Wenn man bedenkt, daß die Union gerade noch dabei war, sich als moderne Großstadtpartei zu definieren, dann ist der Wandel der letzten Wochen bemerkenswert. Keine Hoffnung mehr, die Klientel der Grünen zu sich herüberzuziehen, ohne den bürgerlichen Anhang zu verlieren, und damit "Kopf- und Bauchwähler zu einer möglichst großen Schnittwelle zu bringen" (CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer).
Edmund Stoibers Ankündigung, den EU-Beitritt der Türkei "mit allen Mitteln" zu verhindern, und Angela Merkels Patriotismusdebatte und Bekenntnis zu christlichen Werten signalisieren eine andere Ausrichtung. Ist damit das "Reformprojekt für eine lebendige Volkspartei", das die Union vor zwei Jahren einleitete, zu einem überraschenden Ergebnis gekommen?
Jedenfalls scheint sich die Idee einer Neupositionierung im oben beschriebenen Sinn erledigt haben. Das Gedankenspiel, den "liberalen ‚Lebensgefühlen‘ und Verhaltenswirklichkeiten" (Paul Nolte) nachzukommen und die Milieus, in denen die Partei traditionell verankert war, ihrem Schicksal zu überlassen, hat viel von seinem Charme verloren. Statt dessen sieht man sich konfrontiert mit den Folgen ideologischer Auszehrung. Der Abbau zentraler weltanschaulicher Elemente, den viele Funktionäre von CDU und CSU gerade noch als Entlastung gewertet hatten, zeigt nun seine problematischen Folgen und erschwert die angemessene Reaktion auf neue Herausforderungen:
– den Erfolg der NPD in Sachsen, dessen Wiederholung auf Bundesebene nicht ganz ausgeschlossen ist und der jedenfalls deutlich macht, daß sich irgend etwas am rechten Rand und außerhalb der Kontrolle von CDU und CSU tun kann;
– den Wandel in der gesellschaftlichen Atmosphäre: weg von der Vergangenheitsfixierung, hin zu einer neuen Normalität;
– die Unruhe über die Realität einer Vielvölkerrepublik, insbesondere im Hinblick auf die Parallelgesellschaften muslimischer Prägung;
– die Erkenntnis, daß Schröder das Thema Patriotismus mit Geschick besetzt, um seine Innen- und Wirtschaftspolitik emotional einzubetten.
Bis in die Ära Kohl hat die Führung der CDU verstanden, dem instinktiven Konservatismus der Basis und der Stammwähler Rechnung zu tragen, ohne sich davon in ihrem praktischen Tun allzusehr beeinflussen zu lassen. Man nutzte einige Floskeln als Sedativa und hatte Erfolg. Allerdings begann die Distanz zwischen den Anschauungen von Anhängern, Mitgliedern und Funktionären immer größer zu werden.
Der Verfasser erinnert sich noch, wie er vor gut zehn Jahren von der Konrad-Adenauer-Stiftung um einen Beitrag zur Bedeutung des Nationalstaats für die Zeitschrift Eichholz-Brief gebeten wurde. Außerdem sprach man ihn wegen eines Vortrags zu diesem Thema an. Kurz nach Erscheinen des Aufsatzes kam dann aber ein Anruf des zuständigen Referenten. In langen Telefonaten versuchte er zu erreichen, daß bei dem Vortrag die zentrale These von der Notwendigkeit des Nationalstaats nicht noch einmal wiederholt werde.
Schließlich half nur die Drohung einer Absage. Die Veranstaltung fand letztlich ohne Änderung statt. Teilnehmer waren vor allem Mandatsträger der Union aus Kreisen, Städten und Gemeinden. Während der Tagungsleiter mit bitterer Miene dasaß, reagierte das Auditorium auf den Vortrag durchweg mit Zustimmung. Niemand bezweifelt den Sinn des Nationalstaats, niemand, daß die deutsche Identität durch die Zuwanderung ebenso wie durch die Nationsvergessenheit seiner Politischen Klasse bedroht sei.
Diskrepanz zwischen Mitgliedern und Führung
Das Auseinanderklaffen der weltanschaulichen Vorgaben von Basis und Führung kann bei fast jeder Partei beobachtet werden, auch daß deren Eliten regelmäßig zu "linkeren" Positionen neigen als die einfachen Mitglieder. Allerdings dürfte die Diskrepanz in keinem Fall so groß sein wie in CDU und CSU. Seit langem wird die Parteileitung von der Angst getrieben, die nächste intellektuelle Mode zu verpassen, und gleicht die Programmatik immer wieder dem Zeitgeist an. So gelang es auch, nach 1989 den "Rechtsruck" zu verhindern, der eigentlich in der Logik der Entwicklung gelegen hätte. Die Partei rückte immer weiter in die "Neue Mitte" und wurde von deren Vorgaben schließlich ununterscheidbar.
Wenn jetzt versucht wird, diese Wahrnehmung zu korrigieren, geschieht das unter dem Zwang der Umstände. Diesen Eindruck vermittelt auch eine Studie der Adenauer-Stiftung zur Bedeutung des Patriotismus. Der von Günter Buchstab und Jörg-Dieter Gauger unter der Überschrift "Was die Gesellschaft zusammenhält" verfaßte Text ist zwar im Theoretischen dürftig, enthält aber eine Rezeptur für den Patriotismus als hölzernes Eisen: niemanden ausgrenzend, "aufgeklärt", mit den westlichen Werten kompatibel und geeignet als notwendiger "Kitt" für das große Ganze.
Der Begriff Nation erscheint hier bestenfalls als "Formel für gesellschaftliche Einheitssymbolisierung" und darf politisch keine Relevanz beanspruchen, es sei denn, er läßt sich im Sinn eines möglichst unklaren Konzepts von "Kulturnation" verstehen. Die nationale Identität ist nur eine unter anderen, der Normalbürger bezieht sein Selbstverständnis eher auf die Familie, die Mitgliedschaft in einem Verein oder den Beruf; der Nationalstaat gilt als von der Geschichte widerlegtes Modell, das durch das vereinte Europa ganz verschwinden wird. Unumgänglich ist der Hinweis auf Sternbergers "Verfassungspatriotismus" und auf die Erfolgsgeschichte der Deutschen nach 1945.
Zwar wird dem Kanzler von Buchstab und Gauger vorgeworfen, den Begriff des Patriotismus zu instrumentalisieren, aber auch ihnen geht es letztlich darum, "natürliche Emotionen" zu nutzen und der Politischen Klasse jenen "integrierenden Auftrag" zu erteilen, der ohne Rekurs auf die Nation nicht zu erfüllen sei. Darum ist diese Abgrenzung nach links weniger interessant als die nach rechts, denn die "positiven Geschichtsbilder", die man so gern beschworen sehen will, dürfen in gar keinem Fall das Schreckbild der Vergangenheit – die "Singularität des Holocausts" – undeutlich werden lassen. Wer diese Absicht verfolge – nach Auffassung von Buchstab und Gauger taten das der Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann und der Politikwissenschaftler Konrad Löw "im Extrem" -, der bereite nicht nur einem neuen Antisemitismus den Weg, sondern hänge auch einer überholten Vorstellung vom Vaterland an.
Wahrscheinlich wurden Buchstab und Gauger nicht gefragt, bevor die CDU-Führung auf dem Bundesparteitag Anfang Dezember in Düsseldorf die "Schicksalsgemeinschaft" (Angela Merkel) der Deutschen beschwor, die Legitimität der "Nationalkultur" (Jürgen Rüttgers) und sowieso das Ende des Multikulturalismus. Aber das muß kein Indiz für Lagerbildung in der Union sein. Wahrscheinlich erfaßt Merkel nur besser die Zeichen der Zeit und das Tempo des Stimmungswandels. Dann hat sie mit ihrem Kurswechsel nicht bloß den Konservatismus der Basis bedient und die Zustimmung derer gewonnen, die aus ihrem Herzen eine Mördergrube machten, sondern auch den Ausgangspunkt für eine weitergehende Amerikanisierung der Partei gewonnen, die Transformation der CDU zum Abbild der Republikaner. Manches spricht jedenfalls dafür, daß ein großformatiger, lackierter Patriotismus nach US-Muster attraktiv werden könnte; auf dem Parteitag sah man schon viele mit der Hand auf dem Herzen die Nationalhymne singen.
Allerdings bleibt offen, ob das alles genügt, um Mehrheiten zu gewinnen. Darauf setzt nicht nur Merkel, sondern auch die Gruppe der Spitzenfunktionäre, die sie unterstützt; der Vorsitzende der Jungen Union, Philipp Mißfelder, etwa, hat ganz offen erklärt, daß die Patriotismusdebatte nützlich sei, weil ein Reformprogramm als solches keinen Wahlerfolg verbürge. Man achtet die Gefahr gering, daß der Bürger die Absicht durchschaut und entsprechend quittiert. Es geht darum, den Zugang zu einer bestimmten, als wirkungsvoll betrachteten Sozialtechnologie zu gewinnen und zu monopolisieren. Die Sache selbst ist ohne Belang.
Karl Feldmeyer hat in einem FAZKommentar zum Parteitag darauf hingewiesen, daß die Union kaum fähig sei, das Thema zu nutzen, um die "geistige, konzeptionelle Führung in der Politik zurückzugewinnen, die ihr schon im Vorfeld der 68er Revolte verlorengegangen ist".
Die Hauptursache dafür liegt in der Ignoranz von CDU und CSU gegenüber der Bedeutung von "geistiger, konzeptioneller Führung" überhaupt. Seit dem Ende der Ära Adenauer hat man nichts anderes getan, als die Modelle der Linken mit einer gewissen Verzögerung und in gemäßigter Form zu übernehmen. Eigene Traditionen hat man Stück für Stück aufgelöst, jetzt bemerkt man die Gefahr der Leere und versucht sie hastig zu füllen.
Merkels Parteitagsrede ist dafür ein gutes Beispiel: "Ich will, daß deutsche Interessen wieder beachtet und geachtet werden. Ich bin es satt, überall zu lesen, daß wir der kranke Mann in Europa sind. … In der DDR durfte ich nicht von Deutschland reden. Ich sollte DDR-Bürgerin sein, nicht Deutsche. … Meine ganz persönliche Erfahrung heißt deshalb: Sich zu Deutschland bekennen zu dürfen und Veränderungen zum Guten – das sind zwei Seiten ein und derselben Medaille."
Anders als Heimatliebe muß man Patriotismus erlernen
Die CDU-Vorsitzende baut auf Selbstverständlichkeiten und eine flotte Rhetorik, auf die Empfindungen des gemeinen Mannes und einen Rest von gesamtdeutscher Begeisterung aus Wendezeiten, vor allem aber darauf, daß Konsens besteht, den Patriotismus als Aspekt der Gesellschaftspolitik zu betrachten. Dabei sind "Gesellschaft" und "Vaterland" zwei unterschiedliche Leitbegriffe. Sie haben seit dem 18. Jahrhundert wachsenden Einfluß auf die politische und philosophische Debatte genommen, gehören aber in einen je anderen Kontext. Die Gesellschaft ist ein "kaltes Projekt" (Ralf Dahrendorf).
Nach einer sprechenden Fiktion kommt sie durch Vertrag zwischen Einzelnen zustande, die um ihres wohlverstandenen Eigeninteresses willen einer Gesellschaft beitreten. Eine Gesellschaft ist demgemäß etwas, das Vorteile zu bringen hat, jedenfalls keine Nachteile im Übermaß. Sie kann Vertragstreue erwarten, aber keine Gefühle. Patriotismus aber ist ein Gefühl. Ein Gefühl, das übrigens nicht, wie Buchstab und Gauger meinen, zu den "natürlichen" gehört, vergleichbar der Heimatliebe. Denn Liebe zum Vaterland heißt Liebe zur Idee der patria.
Patriotismus ist deshalb kein Ergebnis von Propaganda, sondern von Erziehung. Nationalerziehung soll, wie Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) einmal bemerkte, die Liebe zum Vaterland "in den Herzen" verankern. Sie muß deshalb eine ihr gemäße Sprache sprechen und eine Atmosphäre schaffen, die ihr förderlich ist. Das setzt ein hohes Maß an Klugheit und Geschick voraus, Tugenden, die man der heutigen Unionsführung nicht recht zutraut.
Ein Konservatismus, der heute kaum vorstellbar ist
Im Oktober gedachte die CDU des fünfzigsten Todestags von Hermann Ehlers, der zu ihren Mitbegründern gehörte und das Amt des Bundestagspräsidenten bekleidete. Ehlers Vorstellungswelt war von der Jugendbewegung, einem lutherisch und preußisch gefärbten Konservatismus geprägt, ein Typus, der in der Union heute kaum noch vorstellbar ist.
In einer Ansprache vor Studenten sagte er 1953 über die fortdauernde Bedeutung des Reichsgedankens: "Ich werde nicht müde, immer wieder zu betonen, daß wir uns bestimmte Vorstellungen unseres völkischen Seins und unserer Geschichte nicht dadurch rauben lassen dürfen, daß Hitler sie mißbraucht hat und die kleinen Hitlers von heute sie schon wieder mißbrauchen möchten. Wir sind gerufen, uns auch des Begriffes ‚Reich‘ anzunehmen …".
Man kann davon absehen, daß heute kein Politiker ungestraft von "völkischem Sein" und vom "Reich" sprechen dürfte, wenn man beachtet, was sich hinter diesen Formulierungen verbirgt: das Recht auf die überlieferte Deutung der Nationalgeschichte und die Berufung der Deutschen als Deutsche zu einer über Deutschland hinausgehenden Aufgabe.
Ehlers‘ Patriotismus besaß jene Tiefendimension, die der Vaterlandsliebe notwendig zugehört und die man in der Gegenwart vergeblich sucht. Das ist nicht nostalgisch gemeint, sondern soll klarmachen, daß es zu dem, was uns angedient wird, Alternativen gäbe. Und es ist gesagt, um eine Auffassung zur Geltung zu bringen, die Anspruch hat, gehört zu werden, jedenfalls in einer Partei, die sich wieder gelassener als konservativ bezeichnen läßt.
Die Studie von Günter Buchstab und Jörg Dieter Gauger "Was die Gesellschaft zusammenhält" ist in der Reihe "Zukunfstforum Politik" der Konrad-Adenauer-Stiftung erschienen und kann im Internet unter www.cdu.de/archiv/2370_5813.htm als PDF-Datei heruntergeladen werden.
Foto: Quadriga auf dem Brandenburger Tor in Berlin: Die Unionsparteien ignorieren die Bedeutung von geistig-konzeptioneller Führung, die ihr schon vor 1968 verlorengegangen ist