Tante Rosa und Onkel Karl“ (Welt am Sonntag), die FAZ schreibt im Plauderton über die „übliche Kirmesstimmung“, den „schönen Morjenspazierjang“ der 20.000 sozialistisch-kommunistischen Sympathisanten auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde, wo das Denkmal für die Kommunistenführer errichtet wurde. Wie ist es möglich, daß sich immer noch eine Ideologie als „human“ in unserer Gesellschaft präsentieren kann, die zwischen 1917 und 1989 in ihren Schlachthäusern über 100 Millionen Menschen vernichtet hat, die Rußland, halb Europa über Jahrzehnte in die Finsternis geführt hat, daß die Märtyrer dieses Exzesses heute noch für zivilisierte Menschen als verehrungswürdig gelten? Oskar Lafontaine, der einst als SPD-Chef die Uhr von August Bebel trug, heute mit Gregor Gysi Chef der Linkspartei-Fraktion im Bundestag, erklärte lächelnd auf dem Friedhof: „Ich habe Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg schon als Student bewundert. Der eine steht für den Widerstand gegen Kriege, die andere für soziale Gerechtigkeit und Freiheit.“ Was setzt die SPD diesem Mythos entgegen? Warum erinnert sie, die ihre Parteistiftung nach Reichspräsident Friedrich Ebert benannt hat, nicht daran, daß dessen Regierung ohne die von SPD-Reichswehrminister Gustav Noske betriebene blutige Niederschlagung des Spartakus-Aufstandes von Liebknecht und Luxemburg aus dem Weg geräumt worden wäre? Welche metapolitische Macht die Kommunisten europaweit geschichtspolitisch ausüben, kann man an der derzeitigen Debatte um einen von den Europäischen Volksparteien in den Europarat eingebrachten Vorschlag sehen (siehe Bericht Seite 7), der darauf abzielt, der Erinnerung an die kommunistischen Verbrechen einen zentralen Platz einzuräumen. Es ist kaum faßbar, mit welcher Wucht gegen diesen vernünftigen Vorschlag derzeit vorgegangen wird. Geschichtspolitik ist nicht rückwärtsgewandt. Mit Geschichtspolitik werden die politischen Gewichte verteilt. Während Bürgerliche und Sozialdemokraten schlafen, bestellen andere in aller Ruhe ihr Feld.

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