In Frankreich ist jüngst ein Buch des ehemaligen IWF- , Weltbank- und Nato-Mitarbeiters Yves-Marie Laulan erschienen, dessen drastischer Titel bereits von erheblicher Aussagekraft ist: „Allemagne – chronique d´une mort annoncée“ (Deutschland – Chronik eines angekündigten Todes). Der europäische Nachbar, so Laulans schmerzhafte Diagnose, liege mangels Nachwuchs bereits auf dem Totenbett. Diese Agonie betreffe Volkswirtschaft, Nation und Volk zugleich. Jedwede materielle Anreize zur Steigerung der Geburtenrate hält der Wirtschaftsexperte wenngleich für unverzichtbar, so doch für sekundär. In erster Hinsicht sei es die geistige Orientierung, an der es uns Deutschen mangele: Auschwitz als Fortpflanzungshindernis gewissermaßen. Die Scham über die forcierte Bevölkerungspolitik Hitlers mit Mutterkreuz und Sippenkult habe die Nachgeborenen veranlaßt, nun das Kind gleichsam mit dem Bade auszuschütten und in ein gegenteiliges Extrem zu verfallen. Die Umschreibung des hierzulande lange euphemistisch „demographischer Wandel“ genannten Geburtenrückgangs als „angekündigter Tod“ eines Volkes trifft den Nagel so recht auf den Kopf. Den Alarmruf vom drohenden Aussterben der Deutschen führen nun bereits seit einiger Zeit Politiker wie Meinungsmacher jeglicher Couleur im Munde. Die Zeitungsseiten und Rund-funkbeiträge füllende perspektivische Beleuchtung des Nachwuchsmangels – wonach entweder Geld, Betreuungs-möglichkeiten, ein kinderfreundliches Klima oder schlicht der geeignete „Partner“ fehlen – erscheint demnach als zeitlich arg verzögertes Echo jener ein-drücklichen Mahnungen und Berechnungen, die der Bielefelder Bevölke-rungswissenschaftler Herwig Birg schon seit Jahr und Tag an die Öffentlichkeit trägt. Wie beklemmend die Perspektive mittlerweile auch allenthalben empfunden wird, die Klagerede bleibt unerhört im Wortsinne. Selbst bei sukzessive ansteigender Lebenserwartung hinkt die Geburten- der Sterblichkeitsrate hinterher, und eine Wende ist nicht in Sicht. Birg durfte soeben in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen zahlen- und prognoseträchtigen „Grundkurs Demographie“ – man mag es zynisch ein Requiem nennen – in zehn Lektionen referieren. Diese raumgreifende 1A-Plazierung im Kulturteil ist hochverdient angesichts einer weitgehend akademischen Leserschaft, deren Existenz vor lauter Unterhaltungsgedöns, vor Theater-, Konzert- und Leinwandzirkus und dem beflissenen Reden darüber längst zu einer weitgehend virtuellen Vitalität verkommen ist. Wohin wird der Kulturträger als Individuum seine Kultur wohl tragen, wenn die Ränge bald weniger aus Mangel an Interesse denn an Masse leer bleiben? Unsere 40-Prozent-Quote kinderlos bleibender Hochschulabsolventinnen ist weltweit einzigartig. Es sei „dreißig Jahre nach Zwölf“ mahnte Frank Schirrmacher in seiner so eindrücklichen „Kurseinführung“, jener Schirrmacher ironischerweise, der mit seinem Verkaufsschlager „Der Methusalem-Komplex“ (JF 20/04) die alternde Gesellschaft als große Chance begriffen haben wollte. ……………………………. Mit 13 Geburten je 1.000 Einwohner jährlich belegt Frankreich europaweit den vierten Rang beim Bevölkerungswachstum. In den letzten fünf Jahren hat Frankreich damit 1,7
Millionen Einwohner hinzugewonnen. ……………………………. Eine großangelegte Diskussion zum Thema war bereits Anfang Januar dieses Jahres im Feuilleton der FAZ entfacht worden – unter überaus reger und kontroverser Beteiligung der Leser. „Wir Rabenmütter“ titelte als Debattenaufmacher eine gerade aus der Elternzeit zurückgekehrte Autorin, um so den altbekannten Sang von der mangelnden Vereinbarkeit von Familie und Beruf im allgemeinen, der angeblichen gesellschaftlichen Diskriminierung erwerbstätiger Mütter im besonderen anzustimmen: Mutterschaft als Muttchenfalle und Karrierehindernis gewissermaßen. Der Zufall wollte es, daß just wenige Tage später eine großangelegte Studie zweier Meinungsforschungsinstitute in Zusammenarbeit mit der Zeit-schriftengruppe Eltern an den Tag brachte, was feministische Ideologen samt der von ihnen sozialisierten, längst nur mehr die emanzipatorische Propaganda repetierenden Ziehschwestern und -töchter beharrlich zu erkennen verweigern: Weder Geldmangel noch eine befürchtete Karriereverhinderung lassen die Deutschen von (weiteren) Kindern absehen, statt dessen wurden Bindungs- wie Verantwortungsscheu und eine grassierende Kinderfeind-lichkeit als Hauptgründe genannt. Die Rede war gar von Parallelgesellschaften mit Eltern auf der einen, Kinderlosen auf der anderen Seite. Dessen ungeachtet – wenngleich diese neugewonnene Stimmungslage wenigstens auf der Leserbriefseite ihren Niederschlag fand – wurde die Debatte über ausbleibenden Kindersegen aus (weiblichen wie männlichen) Karrierewünschen weitergeführt. Einmal mehr durfte in einem Beitrag von Michaela Wiegel Frankreich als goldenes Beispiel für geglückte Familienpolitik herhalten. Die Zahlen dürften zunächst für sich sprechen: Die französische Geburtenrate liegt derzeit bei über 1,9 Kindern und damit beachtliche 0,6 Prozentpunkte höher als hierzulande. Wenngleich einige Trends den deutschen Zuständen ähneln oder sie übertreffen (steigendes Alter der Erstgebärenden, uneheliche Geburten überwiegen eheliche, zunehmende Scheidungsrate, ein Abbruch auf drei Geburten), kann der westliche Nachbar weniger kinderlos Gebliebene ausweisen und gleichzeitig mehr Familien mit mindestens zwei Kindern. Mit 13 Geburten je 1.000 Einwohner jährlich belegt Frankreich europaweit den vierten Rang beim Bevölkerungswachstum. In den letzten fünf Jahren hat Frankreich damit 1,7 Millionen Einwohner hinzugewonnen. Als Gründe werden zuvörderst die in der Tat familienfreundliche Steuerpolitik sowie die umfassende Kinderbetreuung ausgemacht: 99 Prozent aller Dreijährigen besuchen bereits eine ganztägige Vorschuleinrichtung. Diese Écoles Maternelles wurden seinerzeit aus der Not des frühindustriellen Zeitalters geboren: Als Mutterschaft noch Schicksal und doppelte Erwerbstätigkeit oft existentieller Zwang war, wurde eine Verwahranstalt für den Nachwuchs dankbar angenommen – heute stellt sich der Zusammenhang (angeblich) umgekehrt dar: Frauen entscheiden sich demnach bewußt für Kinder, um sie möglichst rasch und möglichst ausgedehnt staatlicher Aufsicht überantworten zu können – selbst, wenn sie nicht erwerbstätig sind. Das von Wiegel gezogene Resümee ist daher ein streitbares: Es sei hierzulande der soziale Druck, der Frauen eine Nur-Mutter-Rolle zuweise und sie daher gern ganz vom Kinderkriegen absehen lasse. Wo wie in Frankreich das Klischee der Hausfrauenehe obsolet geworden sei, könne frau entspannt beruflichen Aufstieg und Mutterfreuden genießen. Fragt sich zum einen, ob gesellschaftlicher Druck die Mutter nicht auch umgekehrt an Schreibtische und hinter Kassen zwingen könne und, überhaupt: Wer denkt vor lauter Frauenglück noch an das Interesse und Wohlergehen des Kindes? Auch eine auf breiter Datenbasis erstellte Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung kommt zu dem Schluß, daß ein direkter Zusammenhang zwischen staatlichen Leistungen sowie Betreu-ungsangeboten und Geburtenhäufigkeit in Frankreich nicht nachweisbar sei. Etwas schwammig, aber durchaus vereinbar mit Laulans These vom Post-Auschwitz-Trauma, nennt die Studie der Stiftung den größeren „Optimismus“ der Franzosen als Bezugsgröße. Nicht die in Deutschland beinahe Ritual gewordene Apotheose der selbstverwirklichten Karrierefrau, sondern ein vielgestaltiges (nationales, kulturelles, weibliches) Selbstbewußtsein dürfte zu einem neuen Mutwillen auch bezüglich der Fortpflanzungsmentalität führen. Gerne wird so pauschal wie diffus (oft womöglich unter dem entspannten Eindruck eines sonnigen Urlaubs) von einem ausgewiesen kinderfreundlichen Klima in Frankreich gesprochen, von Spielplätzen am Eiffelturm und dem Fehlen solcher vor dem Reichstag, davon, daß der Pariser Bürgermeister die einstige Prachtresidenz Chiracs symbolträchtig zu einer Kinderkrippe (FAZ-Titelzeile: „Paläste zu Krippen“) hat ausbauen lassen. Keine Rede davon, daß ein Kinderwagen durchschnittlicher Größe den Zugang zur Metro schier unmöglich macht, daß die deutschen Ausgaben zur Familienförderung die französischen deutlich übertreffen, auch nicht, daß deutsche Regionen mit lückenlosen Fremdbetreuungsmöglichkeiten – die es im Osten der Republik ja gibt – eben alles andere als französische Geburtenziffern garantieren. Und, nur nebenbei: Es existieren in Deutschland Orte, in denen nahezu französische Zustände herrschen: So kann das niedersächsische Cloppenburg mit sieben in seiner Umgebung liegenden Landkreisen eine Fruchtbarkeitsquote von über 1,9 Kindern pro Frau vorweisen. Die Cloppen-burger Durchschnittfrau ist katholisch, konservativ und nicht erwerbstätig. Den utopischen Fall gesetzt, ganz Deutschland würde sich ex hopp eine französische Gebärmentalität zu eigen machen, dürfte das nach Herwig Birgs Vorausschau mitnichten ein Aufatmen rechtfertigen: Selbst eine Reproduk-tionsquote – oh garstiges Wort! – von 2,0 Kindern würde dem Schrumpfen keinen Einhalt gebieten. Laulan, der französische Essayist, gab bereits vor Jahren ein weiteres zu bedenken, damals mit Blick auf das eigene Land: Bereits 2030, so errechnete er, dürften 24 Prozent der französischen Bevölkerung aus Einwanderern bestehen, die wiederum 42 Prozent der Geburten bestreiten dürften. Dabei liegt die Immigrationsquote bei unserem westlichen Nachbarn unter der deutschen sowie überhaupt weit unterhalb des europäischen Durchschnitts. ……………………………. Cloppenburg mit sieben in seiner Umgebung liegenden Landkreisen hat eine Fruchtbarkeitsquote von 1,9 Kindern pro Frau. Die Cloppenburger Durchschnittsfrau ist katholisch, konservativ und nicht erwerbstätig. ……………………………. Die relative Einhelligkeit, mit der zur Zeit trotz verschiedener Lösungsansätze an einer Lösung der demographischen Frage gebastelt wird, erstaunt. Gehört es nicht gleichsam zum guten Ton der Meinungsmacherindustrie, unbesehen von Notwendigkeit und Faktizität dem ausschlagenden Pendel der Stimmungslage Einhalt zu gebieten? Natürlich stehen die Bekenner bewußt gewählter Kinderlosigkeit, ultraindividualisti-schen Überzeugungssingles und techno-kratischen Voluntaristen längst Gewehr bei Fuß, um – sichtlich angewidert vor allseitiger Mutterschaftspropaganda – mit hochgezogener Augenbraue ihr kühles „jetzt mal halblang“ zu näseln. Vielzitiert ist in dieser Hinsicht der Internetaufsatz des Bielefelder Kollegen Herwig Birgs, Professor Peter Kraft, der die „Mär vom Geburtenrückgang“ als Mythos entlarven möchte. Auch im Rahmen der FAZ-Debatte durfte dann das allseits beflissene Wun-derhirn Dietmar Dath in Stellung gehen, jener junge Vielschreiber, dessen eloquente Feder innere Zusammenhänge sowohl der Popkultur als auch der Quantenphysik zu durchdringen versteht: Unter dem Schwund an Nachwuchs leiden nach Dath in bester Stamokap-Tradition vor allem Wohneigentümer (sinkende Mieteinnahmen!), Fabrikbesitzer (steigende Löhne!) und Männer generell (weil gebärun- lustige Frauen als Konkurrenz auf den Arbeitsmarkt drängen). Der Autor nun sieht „Reproduk-tionsverpflichtungen“ und „Blutsrecht“ am ideellen Horizont dräuen und sich zu einer – für Dath lachhaften – Vorstellung zusammenballen, „es werde bei anhaltend liberalem Klima bald noch weniger kleine Deutsche geben, und man müsse schleunigst gesetzliche Fort-pflanzungsanreize schaffen“: eine Vision, die unserer „Zivilisationsstufe“ nicht gemäß sei. Kinder kriegen die Leute weiterhin von selbst, bringt Dath kaltlächelnd den vielzitierten Ausspruch Adenauers an und wendet die Sorge über die Gebärverweigerung ins Lächerliche. Gesetzliche „Fortpflanzungsanreize“ widersprächen der Hochachtung vor individueller Subjektivität und seien logische wie moralische Fehlgriffe: „Man verbietet ja auch nicht das Wohnen in München deshalb, weil die Stadt zusammenbräche, wenn das alle täten.“ Zur gleichen Zeit durfte die Germanistin Ruth Klüger, jene Auschwitzüberlebende, die jüngst ihre angekündigte Rede in Dresden mit Blick auf die „braune Flut“ absagte, im Rahmen der FAZ-Rubrik „Frankfurter Anthologie“ ein vielsagendes Gedicht Erich Kästners (Patriotisches Bettgespräch: „Jawohl, wir sollen Kinder fabrizieren. Fürs Militär. Und für die Industrie. Zum Löhnesenken…“) interpretieren, „geschrieben Jahre, bevor die Nazis das Mutterkreuz erfanden. Offensichtlich hielt Kästner die Entscheidung übers Kinderkriegen für Privatsache“ verweist Klüger vieldeutig und fragt angesichts der in ihren Augen leidigen neuen Debatte über „Schwangerschaftsverhinderung und Abtreibung“: „Hat der Staat das Recht darauf, seinen Bürgern und besonders seinen Bürgerinnen die Pflicht aufzuerlegen, Kinder zu produzieren? Wenn die Gesellschaft meint, mehr Nachwuchs zu brauchen, als die Familien, aus der sie besteht, brauchen zu können, darf sie dann moralischen Druck ausüben?“ Sie darf und sie muß, wenn sie überleben will, überleben als Nation vor allem, und nicht nur als Steuersystem, Rentensicherungsgarant und materieller Fürsorgepakt. Allein, und das gilt für die gesamte Debatte: Durch Reden und Schreiben allein wurden noch keine Kinder gezeugt. Ellen Kositza , 31, ist Mutter von fünf Kindern. Ein Beispiel vorbildlicher Familienpolitik – die Einführung des Kindergeldes vor fünfzig Jahren – hat die Autorin jüngst in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Sezession“ (Rittergut Schnellroda, 06268 Albersroda) beschrieben.